Die „Oberrheinischen Nachrichten“ wenden sich gegen die liechtensteinischen Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen mit Sitz im Ausland (1)


Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten", nicht gez. [1]

12.4.1919

Los von Wien!

I.

Ein Leitsatz der Volkspartei fordert die Ausschaltung der Hofkanzlei und die Verlegung der Gerichtsinstanzen ins Land.

Auf die Geschichte dieser äussern liechtensteinischen Behörden sei hier verwiesen. Zur Grafenzeit bis 1700 [2] hatten wir keine im Auslande amtierenden Behörden. Der Hof des Grafen befand sich meistens in Vaduz und seine Beamten schalteten und walteten im Lande, wo sie auch leibten und lebten. Erst unter dem jetzt regierenden Fürstenhause [Liechtenstein] wurden allmählich gewisse Verwaltungs- und Rechtssachen durch die Hofkanzlei in Wien, oder wo sie sich sonst etwa befand, besorgt. Peter Kaiser hat uns drastisch geschildert, wie wenig rücksichtsvoll diese Hofbeamten im Anfange auf unsere landschaftlichen Sitten, Gebräuche und Einrichtungen waren. [3] Schon 1718 wird dem „bäuerischen" Gerichte durch diese landesfremden und landesunkundigen Leute der Todesstoss versetzt. [4] Im Lauf der Zeiten hat diese Hofkanzlei oftmals bald zum Segen, bald auch zum Schaden des Landes in unsere Verhältnisse eingegriffen. Die regierenden Wirtschaftsräte und andere erliessen Befehle für das Land und der jeweils amtierende Landvogt, später Landesverweser, musste stets trachten, bei der Hofkanzlei gutes Wetter zu erhalten. Die Hofkanzlei selbst hatte und hat noch heute den direkten Verkehr mit dem Landesfürsten zu besorgen. Wenn ein Liechtensteiner seinen Fürsten besuchen will, dann hängt es von dieser Hofkanzlei ab, ob er überhaupt zugelassen wird. Beim diplomatischen Verkehr mit dem Auslande griff und greift die Hofkanzlei ein und ihr Einfluss war und ist heute noch ein bedeutender. 

Die Hofkanzlei ist nun nicht etwa eine in der Verfassung [5] vorgesehene Behörde, denn nirgends steht von ihr in der Verfassung zu lesen. Die Hofkanzlei hat aber auch nach Einführung unserer Verfassung weiter amtiert und ist tatsächlich eine Behörde. Erst unter dem Einflusse von [Karl von] In der Maur sel. ist die Hofkanzlei eine – wenn auch nicht eine verfassungsmässig – so doch gesetzlich anerkannte Behörde durch die Bestimmungen der neuen Zivilprozessordnung [6] geworden. Nach § 26 der sogen. Jurisdiktionsnormen [7] ist bei Streitigkeiten über die Zuständigkeit mit ausländischen Behörden die bindende Erklärung der Hofkanzlei einzuholen.

Es ist eine der wichtigsten Forderungen, die durch die gegenwärtige Verfassungsrevision erfüllt werden soll, dass die Hofkanzlei als staatliches Organ vollständig zu verschwinden hat und nur mehr als eine private Einrichtung des Landesfürsten weiter wirken mag. Der Einfluss der Hofkanzlei war nicht gerade immer segensreich. Beispiele könnten angeführt werden. An Stelle der Hofkanzlei hat zum grössten Teil die im Lande amtierende Verwaltungsbeschwerde-Instanz zu fungieren. Wer jetzt gegen einen Regierungsentscheid rekurieren will, der muss durch die Regierung, deren Entscheid er anficht, nach Wien rekurieren. Die Regierung, die ja eigentlich Partei ist, gibt noch ihren Amtsbericht dazu und auf Grund der Rekursschrift, der Rekursakten und des Amtsberichts der Regierung fällt die Rekursinstanz ihren Entscheid. Rekursinstanz sind auf Vorschlag der Hofkanzleibeamten vom Fürsten ernannte Wiener Advokaten und andere Persönlichkeiten, die unser Land nie gesehen und demnach von unsern Zuständen fast keine Kenntnis haben.

In Tirol und Vorarlberg und andern ehemaligen österreichischen Kronländern ist in jüngster Zeit der Ruf „Los von Wien" immer mächtiger geworden. Auch wir wollen los von Wien und los von dieser Hofkanzlei. Über uns sollen Liechtensteiner und nicht landesfremde Leute sitzen und richten. Es ist Aufgabe des Landtages und der Regierung, möglichst bald eine Gesetzesvorlage unabhängig von der Verfassungsrevision einzubringen und zu behandeln, die eine unabhängige Verwaltungsbeschwerde-Instanz [8] nebst Vorschriften über das Verwaltungsverfahren [9] vorsieht. Dadurch wird der Forderung „Los von Wien" Nachdruck verliehen und der Regierungsvorsitzende erhält einen stärkeren Rückgrat. Die wenigen Kosten der Rekursinstanz vermag das Land gut zu bestreiten. Und ich frage, ist eine bessere Einrichtung, die unsere Selbständigkeit stärkt, nicht auch wert? Jeder patriotische Liechtensteiner wird mir zustimmen. Zu dieser Hofkanzlei mit ihren österreichischen Angestellten und Beamten haben wir nun einmal in Gottes Namen kein Zutrauen mehr und es ist geschichtlich begründet. Hat doch z.B. sie, die unsere Verhältnisse nicht kennt, sich zum Urteil verstiegen, Peter Kaisers „Geschichte von Liechtenstein" [10] sei ein „leichtes Produkt"! Das ist doch für jeden echten Liechtensteiner eine Kränkung.

Eine weitere Forderung der Verfassungsrevision ist – und wir hoffen, dass sie Durchlaucht Prinz Karl mit Nachdruck beim Fürsten verfechte – dass als Sekretär oder Referent über Liechtensteiner Sachen ein geborener Liechtensteiner amtiert, der das Vertrauen von Landtag und Regierung besitzt. Wie soll denn ein österreichischer Republikaner unsere eigenen Interessen, die er nur aus den Akten kennt, beim Fürsten vertreten und wie soll er ihn beraten? Wir wollen uns selbst helfen, getreu dem Spruche: Liechtenstein den Liechtensteinern! Fort mit allem landesfremdem Einflusse! Los von Wien, keine Zwischenmauer zwischen Land und Fürst! 

Ein Patriot! [11]

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[1] O.N., Nr. 25, 12.4.1919, S. 1.
[2] Die Reichsgrafen von Hohenems hatten von 1613 bis 1699 die Reichsherrschaft Schellenberg und bis 1712 die Reichsgrafschaft Vaduz inne.
[3] Kaiser, Peter: Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein nebst Schilderungen aus Chur-Rätien’s Vorzeit. Chur 1847.
[4] Im Anschluss an die Erhebung der Herrschaften Vaduz und Schellenberg zum Reichsfürstentum Liechtenstein am 23.1.1719 hob Fürst Anton Florian mit Dienstinstruktion vom 10.4.1719 die Landammannverfassung auf und teilte das Land in 6 Ämter ein. Nach Auseinandersetzungen mit den Untertanen wurde die Landammannverfassung mit fürstlichem Erlass vom 25.9.1733 teilweise wieder hergestellt. Mit Dienstinstruktion vom 7.10.1808 wurde die „alte Verfassung" endgültig aufgehoben.
[5] Verfassung vom 26.9.1862. Vgl. jedoch die Bestimmungen über die politische Rekursinstanz in den §§ 18 und 19 sowie über das fürstliche Appellationsgericht in den §§ 34 und 42-45 der Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein (Fürstliche Verordnung vom 30. Mai 1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration, LGBl. 1871 Nr. 1).
[6] Gesetz vom 10.12.1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozessordnung), LGBl. 1912 Nr. 9/1. Vgl. § 119 ZPO betreffend bestimmte Zustellungen über die Hofkanzlei.
[7] Gesetz vom 10.1.21912 über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen (Jurisdiktionsnorm), LGBl. 1912 Nr. 9/2.
[8] Vgl. Art. 97 Abs. 1 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15, wonach die Entscheidungen oder Verfügungen der Regierung grundsätzlich dem Rechtsmittel der Beschwerde an die zu errichtende Verwaltungsbeschwerde-Instanz (VBI) unterlagen. Gemäss Art. 97 Abs. 2 Satz 1 legcit bestand die VBI aus einem vom Landesfürsten über Vorschlag des Landtags ernannten rechtskundigen Vorsitzenden und zwei vom Landtag aus der wahlfähigen Bevölkerung des Landes gewählten Rekursrichtern mit ebenso vielen Stellvertretern.
[9] Vgl. das Gesetz vom 21.4.1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege (die Verwaltungsbehörden und ihre Hilfsorgane, das Verfahren in Verwaltungssachen, das Verwaltungszwangs- und Verwaltungsstrafverfahren), LGBl. 1922 Nr. 24.
[10] Siehe Fussnote 3.
[11] Die Fortsetzung des Artikels findet sich in O.N., Nr. 26, 16.4.1919, S. 1 („Los von Wien! II.").