Handschriftliches Originalschreiben des Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois), an Emma Rheinberger, Masescha [1]
Januar 1912, Nauvoo (Illinois)
Fräulein Emma Rhbrgr. [2]
Lieb Emma
Sehr erfreut haben Sie mich mit
Ihrem lieben Schreiben, das ich in der
Neujahrswoche erhielt, so sehr mich
auch der Inhalt betrübte.
Im Mai vergangenen Jahres
sandten Sie mir die Aufzeichnungen
über die Reise Ihrer Fräulein Schwester [Olga Rheinberger]
nach Jerusalem. Gemäs Ihrem
Ersuchen, sandte ich ungefähr am
20t. Juny das Manuskript nebst Brief
wieder zurück. Noch bin ich in Sorge
ob Sie es erhalten. Ich denke aber
doch, dass [3] Sie Eins von Beiden /: Brief
oder Paquet erreicht hätte, und es
könte eine Antwort von Ihnen an mich
verloren gegangen sein.
Dass Sie so sehr in Anspruch [4]
genommen waren durch Krankheit und
Leiden Anderer, und so betrübt und
geängstiget um Ihre geliebte Schwester
konte mir nicht einfallen.
Gott sei Dank dass es vorüber und
gut vorüber gegangen ist.
Manche Menschen scheinen dazu geboren
zu sein, Anteil zu nehmen an den
Schicksalen und Leiden Anderer und
dazu scheinen auch Sie bestimt.
Denken Sie sich einen Menschen, der
sein Kreuz mit Geduld und das Leiden
Anderer mit Teilnahme und selbsttätiger
Hilfe ertrug, und einen Menschen, dem
das Dasein nur Freude und [5] Genuss
war, in der letzten Stunde. –
Welch ein Trost dem Einen! welche Angst
und Betrübniss dem Anderen!
Da habe ich ein fast 100 Jähriges
nicht mehr schönes und nicht mehr
ganzes, aber überaus erbauliches [6]
Gebet Buch, es gehörte einst der Frau
Maria E. Brügger geborene Hemmy
von Churwalden, da finde ich eine
Stelle aus einer [7] Schrift [8]
dess heil. Bernhard [Bernhard von Clairvaux], wie folgt:
/: Seiest Du auch wer Du wollest, wenn
Du merkest, dass Du im Laufe dieses
Deines Lebens auf der Erde, mehr
zwischen den Stürmen und Ungewittern
wie auf einem Meer herum schwimmen
must, als auf dem Lande gehen,
wende Dein Auge nie von diesem Stern
ab /: Maria, Meeres Stern :/ wenn Dir
daran liegt, dass Dich die Wellen nicht
fortreissen oder bedecken. Geratest
Du in die Klippen der Wiederwärtig-
keiten, siech hin auf Maria. Wenn
Du in Trauer und Bangigkeit, ruf
Maria an. Lass Maria nie aus Deinem
Sinn, gar nie aus Deinem Herzen. –
Sie schreiben mir vom letzten
ausgezeichnetem Weinjahr, ähnlich [9]
dem 11er vor 100 Jahren und schon
alles verkauft. Das macht neuen
Muth zum weiteren Betrieb.
Wie fast überal war auch hier ein
ungewöhnlich warmes und trockenes
Jahr. Zum 30t. Aprill hatten wir starken
Frost, der die jungen Triebe sehr schädigte
stellenweise vernichtete. Der Mai kam
warm und wärmer und trocken den ganzen
Monat. Reben, Bäume und Sträucher
entwickelten sich prächtig, und zeigten
viele Fruchtscheine. Alles spritzte
mit Eifer, nur ich nicht. Ich bereitte
mich zwar vor, aber das Material liegt
noch da. Ich machte es so vor 10 Jahren
1901. Alles spritzte, nur ich nicht in
der Erwartung eines dürren Sommers.
Und so gieng es diessmal. Ich erntete
so gut wie die Anderen, keine Fäule
kein Wurm. Die Menge war gross
Qualitat unter erwarten, und da
alle Baumfrucht im Ubermass vorhanden
war, so dass in unserer Umgegend [10]
hunderte von Apfel und Pfirsichbaume
unter ihrer Last brachen, waren die
Märkte überfüllt und Preise gering.
Das Trauben schneiden besorgen die Frauen
und die verlangen $ 1 ¼ das sind 5 Mark pr
Tag und Männer zum tragen $ 1 ½ = 6 M.
Der erste Versand der Trauben geschah am
15t. August und dauerte bis Ende. Bis zur
2t. Woche dess September war Alles abgenommen.
Die Vögel waren unerträglich, sie leerten
ganze Stöcke, und zum pressen hätten wir
sie noch gerne 14 Tage hangen lassen, und
doch waren wir am Ende froh, dass wir sie
abgenommen, den nach Mitte Septbr änderte
das Wetter. Die Sonne nur auf kurze Zeit
gewöhnlich erst gegen Abend, sonst Regen,
Sturm und Nebel. Das Abkratzen
der Stöcke, können wir hier nicht mitmachen.
Wie ich früher schon gelesen, muss diese
Arbeit um wirksam zu sein, ganz
früh im Frühjahr, und besser noch zur
Winterszeit geschechen. Wir könnten nicht
unter $ 2.- pr Tag dafür Leute bekommen. [11]
Da würden wir besser, Korn und
Kartoffeln pflanzen. In unserer Gegend
war die Kornerndte gering. Kartoffeln
bis zum Herbst so wenig, dass man, wie
sonst ½ bis ¼ Doller pr Bushel [12] $ 3.-
bezalte. Dan im October und November
kamen Kartoffeln von Minnesota und
Dakota herunter, und brachten die Preis
auf 80 Cents pr. Bushel. Heu gab es nichts,
alle Viechweiden dürr, und die Bauern
sehr besorgt um ihr vieles Viech. Aber
im September und October gab es in
Feldern und Wiesen Gras, wie ich es in 60 Jahren
nie gesechen. Sie fragen: ob es auch
Arme bei uns gebe? Die Land-Be-
völkerung kennt Armut nicht. Wenn
sich da welche arm fühlen, so ist es nur
weil sie nicht überflüssig haben. Wirkliche
Noth gibt es da nicht. Findet zur Seltenheit
eine Famielie sich im Notstand, so wird ihr
sogleich geholfen. In den grossen
Städten aber, da macht sich Reichtum neben
Elend breit. [13]
Da sind sehr grosse Miethäuser, vom Keller
bis unter [14] das Dach, mit Menschen
angefüllt, die alle von der Hand in den
Mund leben. Wen da Arbeitslosigkeit
Krankheit und dergleichen kommen, so ist das
Elend da. Nicht selten liesst man von
Verhungerten, oder Famielien, die daran sind
dem Hunger und der Kälte zu erliegen.
Findet man sie noch zur Zeit, wird sogleich
geholfen, aber mancher Notstand verbirgt
sich. Wie Wärme und Trockenheit überal
vorherschten, so [15] scheint auch die
Verteurung aller Lebens-Bedürfnisse
allgemein zu sein. Auch in Amerika, dem
Lande des Überflusses, sind alle Lebens-
Bedürfnisse 2 und 3 mal höcher als frücher.
Oft wundere ich mich wie eine Arbeiter-
Famielie mit 5-6 Personen, selbst beim
besten Lohn, sich aufrecht halten kan,
bei diesen Preisen, hochem Hauszins und
allen Zufälligkeiten dess Lebens. [16]
Was mich selbst betrift, so bin ich noch regsam
genug. Im Felde schaffe ich noch gerne und
gut, im Keller aber bin ich nichts mehr,
und darum verkaufe ich auch den grössten
Teil meiner Trauben. Die weissen Trauben
presse ich für den Keller, und da lagert der Wein
und geht nur nach und nach ab. Ihr
seid glücklicher als wir hier.
Alle die Meinen hier sind zur Zeit gesund
und gut gestellt, und danken Ihnen
für Ihre freundliche Erinnerung ihrer, und
Ihrer Glückwünsche.
Unser Wetter bis jetzt. Der November
war der Unangenehmste, den wir kennen
Regen, Sturm und Kälte. Der Deccember
war recht nett. Der Januar aber
brachte grosse Kälte. Bei uns stand
der Termomether von 0 bis auf unter 24 unter 0
Fahrenheit, und je mehr nach Norden
desto tiefer bis zu 40 Grade unter 0. [17]
Das Jahr 1912
Was wird es uns wohl bringen?
Nehmen wir’s, wie’s Gott uns schickt
Nach Seiner Wahrheit heiligem Willen.
Wenn kalter Nebel, der Seele Hoffen trübt
Verzaget nicht: es strahlt die Sonne wieder
Und wenn Geistes Dürre Kraft und Wille lähmt
Verzaget nicht! Gott giebt Tau der dürren Flur
Und belebt die Hoffnung wieder
Mag kommen was da will
Haltet aus in Gottes Lieb
dass, wen im Tod das Aug erlischt
Auf steig die Seel in Himmels Licht.
Hoffend, dass Ihre geschwächte Gesundheit
in frischer Bergluft und Ruche sich wieder
kräftige, und dass Ihre geliebte Schwester in
ungestörter Gesundheit Ihnen zur Seite steche
bitte auch Ihrem Herrn Bruder [Egon Rheinberger] und Frau [Aloisia Maria Rheinberger [-Schädler]] und Kind [Hans Rheinberger]
und der Bertha [Schauer] meinen Gruss, und Dank für
Ihr Briefchen zu melden.
A. Rheinberger