Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Arosa (Graubünden), an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]
16.08.1906, Arosa (Graubünden)
Viellieber u. vielguter Herr Vetter!
Diesmal ging es so lange,
bis wieder ein Grüsschen von Arosa kam, nicht wahr,
lieber Herr Vetter? Ach so viele Abhaltungen kamen
mir dazwischen. Wie oft, oft u. treulich hatte ich
dafür meine Gedanken zu Ihnen hinüber gerichtet.
Ist es aber nicht eine Zumuthung für Sie diese entzetliche
krumme u. bucklige Schrift vom Liegestuhl lesen zu
sollen? – Verzeihen u. Geduld haben, lieber Herr Vetter, –
da liege ich halt immer noch auf dem Krankenstuhl in
Arosa u. tue in dieser Lage herb mit dem Schreiben.
Möge es Ihnen inzwischen doch recht, recht gut er-
gangen sein, der Sommer für Sie ein befriedigender gewesen
sein. – Eine Karte habe ich unterdessen (mit einem
Stückchen Aroser-Panorama) an Sie abgeschickt. Doch
so recht inniglich danken für Ihren letzten wieder so lieben,
lieben [2] Brief kann ich erst heute. Diese Ihre Briefe sind
für mich ein Stückchen Lebensfreude, Gott lohn’s Ihnen!
Könnten, könnten [3] wir Sie doch nur persönlich statt nur
brieflich unter uns haben! Was für ein Gefühl müsste
das sein! So sehr, sehr glücklich froh u. zufrieden in allen
Lebenslagen muss man in Ihrer Nähe sein.
In tiefer Bewegung las ich in Ihrem Briefe welche Verstossung
Ihr armes, Mutterloses Kinderherzlein fühlen musste. Weinen
hätte ich können, wie Sie erzählen, dass man Sie aus dem [4]
Bettchen geholt, ein Sträusschen in’s Händchen gedrückt,
um es auf – Ihre tote Mutter [Anna Maria [Rheinberger [-Schneider]] mit Weihwasser zu spritzen.
Armes, armes Kinderherz! Statt dass die unbarmherzigen
Menschen das verlassene Waislein liebend an sich gedrückt
u. es aufgenommen hätten bis es ihre Liebe u. Hilfe ent-
behren konnte, – zeigten sie ihm – den Stecken. Wie schmerz-
lich bewegt mich das heute noch u. wie mag Ihr
Inneres später oft aufgeschluchzt haben, als Sie mit
späterem, noch empfindlicherem Erkennen Ihr Mütterlein
missten. Waren Sie immer, immer böse gegen Sie diese
bösen Menschen? – Aber wie hat sich dann auch später
Ihr Mütterlein im Himmel sichtlich um Sie angenommen,
nicht wahr, gesegnet 100fach all Ihr Dulden u.
Verstossensein im Kreise des reinsten Glückes, im
Kreise der herrlichsten Gattin [Margarethe Rheinberger [-Brasser]], der edelsten Kinder. Durften
Sie nicht schaffen u. wirken dann für Gott wie selten
ein Menschenkind? u. welch beglückenden Lohn
wird der Herr erst diesem seinem in Freud u. Leid
gleich treuen Kinde erst noch im andern Leben bereit
halten! – Freuen, freuen [5] Sie sich des Erduldeten, –
Glück wie Sonnengold birgt es. –
Hatten Sie inzwischen gewiss den einen, oder andern
lb. Besuch von einem lb. Sohn oder einer Tochter?
Sind sie alle, alle doch gesund? Sagen Sie ihnen
allen doch treulichen Gruss aus der Heimat ihrer geliebten
Mutter, aus den herrlichen Bergen Graubündens.
Ach und wie geht es doch den Armen in St. Franzis-
ko? [6] – Dieser grausame Todesschreck der Ärmsten! [7]
Ist die Frau Good [Carolina Good [-Marxer]] mit ihren Söhnen auch sonst ge-
schädigt worden? so dass sie sehr darunter zu leiden
haben? – Berichten Sie der geprüften Frau doch die auf-
richtigste Teilnahme der Verwandten in Liechtenstein u.
wir hofften von ganzem Herzen, dass sie doch nicht all
zu empfindlich getroffen worden sei. – Ist das aber
aber von den Bewohnern St. Franzisko’s nicht furcht-
bar gewagt, die Stadt sofort u. so grossartig wieder
aufzubauen? – Bleibt Frau Good mit ihren Söhnen
jedenfalls in St. Franzisko? – Ich freue mich so, dass
es ihr sonst in Californien so orndlich ergangen war,
früher mag sie wohl etwas zu kämpfen gehabt
haben. –
Wenn ich den Sommer durch an Sie dachte, lieber Herr Vetter,
stellte ich Sie mir meist in Ihren Weinbergen vor, gar
emsig u. liebevoll darin waltend u. nachsehend.
Wie war das Jahr für Ihre Reben? Tratt die Fäul-
niss, Staubkrankheit u. Peranospra [Peronospora] [8] auch dieses
Jahr wieder auf? – Egon [Rheinberger], unser Bruder versuchte
dieses Jahr bei der Kupfervitriolspritzung, der Lö-
sung noch etwas Schwefel beizufügen. Sehr erfreu-
licher Weise soll in Vaduz dies Jahr die Peranospra
ziemlich ausgeblieben sein. – Möge bei Ihnen in
Nauvoo die Ernte doch eine recht, recht gute, reiche
werden. – Sie haben viel, viel Mühe u. Arbeit da-
mit, nicht wahr, dafür aber dürfen Sie sich auch
doppelt des Segens Ihres Fleisses freuen. – Taten Sie
diesen Sommer wieder so herb mit den Arbeitskräften?
Eben entsann ich mich, wie Frau Good in ihrem Schrei-
ben an Sie um ein Weinklärmittel für Ihren Sohn [9]
bat, lieber Herr Vetter, dürfte ich nicht auch darum
bitten? Ich glaube meine Lieben daheim würde ei-
nen diesbezügl. gütigen Rat erfreuen, wenn ich Sie
nicht zu unbescheiden bemühe damit? – Den Rotwein
verkaufen wir ja zwar fast allen im Herbst, den Weiss-
wein dagegen müssen wir meist bis zum Frühling
kellern, wobei eine kleine Trübung (oder auch dunkler
werden) gerne vorkommt. – Würden Sie mir den Gefallen
erweisen, liebes Vetterchen? –
Unser Frühling u. Sommer war durchschnittlich
nass, kalt, nicht gut. Von Februar bis Juli hatten
wir spärlich wenig Sonne. Und bei Ihnen? –
Ach, lieber Herr Vetter, heute möchte ich Ihnen gar
bitterlich klagen. Wissen Sie was den Sommer durch
über mich beschlossen wurde? – Nachdem ich [10] mich
pompenfest gefreut hatte zur Heimkehr bis zum
August, mein Bündelchen in Gedanken schon
plaisirlich geschnürrt war, hiess es, kurz und
bündig: Die Emma müsse noch einen [11] Winter
in Arosa bleiben, die Lunge erlaube noch keine
Wiederkehr in die Heimat, erst im Frühling
1907 könne dies erfolgen. Ganz erschüttert
war ich zuerst über diese Entdeckung. Vielleicht
war ich so krank wie ich nie geahnt, oder es sind
die hiesigen Lungenspezialisten übertrieben vor-
sichtig, es ist ja etwas ganz Selbstverständliches,
dass Kurgäste hier oft Jahreweis bleiben müssen,
unter ¼ Jahr aber kommt überhaupt keiner hinunter.
Nun nehmen wir’s halt, wie Gott es schickt u.
haben will, nicht wahr, lieber Herr Vetter. Der Arzt [12]
versichert mich von einer Untersuchung zur andern, schöner
Fortschritte, ich würde wieder ganz gesund, wenn ich die
Geduld nicht verliere. Ach – u. ich hatte gemeint, ich
wäre es im August schon. – Einen zweiten Winter in
Schnee u. Kälte draussen! Es ist sonst nicht meine Art
zu klagen, die Leute hier, oft stöhnend u. seufzend u.
heim verlangend, sehen mich schon verwundert an, wa-
rum denn ich [13] nicht klage, doch zu Ihnen, lb. H. Vetter möchte
ich einmal weinen dürfen, denn Sie sind mir lieb wie
ein zweites Väterchen. – Schimpfen Sie mich dessen nicht,
wenn man sein Weh, all das unterdrückte einmal, nur
einmal in eine Seele ausgiessen dürfte, die einen ganz
verstünde, müsste das kämpfende, heimlich schluchzende
[14] Innere stärker, mutiger wieder werden.
Ich werde geimpft mit dem Tuberkulin immer zu, ziem-
lich über 100 Stiche schon empfing ich, kaum ein unge-
stochen Plätzchen mehr lässt mein Rücken übrig u. der
Doctor will mich auch den nächsten Winter noch impfen.
Er hat so sehr viel auf dem Tuberkulin u. glaubt
es werde nach u. nach noch zum ganzen Heilfactor.
Am 8. August war es nun 1 Jahr, dass ich nach Arosa
gekommen. Ich hielt dann den Jahresabschluss. Raten
Sie, was brachte ich für eine Summer heraus?
Pension, Arzt u. Apotheke: gegen 3200 [15] frs. Es stimmte
mich dies begreiflich wehmütig, doch, was Gott fügt,
muss uns nicht missstimmen, nicht wahr, mit ergebenem
Herz u. Sinn müssen wir den Tag beginnen u. vollenden. [16]
Inzwischen sandte uns der lb. Gott ja auch wieder
eine unendliche Freude, wol eine der grössten unsrers
Lebens. – Unsre lb. Tante (Vaters Schwester) Schwester
Maxentia [Rheinberger] im Orden der „Barmherzigen Schwester“ wurde neu-
lich General-Oberin vom ganzen Orden, von vielen 100
Schwestern u. von vielen Klöstern. – Ach ist dies eine so doppelte
Freude für uns, weil unsre arme kranke Schwester Hermi-
ne [Rheinberger], welche ja in einem dieser Klöster verpflegt wird, dadurch
gewiss doppelt guter, liebevoller Verpflegung geniesst.
Für Tante Maxentia, welche uns nach dem Tod unsrer
Eltern wirklich wie ein zweites Mütterlein gewor-
den, ist die hohe neue Würde eine neue schwere [17],
schwere Bürde geworden, besonders in ihrem schönen Alter
– dass den 80 naht. – Freilich so viel kann sie uns
in ihren vielen, neuen Anforderungen nicht mehr
sein, sie kann nicht mehr so viel schreiben, das werde
ich besonders hier gar sehr entbehren. – Unser Gross-
vater [Johann Peter Rheinberger] hatte Kinder, welche zu höchsten Ehren u. An-
sehen gerieten, mit aussergewöhnlichen Talenten, lei-
der konnte er dies alles nur zum Teil erleben mehr. Er
selbst war ein Mann hohen Geistes u. dabei eines Sinnes
Gemütes u. Herzens von ganz rührend, frommen kindlich
gläubigem Gotterfülltsein. Er hatte sich nicht genirt
mit seinem Rosenkränzchen in den auf dem Rücken
verschlungenen Händen (wie ich mir ihn wol noch
am besten vorstelle) zu spazieren. – Eines seiner Kin-
der, Onkel Josef [Josef Gabriel Rheinberger], wurde jüngst neuerdings vermöge
seiner ausserordentlichen Verdienste zu Ehren gezogen.
Ich schickte Ihnen darüber extra eine Zeitung. [18]
Ihre lb. Tochter Anna dürfte diese besonders interessieren,
wenn Sie sie ihr vielleicht übermitteln wollen. Der
„Peter“ darin ist mein Vater [Peter Rheinberger], der Rentmeister mein
Grossvater, das Maly seine Tochter [Christina Amalia Rheinberger], der Tony ebenfalls
ein Sohn [Jakob Anton Rheinberger]. –
In Arosa hatte der liebe Gott, der so unendlich grossmütig
hier, trotz seiner bittern Armut hier, den Tabernakel auf-
geschlagen, nicht gut wohnen. – Die Aroser wollten ihm,
seinem Priester auch das Nötigste entziehen. – Sie
sagten, lieber Herr Vetter, in Ihrem lb. Briefe, Sie begriffen
es nicht, wie nicht etwa reiche katholische, od. prote-
stantische Kurgäste willig der Armut unsrers Gottes
hier vorbeugten. – Ja das begreife ich auch nicht, –
die Leute haben eben oft für Alles Geld, für den grössten
Luxus oft, wenn man sie aber einmal um ein Schärflein
für unsern Herrn u. Schöpfer bittet, dann sagen sie, sie hätten
kein Geld. – Herr Pfarrer hatte mir aufgetragen,
die Kurgäste vom Waldrand [19] auf die Notwendigkeit
eines Almosens aufmerksam zu machen, sie um einen
Beitrag zu bitten. – Aber was erziele ich dabei? Neu-
lich auf meine Bitte hin, gab mir eine Dame – 50 Ct. [20]
das sind 23 ½ Kreuzer. Als ich ihr dankend sagte, der
lb. Gott werde es ihr segnen, [21] antwortete sie noch:
hoffentlich [22]! – Sollte man da lachen, od. weinen
darüber? Eine reiche Familie gab mir 2 frs [23]. – Herr
Pfarrer gaben sie von seinem armseligen Gehältlein
600 frs. Das Übrige solle er zusammen betteln, hiess es, das
Essen schenkten ihm scheints gute Leute. So ist es
denn so weit gekommen, dass Herr Pfarrer seiner Stelle ent-
sagte, ganz mutlos geworden nach förmlichen Verfol-
gungen. – Möge uns der lb. Gott nun doch nicht ver-
lassen, bisher hatten wir einen Priester von Chur herauf, [24]
ob dieser aber bleiben wird? Es tut mir so furchtbar
leid um die hl. Messe an Wochentagen, welche wir nächstens
entbehren werden, der Geistl. Herr geht scheints am Sonntag
wieder nach Chur. – Es ist eine schwere, schwere Mission
in Arosa, schwerer als unter den Wilden der Südafrikanisch.
Troppen. – Bis ich eine so schöne, mich immer noch in
tiefster Seele freuende Summe zusammen gebracht, wie
Sie [25] dem armen Heiland in Arosa geschenkt, müsste ich
wahrscheinliche Jahre [26] lang betteln in Arosa, 4.50 frs. [27] habe
ich von den Kurgästen zusammen gebracht! Der Kirchen-
bau ist angefangen u. macht schöne Fortschritte,
Gott wird Mittel u. Wege finden, ihn zu vollenden. [28]
Die Bertha [Schauer] wird indessen auch wieder einmal geschrie-
ben haben. – Ach, es ist mir so sehr, sehr leid, dass die
gute Bertha u. ihre Schwestern diesen Sommer so wenig
Gäste haben, es ist dies ihr einzig Verdienstchen,
auf das sie so sehr angewiesen sind. – Im August
erst kommen die Gäste meist [29] u. im Oktober gehen
sie schon wieder. –
Bevor ich wieder von Ihnen gehe heute, lb. H. V., bin ich so
frei, Sie noch an etwas zu erinnern, – ja u. beileibe
nicht vergessen, vielgutester Vetter, dass Sie mir auf diesen
Sommer Ihr Bildchen versprochen hatten, – ach bitte, bitte, –
wann [30] darf ich es denn bekommen? Wenn es auch noch so klein
ist, machen Sie uns Allen diese Freude. – Sie werden sehen,
ich bin nicht undankbar, wir werden Sie lieb haben auf diesem
Bildchen, so lange wir leben. –
Und gel ja, lieber Herr Vetter, wenn es möglich ist recht, recht
bald wieder schreiben, wieder so lieb u. wieder so viel,
ach wenn Sie meine Wonne sähen beim Anblick Ihrer Cou-
verts schon, welche die Post bringt. – Wenn ich jetzt auch
leider wieder von Ihnen gehen muss, lassen Sie mich doch
hie u. da im Geiste bei Ihnen sein, u. schenken Sie mir herzlich bitte ich,
1 Ave-Maria für den nächsten Winter. – Dankbar u. anhänglich
Ihr Bäschen Emma.