Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten", nicht gez. [1]
16.4.1919
Los von Wien!
II.
Die neuzeitliche Ordnung unserer Verhältnisse und die Wandlungen in Österreich gebieten uns, selbständige, im Lande amtierende Gerichte einzuführen.
Mit dem Übergang der beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg wurde die dritte Gerichtsinstanz – damals war Justiz und Verwaltung nicht getrennt [2] – in die Hofkanzlei verlegt. Es begegnen uns in liechtensteinischen Akten oftmals Entscheidungen der Hofkanzlei. Im Jahre 1819 wurde das Appellationsgericht (jetzt Oberland[es]gericht) in Innsbruck zur dritten Instanz in Gerichtssachen erhoben. [3] An der Hofkanzlei wurde eine Appellationsinstanz eingerichtet. Nach dem heute zu Recht bestehenden Zustande ist also das Berufungsgericht in bürgerlichen Rechtssachen und in Strafsachen in Wien in der Hofkanzlei, die dritte Instanz in allen diesen Sachen das Oberlandesgericht Innsbruck. [4]
Früher, als die auf dem schriftlichen Verfahren aufgebauten alten Prozessordnungen [5] noch galten, als man demnach nur auf Grund der Akten urteilte und urteilen wollte, war dieser Zustand noch einigermassen erträglich. Die Zeiten und mit ihnen die Rechtsanschauungen haben sich gewaltig geändert. Deshalb hat unser Landesfürst schon am 30. Dezember 1906 in einem Handbillet den Wunsch ausgesprochen, dass eine zeitgemässe Regelung des liechtensteinischen Rechtspflegeverfahrens zustande komme. [6] Heute haben wir wohl eine neue Zivilprozessordnung, [7] die um Kr. 30'000 [8] der österreichischen [9] abgeschrieben wurde und zum Teil eine zeitgemässe Strafprozessordnung. [10] Zum Teil sagen wir, denn was ihr fehlt, ist die mündliche Berufungsverhandlung. Der Zivilprozessordnung ist zwar die mündliche Berufungsverhandlung bekannt und sie regelt sie ausführlich, aber in einem unscheinbaren Paragraphen wird dann hintennach bestimmt, dass in der Regel nur auf Grund der Akten geurteilt werde. So haben wir im Grunde bei der zweiten Instanz nur ein aktenmässiges Verfahren. Das zweitinstanzliche Verfahren ist in Österreich gerade umgekehrt, in der Regel ein solches auf Grund einer mündlichen Verhandlung, weil man eben den lebendigen Eindruck der Personen dem toten Aktenmaterial vorzieht. Unsere Gesetzgeber haben stets die Redewendung gebraucht, wir wollen uns, so gut es bei der Kleinheit des Landes angehe, an Österreich anschliessen. Das Resultat ist aber gerade das Gegenteil.
Im Jahre 1907 hat sich der bei ins bekannte Advokat Dr. [Josef] Peer in einem Rechtsgutachten zu Handen des Landtags dafür ausgesprochen: Die Justizreform muss, um den Bedürfnissen des Landes voll zu entsprechen, ein anderes Verfahren einführen. Nach Peer sollte das Berufungsgericht alle Vierteljahre einmal in Vaduz zusammentreten und über die gegen die Urteile und Beschlüsse des Landgerichts eingelaufenen Berufungen und Rekurse entscheiden. In dringenden Fällen soll das Gericht zu ausserordentlichen Sitzungen zusammentreten. Das Berufungsgericht hätte nach seinem Vorschlage aus drei Richtern zu bestehen. Die Verhandlungen über Berufungen sollen öffentlich und mündlich sein, also in Anwesenheit der Parteien vor sich gehen. Jetzt ist das Gericht in Wien, es sieht niemals die Parteien und Zeugen, sondern einzig und allein die Akten, was nicht in den Akten steht, wissen die Richter nicht. Dieser Vorschlag Peers fand damals keine Gnade und es blieb aus manchen Scheingründen bei der alten Gerichtsorganisation.
Wir haben unbedingt eine Änderung der Organisation der Gerichte erforderlich, die ausschliesslich auf unsere Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Viele Gründe sprechen dafür. Einmal die Auflösung Österreichs. Die Beziehungen und allfälligen Rücksichtnahmen haben sich vollständig verschoben. In Deutsch-Österreich ist das Volk oberster Gerichtsherr, bei uns der Monarch. Das Appellationsgericht ist zu weit entfernt, so dass eine mündliche Verhandlung sozusagen ausgeschlossen ist. Denn Zeugen und Parteien können doch nicht nach Wien reisen. Die Volks- und Landeskenntnisse gehen den Berufungsrichtern – die im übrigen noch so gewissenhaft urteilen mögen – vollkommen ab. In unserem Appellationsgerichte sitzen Richter, die Wiener Advokaten sind oder einstens gewesen sind. Es macht sich demnach zum mindesten eigentümlich, wenn man im Lande selbst über eigene Leute, weil sie Anwälte sind, loszieht, und zu gleicher Zeit fremde Anwälte als Berufungsrichter hat. In keinem modernen Staate sitzen die Gerichte so im Auslande, wie dies bei Liechtenstein der Fall ist. Dazu kommen aber praktische Erwägungen, die uns zwingen, die obern Gerichtsinstanzen ins Land zu verlegen. In Zivilsachen und auch in Übertretungsstrafsachen urteilt ein Einzelrichter. Es ist deshalb ein Gebot der Gerechtigkeit, dass solche Urteile, ähnlich wie in Österreich, von einem kollegialen Berufungsgerichte mündlich in Verhandlung gezogen werden. Nehmen wir an, es handle sich in einer bürgerlichen Streitsache hauptsächlich um die nochmalige Inaugenscheinnahme von Sachen, da kann nun das Appellationsgericht den Augenschein wegen seiner Entfernung vom Lande nicht selbst vornehmen, es muss die Vornahme desselben dem Erstrichter wieder auftragen. Nun würde das Appellationsgericht die Sache doch gewiss anders anschauen als der Erstrichter, der ja schon einmal den Augenschein abnahm. Das Berufungsgericht ist eben nicht landes- und volkskundig und kann es nie werden. Um dies zu erreichen, muss es – wenigstens überwiegend – aus Liechtensteinern zusammengesetzt sein und im Lande seinen Amtssitz haben. Im Strafverfahren wollen wir nur daran erinnern, dass die Beschwerde eines Verhafteten gegen seine zu Unrecht erfolgte Verhaftung deshalb ein fast wirkungsloses Rechtsmittel ist, weil doch längere Zeit verstreicht, bis die Akten in Wien einlangen, die Beschwerde geprüft und der Entscheid wieder in Vaduz einlangt. Im allerbesten Falle muss der Mann 10 Tage die Freiheit einbüssen beim jetzigen mangelhaften Zustande. Ähnlich ist der Fall, wenn ein in Haft befindlicher Verurteilter gegen das Urteil Berufung einlegt. Tatsächlich bleibt er seiner Freiheit beraubt und wenn das nach einem Monate einlangende freisprechende Urteil ankommt, hat er schon mehr als einen Monat unschuldig abgesessen. Und da denke man erst an die Zustände während des Bestandes der berüchtigten österreichischen Zensur. [11] Wie lange ging es, bis die Akten zurückkamen! Aber nicht nur ist unsere Freiheit bei den jetzigen Zuständen zu wenig geschützt – es soll niemandem ein Vorwurf gemacht werden – sondern auch unser höchstes Gut, das Leben, kann uns vom Obergerichte einzig und allein auf Grund der Akten abgesprochen und es kann der Sünder zum Tode verurteilt werden. Solche Zustände kommen wahrlich in keinem zivilisierten Lande vor. Die demokratische Strömung fordert – sie bittet nicht mehr – dass eine andere Gerichtsorganisation geschaffen wird. Es ist nur zu hoffen, dass der Landtag und Regierung bald, noch in diesem Jahre, die erforderlichen Gesetzesvorlagen behandeln.
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[1] O.N., Nr. 26, 16.4.1919, S. 1. Es handelt sich um die Fortsetzung des Artikels: O.N., Nr. 25, 12.4.1919, S. 1 („Los von Wien! I.").
[2] Vgl. die Fürstliche Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration, LGBl. 1871 Nr. 1.
[3] Auf Grund von Art. XII der Deutschen Bundesakte vom 8.6.1815 wurde mit Kaiserlicher Entschliessung vom 9.12.1817 (Hofdekret vom 13.2.1818, JGS Nr. 1418) das Appellationsgericht für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck als Oberster Gerichtshof in Zivil- und Strafsachen für das Fürstentum Liechtenstein eingesetzt. Am 19.1.1884 wurde zwischen Österreich und Liechtenstein ein Staatsvertrag geschlossen, in welchem die Zuständigkeit des nunmehrigen Oberlandesgerichtes für Tirol und Vorarlberg als 3. Instanz für Liechtenstein übernommen und näher ausgeführt wurde (LGBl. 1884 Nr. 8; öst. RGBl. 1884 Nr. 124).
[4] Nach § 34 der Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein (Fürstliche Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration, LGBl. 1871 Nr. 1) wurde die Gerichtsbarkeit in Liechtenstein durch das Landgericht in Vaduz und im Instanzenzug durch das Fürstliche Appellationsgericht in Wien und durch das k.k. Oberlandesgericht in Innsbruck ausgeübt. Vgl. weiters die §§ 42-46 legcit. Vgl. schon die §§ 91 und 92 der Amts-Instruktion für die Staatsbehörden des souveränen Fürstenthums Liechtenstein vom 26.9.1862, welche gemeinsam mit der Verfassung von 1862 erarbeitet und publiziert wurde.
[5] Vgl. die österreichische Allgemeine Gerichtsordnung vom 1.5.1781 sowie das österreichische Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizei-Übertretungen vom 3.9.1803, welche in Liechtenstein mit Fürstlicher Verordnung vom 18.2.1812 eingeführt wurden. Mit Fürstlicher Verordnung vom 7.11.1859 wurde in Liechtenstein zwar das österreichische Strafgesetz von 1852 übernommen, verfahrensrechtlich blieb es jedoch grundsätzlich beim obgenannten Strafgesetzbuch von 1803.
[6] LI LA SF 01/1907/001.
[7] Gesetz vom 10.12.1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozessordnung), LGBl. 1912 Nr. 9/1.
[8] Vgl. LI LA RE 1912/0114: Honorar und Kostenersatz für Entwurf der neuen Zivilprozessordnung durch Dr. Gustav Walker, Wien.
[9] Gesetz vom 1.8.1895 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Civilprozessordnung), öst. RGBl. 1895 Nr. 113.
[10] Gesetz vom 31.12.1913 betreffend die Einführung einer Strafprozessordnung, LGBl. 1914 Nr. 3. Vgl. das österreichische Gesetz vom 23.5.1873, betreffend die Einführung einer Strafprozess-Ordnung, RGBl. 1873 Nr. 119.
[11] Es handelt sich um eine Anspielung auf die österreichischen Zensurmassnahmen während des 1. Weltkrieges.