Die „Oberrheinischen Nachrichten“ befassen sich mit der liechtensteinischen Verfassungsrevision, der Anerkennung der Exterritorialität des Fürsten in Österreich und der Errichtung eigener diplomatischer Vertretungen im Ausland


Bericht in den „Oberrheinischen Nachrichten", nicht gez. [1]

26.4.1919

Landeswochenschau

Anscheinend haben sich die Gruppen der Abgeordneten in der bestehenden Verfassungskrisis dahin geeinigt, dass das Oberland nach der neuen Verfassung 8 und das Unterland 5 Volksabgeordnete erhalten soll und dass fürderhin nur mehr 2 fürstliche Abgeordnete ernannt werden sollen. [2] Auch die übrigen Verfassungsfragen, insbesondere wegen Ausgestaltung der Regierung, Verlegung der Gerichtsinstanzen [3] ins Land sollen in volkstümlichem Sinne gelöst werden. Es ist nun Aufgabe der Regierung und der Verfassungskommission, einen echt demokratischen Entwurf durch einen Juristen ausarbeiten zu lassen. Wohl darf erörtert werden, dass er nicht von einem im alten österreichischen Schablonenstil auferzogenen Juristen ausgearbeitet, sondern dass er von einem tüchtigen Juristen des benachbarten Schweizerlandes verfasst werde. Wir wollen eine volkstümliche Verfassung, aus der jeder Hauch des Absolutismus verschwindet und nur das Wohl für das Land und die Sorge für das Volk unter seiner äusserst wirksamen Anteilnahme bestimmt werden kann. Spätere Geschlechter sollen uns einen Vorwurf nicht machen können, wir seien zugeknöpft gewesen und hätten den Zug der Zeit nicht verstanden, sie sollen uns umgekehrt das ehrende Zeugnis ausstellen, dass aus dem Kampfe etwas Gutes entstanden sei. In der neuen Verfassung soll erst recht der Satz: Liechtenstein den Liechtensteinern! zum Ausdruck kommen.

Deutschösterreich hat die auf dem Völkerrecht begründete Exterritorialität unseres regierenden Fürsten anerkannt. Was heisst dies? Nach einem neuerlich in jenem Staate erlassenen Gesetze wurde nämlich die sogen. Exterritorialität verschiedener adeliger Familien mit Recht, weil veraltet, aufgehoben. [4] Es ist nämlich ein Rechtsatz des Völkerrechts, dass der oberste Vertreter (Staatshaupt) eines der Völkerrechtsgemeinschaft angehörigen Staates (Monarch, Präsident usw.) innerhalb wie ausserhalb des eigenen Staates einer fremden Staatsgewalt nicht unterworfen sein kann und darin, d. h. im Nichtunterworfensein, besteht eben die sogen. Exterritorialität. [5] Als deutscher Standesherr [6] trat nun der Chef des fürstlichen Hauses Liechtenstein durch Erhebung seiner ausser-österreichischen Besitzungen (Liechtenstein!) zur Mitgliedschaft des Rheinbundes (Rheinbundsakte vom 12. Juli 1806) [7] in eine andere staatsrechtliche Kategorie und ging sohin unter die souveränen Glieder des Deutschen Bundes über (Bundesakte vom 8. Juni 1815). [8] In Anbetracht dessen wurden auch dem in Österreich domizilierenden Fürsten von Liechtenstein und seiner Familie besondere Privilegien zugestanden. Bezüglich seiner Person, Gemahlin und seiner im elterlichen Hause sich aufhaltenden minderjährigen und unvermählten Kinder galt in Österreich die Vorschrift, dass bei allen in Österreich sich ergebenden Rechtsangelegenheiten, welche sich auf diese als exterritorial anzusehenden Personen und auf ihr bewegliches Vermögen beziehen, das (jetzt aufgehobene) Obersthofmarschallamt als Gerichtshof einzuschreiten habe. Hinsichtlich des den genannten Personen gehörigen Liegenschafts- und Fideikommissvermögens haben die ordentlichen Gerichte nach den österreichischen Gesetzen zu urteilen. Der gleiche Schriftsteller [Johann Vesque] v. Püttlingen schreibt: „Der einzige Ausländer der erblich dem österreichischen Herrenhaus angehört, ist der regierende Fürst Liechtenstein, [9] in Anbetracht seines grossen Fideikommissbesitzes. Ebenso hat er bei der ungarischen Magnatentafel [10] Sitz und Stimme." - Diese zum Teil speziell österreichischen Verhältnisse sind nun dahingefallen.

Der Fürst geniesst heute in Österreich nur mehr die völkerrechtliche anerkannte Exterritorialität. Diese Exterritorialität umfasst die persönliche Unantastbarkeit des Landesfürsten, er ist unverletzlich und nur die äusserste Not würde die Gewaltanwendung rechtfertigen. Ausnahme von der Gerichtsbarkeit Deutsch-Österreichs. Seine Wohnung darf von jenen Behörden ohne Zustimmung nicht betreten werden. Er ist befreit von allen direkten Steuern und Abgaben, soweit diese nicht auf Grundeigentum beruhen. In der Hauptsache wird er also steuern müssen. Der Fürst hat das Recht des ungehemmten und uneingeschränkten Verkehrs mit dem Lande. Dies sind in kurzen Zügen Striche zur Bedeutung der Exterritorialität.

Liechtenstein hat immer als ein Anhängsel des untergegangenen Österreich gegolten und ist daher als Mitglied der Staatengemeinschaft nicht hervorgetreten, noch aufgefallen. In diesem Sinne schreibt der angesehene Völkerrechtslehrer [Franz] v. Liszt in seinem weitverbreiteten Buche über Völkerrecht: „Dazu (d. h. zu den aufgezählten europäischen Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft) kämen noch die drei Duodezstaaten [11] Liechtenstein, San Marino und Monaco, die an den Haager Friedenskonferenzen [12] nicht beteiligt waren und als selbständige Glieder der Staatengemeinschaft kaum mitgerechnet werden können." [13] Soweit haben wir es gebracht, dass Österreich uns vertrat und nicht vertrat. - Es muss daher jeden Liechtensteiner freuen, dass wir durch Ernennung eigener diplomatischer Funktionäre diesem unhaltbaren Zustand abzuhelfen suchen. In jüngster Zeit haben deshalb Regierung und Finanzkommission einem Antrag auf Errichtung von Vertretungen Liechtensteins in Wien und Bern zugestimmt. In Wien und Bern sollen Gesandtschaften auf Kosten des Landes und des Fürsten errichtet werden. In bedeutenden Städten des Auslandes hingegen sollen ehrenamtlich verwaltete liechtensteinische Konsulate nach Bedarf errichtet werden. Hoffentlich vertritt uns im übrigen die Schweiz in Zukunft, denn wer mit den österreichischen Organen im Auslande zu tun hatte, der weiss nur zu gut die Berechtigung dieses Wunsches. - Da Liechtenstein ein kleiner Staat ist, lässt sich auch fragen, ob wir in Wien und Bern nicht weniger kostspielige diplomatische Funktionäre (Ministerresidenten oder Geschäftsträger) aufstellen sollen. Es würde für unser kleines Land ebenso genügen wie für Luxemburg und andere kleine Staaten. Der Wiener Posten kann jedenfalls mit der Zeit aufgelassen werden, denn tatsächlich hat das Land, mit Ausnahme des Fürsten, dort keine Interessen zu wahren. Zu erwarten ist endlich, dass auch diese Posten mit entsprechend demokratischem Personal gestellt wird und dass sie nicht Versorgungsposten für gewisse Kreise sein werden. Auf diesem Umstand möchten wir heute schon hinweisen. 

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[1] O.N., Nr. 29, 26.4.1919, S. 1.
[2] Vgl. das Protokoll der Landtagssitzung vom 16.4.1919 (LI LA LTA 1919/S04).
[3] Vgl. O.N., Nr. 25, 12.4.1919, S. 1 („Los von Wien! I.") und O.N., Nr. 26 16.4.1919, S. 1 („Los von Wien! II.").
[4] Gesetz vom 3.4.1919 über die Abschaffung der nicht im Völkerrecht begründeten Exterritorialität, öst. StGBl. 1919 Nr. 210.
[5] Zur inländischen Gerichtsbarkeit über Personen, die nach völkerrechtlichen Grundsätzen die Exterritorialität geniessen, siehe Art. IX des Einführungsgesetzes zur Jurisdiktionsnorm vom 1.8.1895, öst. RGBl. 1895 Nr. 110.
[6] Der Begriff des Standesherrn bezeichnete im Deutschen Bund die mediatisierten, ursprünglich, d.h. im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, reichsunmittelbaren Adelshäuser. Das liechtensteinische Fürstenhaus gehörte jedoch gerade nicht zu den mediatisierten Geschlechtern.
[7] LI LA U 107.
[8] LI LA SgRV 1815/1.
[9] Das Herrenhaus war das Oberhaus des österreichischen Reichsrates (1861-1918). Ihm gehörten u.a. die souveränen Häuser Liechtenstein, Sachsen-Coburg und Gotha sowie Schaumburg-Lippe als erbliche Mitglieder an. Auch der Bischof von Breslau gehörte dem Herrenhaus an.
[10] Die Magnatentafel oder das Magnatenhaus war bis 1918 die zweite Kammer des ungarischen Reichstages.
[11] Als Duodezstaaten wurden die kleineren deutschen Fürstentümer im Sinne der Kleinstaaterei verstanden. Der Begriff leitet sich vom Duodezformat, einem kleinen Buchformat, ab.
[12] Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 sollten der Aufstellung von Grundsätzen für die friedliche Regelung internationaler Konflikte dienen. Es wurden Normen für die Land- und Seekriegsführung ausgearbeitet und ein ständiger Schiedsgerichtshof errichtet.
[13] Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. 1898-1919 in 11 Auflagen erschienen.