Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]
5.5.1945
Flüchtlingselend
Nachdem seit der letzten Woche die alliierten Truppen näher gegen Vorarlberg heranrückten, setzte schon vor 10 Tagen auch der Flüchtlingsstrom über unsere Grenze in Schaanwald ein. [2] Da hiermit schon länger zu rechnen war, waren alle nötigen Massnahmen für Kontrolle und Übernahme der Flüchtlinge getroffen worden, so vor allem Verstärkung der Grenzwachtposten. [3] Auch unsere Hipo steht dort in ständigem Dienst. Es ist dies für alle ein anstrengender Dienst, besonders aber für jene schweizerischen Beamten, die die Flüchtlingskontrolle den ganzen Tag hindurch durchzuführen haben. Man sieht, sie sind nicht nur da, um zu kommandieren, nein, auch zu helfen im wahren Sinne des Wortes. Hier wird dies oder jenes gefragt, dort in einem unverständlichen Kauderwelsch eine Auskunft verlangt, und überall versuchen die Beamten, auf all diese vielen tausend Fragen und Wünsche bestmöglichste Auskunft zu geben.
Von Schaanwald werden die Flüchtlinge mittelst der Bahn und im Bedarfsfalle mittelst Camions nach Buchs in die Sammelstelle überführt. Infolgedessen gibt es immer wieder längere Wartezeiten hinter unserer Landesgrenze für jene Flüchtlinge, die die Kontrolle passiert haben, aber noch auf den Zug warten müssen. Aus diesem Grunde wurde vom fürstlichen Bauamt ein kleiner Lagerplatz mit Baracken und Sitzgelegenheit hergerichtet, um den Leuten die Wartezeit etwas angenehmer zu gestalten. Doch fehlte die Hauptsache und das war eine Verpflegungsstation. Hier sprangen nun ganz spontan unsere Pfadfinder und Pfadfinderinnen ein. Am 27. April vormittags sprachen einige Pfadfinderführer bei der fürstl. Regierung vor und ersuchten um die Bewilligung für die Errichtung einer Suppenküche für die Flüchtlinge. Nachdem diese Bewilligung gerne erteilt worden war, wurde sogleich an die Ausführung dieses Planes geschritten. Die drei Pfader setzten sich auf ihre Fahrräder, fuhren nach Schaanwald, kauften unterwegs noch Lebensmittel und Rauchwaren, erstellten sogleich hinter der Sanitätsbaracke eine echt pfadfinderische Kochstelle für drei Kessel, die auch heute noch ihren vollen Dienst tut. Währenddem einer vorläufig Cigaretten verteilte, rüsteten die anderen bereits die erste Suppe. In der Zwischenzeit hatten sich noch zwei weitere Pfader zur Verfügung gestellt sowie die Vaduzer Pfadfinderinnen-Führerinnen ihre Hilfe und Beteiligung an diesem Werk der Nächstenliebe zugesagt.
Kurz nach Mittag waren die ersten Kessel Suppe abgabefertig und nachdem die beiden Führerinnen das noch mangelnde Essgeschirr u.a.m. gebracht hatten, konnten die ersten Hundert mit Suppe versorgt werden. Welch eine Freude für alle Heimatlosen, als sie nach Betreten freien, neutralen Bodens noch mit einer warmen und kräftigen Suppe gespeist wurden. Nicht weniger Anklang fanden die nach der Suppe verteilten Cigaretten. Inzwischen erschienen auch Ihre Durchlaucht Fürstin Gina mit Ihren Durchlauchten Prinzessinnen [Maria] Henriette und Marie–Therese auf dem Lagerplatz und zur Freude aller brachten sie eine grosse Menge weiterer Lebensmittel mit, vor allem auch Brot, das nun auch zur Suppe gereicht werden konnte. Die Durchlauchtigsten Damen liessen es sich nicht nehmen, überall selbst mit Hand anzulegen, war es beim Kartoffelschälen oder Suppe verteilen.
Infolge der ständigen Zunahme an Flüchtlingen mussten grössere Kessel und für die Unterbringung der Lebensmittel ein Proviantzelt herbeigeschafft werden, was auch sogleich geschah. Herr fürstl. Baurat J. [Josef] Vogt bot auch sogleich seine Dienste zum weiteren u. zweckmässigen Ausbau der Verpflegungsstelle an, die natürlich dankbar entgegengenommen wurden. Es wurden sogleich einige Arbeiter zur Verfügung gestellt, die die nötigen Arbeiten in Angriff nahmen. Unterdessen ging die Suppen-Kocherei und -Verteilerei munter weiter und bis abends 7 Uhr waren schon ca. 400 Personen versorgt worden. Der Vaduzer Frauenverein bot auch in liebenswürdiger Weise seine Unterstützung durch Sammeln von Lebensmitteln an; währenddem auch schon die ersten freiwilligen Spenden aus den verschiedenen Unterländer Gemeinden, vorab Mauren und Nendeln, eintrafen. Samstags wurde bereits morgens 7 Uhr die erste Suppe mit Brot verabreicht. Während gemäss den Wünschen der Pfadfinder und Pfadfinderinnen und den Anleitungen von Herrn fürstl. Baurat Vogt die Verpflegungsstelle erweitert und besser ausgebaut wurde, traf auch auf Veranlassung von Herrn Vogt eine schweizer. Militärgulaschkanone ein, die sogleich mit Begeisterung von den Pfadern in Betrieb genommen wurde. Nachdem dann im Laufe des Tages das Proviantzelt durch eine Baracke ersetzt worden, und die Kochstellen abgedeckt worden waren, klappte die Sache vorzüglich und konnte ohne Unterbruch den ganzen Tag hindurch, an alle zuströmenden Flüchtlinge Suppe, Brot und Rauchwaren verteilt werden.
Was da für Elend über unsere Grenze gezogen kam, ist kaum zum glauben. Wer es nicht selbst gesehen hat, kann sich keinen Begriff davon machen. Neben Fremdarbeitern in zerfetzten Kleidern und abgetragenen Uniformstücken standen Frauen aus ehemals guten Verhältnissen, die noch als einziges Stück ihres Reichtums vielleicht einen Pelzmantel zu retten vermocht hatten, zur Suppenentgegennahme an. Sie waren alle vom gleichen Gedanken beseelt: Hinaus aus der Hölle, und als sie das erreicht hatten: Nur noch eine warme Suppe. Viele unter ihnen hatten seit Tagen nichts Warmes oder auch gar nichts mehr gegessen. Es gab etliche unter ihnen, die eine kräftige Suppe nicht mehr ertrugen und denen Milch gereicht werden musste. Die meisten waren überglücklich, unser Land zu betreten und bekundeten je nach Temperament ihre Freude. Andere waren aber durch all das Erlebte auch innerlich so zerschlagen, dass sie nicht mehr imstande waren, ihre Freude über die wiedergefundene Freiheit Ausdruck zu geben. Sie liessen sich kontrollieren, zur Verpflegungsstelle bringen, nahmen die gebotenen Lebensmittel, löffelten dann irgendwo ihre Suppe, derweil ihre Augen immer gleich ausdruckslos irgend in eine Ecke starrten. Diese sind wohl zu den Ärmsten und Bedauernswertesten zu zählen, die unser Land betraten. Wieviel Liebe und Betreuung werden diese Menschen brauchen, bis wieder der erste Freudenblick aus ihren stieren Augen blinkt? – Andere kamen wieder, die noch eine Stunde nach Grenzübertritt am ganzen Leibe zitterten, und immer nur ein Wort hervorbrachten: "Die Gestapo, die Gestapo." Ein junger Franzose war auch darunter, der ein halbes Jahr im Gefängnis war, ohne dass er wusste warum. Er kam daher wie eine wandelnde Leiche und war so schwach, dass er den Weg von Feldkirch zur Grenze teilweise auf Händen und Füssen zurücklegen musste, bis ihn dann zwei andere unter die Arme nahmen. Dieser junge Mann, der vor der Einlieferung ins Gefängnis 85 Kg. wog, hatte nur noch höchstens 40 Kg. Er wiederholte nur immer wieder die gleiche Anklage: "Ich habe nichts gestohlen, ich habe niemanden getötet, ich habe niemanden was getan und weiss nicht, warum mir das angetan wurde!"
Dienstag, den 1. Mai, kamen erstmals 9 Insassen des Konzentrationslagers Dachau. Körperlich und seelisch in einem unbeschreiblichen Zustand. Schon an diesem Tage nahm der Flüchtlingsstrom weit grösseren Umfang an als an den Vortagen, und als am Abend die Grenze geschlossen wurde, warteten noch Hunderte von Personen auf der deutschen Seite. All diese Vielen mussten im Freien übernachten, zu allem Überfluss kam diese Nacht noch Schneefall, so dass diese Wartenden mehrmals versuchten, mit Gewalt den Drahtverhau zu durchbrechen. Am Abend wurden unter diese Flüchtlinge auf der deutschen Seite noch ca. 150 Liter Suppe und dazu Brot verteilt. Die Küchenmannschaft übernachtete im Unterland und war beim Morgengrauen schon wieder zur Stelle, so dass um 6 Uhr früh schon die erste Suppe wieder zur Verteilung gelangte. In der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch hatten dann auch einige Vertrauensmänner der franz. Fremdarbeiter einen eigenen Organisationsdienst jenseits der Grenze eingerichtet, so dass am Mittwoch der Grenzübertritt bedeutend rascher und reibungsloser als bisher funktionierte. Am Mittwoch dürften wohl am meisten Flüchtlinge unserer Grenze überschritten haben und es herrschte daher auch überall Hochbetrieb. Ganz besonders auch in der Verpflegungsstelle der Pfadfinder. Hier ging die Suppenfabrikation auf Hochtouren. Da an diesem Tage infolge der schnelleren Abwicklung des Grenzübertrittes auch die Flüchtlinge schneller an die Bahn befördert wurden, wurden die einen schon vor oder gleich nach der Kontrolle ihrer Papiere oder dann vorne bei der Bahnhaltestelle verpflegt, was natürlich eine bedeutende Mehrarbeit zur Folge hatte.
Donnerstag, den 3. Mai, kamen nebst dem schon gewohnten Flüchtlingsstrom neuerlich rund 90 Insassen des Konzentrationslagers Dachau sowie ein grosser Trupp indischer Kriegsgefangener. Mittags wurde dann die Grenze geschlossen und als die Nachricht von der Besetzung Feldkirchs einlangte, stieg seit 7 Jahren wieder zum ersten Male die österreichische Bundesflagge am Fahnenmast jenseits der Grenze hoch und flatterte nun lustig im Verein mit den blau–roten, gold–roten und der schweizerischen Flagge diesseits der Grenze. Es war dies wirklich ein stimmungsvoller Augenblick. Jene Flüchtlinge, denen der Grenzübertritt verweigert werden musste, sassen noch am Nachmittag auf ihren Habseligkeiten rund um das österreichische Zollamt herum und wurden laufend von Ihrer Durchlaucht Fürstin Gina, den Durchlauchtigsten Prinzessinnen und Prinzen, den Pfadfinderinnen und Pfadfindern verpflegt.
Während dieser Bericht geschrieben wird, werden an der Grenze die französischen Truppen erwartet und wird sich dann zeigen, ob allenfalls diese Verpflegungsstelle der Pfadfinder und Pfadfinderinnen noch weiter geführt werden soll oder nicht. Für heute können wir nur soviel feststellen, dass diese Verpflegungsstelle Grossartiges geleistet hat. Es war dies eine pfadfinderische Tat, wie man sie nicht schöner und besser sich vorstellen kann. Es gebührt daher allen Mädchen und Jungen, die während diesen Tagen ihren Beruf bei Seite stellten, um diesen Ärmsten der Armen zu helfen, unser aller Dank. Dann gebührt aber vor allem auch die Anerkennung des ganzen Liechtensteiner Volkes unserem Durchlauchtigsten Fürstenhause, vorab unserer Durchlauchtigsten Fürstin Gina, die Tag für Tag in so aufopferungsvoller Weise mit den Pfadern und Pfaderinnen zusammenarbeitete und diese immer wieder zu neuen guten Taten anspornte. Weiterer öffentlicher Dank gebührt dem Vaduzer Frauenverein, der sogleich unter Leitung der Präsidentin [Rosa Batliner] des Landesverbandes der Frauen und Töchter in der Gemeinde Vaduz eine Sammlung zur Versorgung der Verpflegungsstelle in Schaanwald durchführte, die ausserordentlich reiches Ergebnis brachte. Weiterer Dank und Anerkennung gebührt nicht weniger den Gemeinden Mauren, Schellenberg, Eschen und Schaan, die ebenfalls grosse Mengen von Lebensmitteln so wie auch das Brennholz zur Verfügung stellten. Schliesslich gebührt auch allen Privaten, die so reichlich sich an den Sammlungen beteiligten oder ihre Gaben direkt in die Verpflegungsstelle brachten, der Dank aller. Ergreifend war es, wie bei Durchführung der Sammlung in Vaduz eine ganze Reihe von Mitgliedern des hochfürstlichen Hauses mit andern opferwilligen Seelen zusammen arbeitete und die Gaben zusammentrug.
Die Flüchtlings-Verpflegungsstelle der Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Schaanwald wird nicht nur allen jenen, die hier gespeist und gelabt wurden, sondern auch all den Jungen u. Mädchen, die sich hier so uneigennützig zur Verfügung stellten, unvergesslich bleiben. – Pfadfinderinnen und Pfadfinder, hier habt ihr eine gute Tat zu Wege gebracht, die es verdient, mit goldenen Lettern in euere Geschichte eingetragen zu werden. Der Schreiber dieser Zeilen weiss, dass ihr dies nicht tatet, um Lob und Ehren dafür einzuheimsen, nein, ihr tatet es nur von dem Wunsche beseelt, all diesen Armen und Gepeinigten zu helfen und auf diese Art und Weise Eueren und den Dank aller Liechtensteiner der Vorsehung gegenüber zu erweisen, dafür dass wir auch heute noch freie Liechtensteiner sind.