Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Masescha, an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]
19.12.1911, Masescha
Lieber Herr Vetter!
Nun musste ich
ein ganzes Jahr wol undankbar,
furchtbar undankbar sein.
Aber dieses Jahr „1911“[2] gehörte eigent-
lich nicht mir an, das heisst, ich ver-
mochte nicht ganz darüber zu verfügen,
es war angefüllt mit Arbeit, Kummer
u. Sorge, – Gott sei Dank, – es ist
vorüber. –
Ich bitte von Herzen, mir nicht zu
zürnen, lieber Herr Vetter, ich habe dieses
so lange, lange Nichtbeiihnensein-
können vielleicht mehr entbehrt, als
Sie selbst. Und freudig aufgeleuchtet
hat es in mir, als ich vor 2 Tagen [3]
Ihre freundl. Sendung (von Ihnen):
„Souvenir Folding“, jene interessan-
ten Ansichten vor 50 Jahren u. jetzt
vom „North West“ bekam; Gott Lob
dachte ich, nun ist er gesund, als
ich Ihre liebe, immer noch so ausser-
gewöhnlich schöne Schrift sah.
Haben Sie herzlichen Dank, lieber Herr
Vetter für diese Freundlichkeit. –
Es ist wol zu staunen, was "kühner
Menschen regen Geist", wie Sie treffend
sagen in 50 Jahren zu stande ge-
bracht. –
Und jetzt, lieber H. Vetter möchte ich
Sie, mit einem warmen Gruss aus der
Heimat, zuerst bitten, mir zu sagen,
wie es geht u. wie es ging, seit
wir uns zuletzt gesprochen? [4]
Ich dachte Ihrer in Treuen u. sah Sie
im Geist u. Herzen oft, sah Sie im
Sommer beschäftigt an Ihren Weinreben,
mit denen Sie diesen Herbst voraussicht-
lich recht befriedigt sein durften. –
Die Vaduzer Weinernte erfreute dies Jahr
fast jedes [5] Haus, die glühende
u. beharrliche Sommersonne gefiel den
Reblein wol sehr u. trotz fast gänzlich
verregneter Blüte war die Ernte eine
noch recht, recht gute u. die Nachfra-
ge nach unserm feurigen Tropfen Va-
duzer, eine man kann sagen, noch kaum
dagewesene. – In kurzer Zeit war Vad-
uz mit „weiss u. rot“ vollständig aus-
verkauft, manch ein Käufer musste
so gar noch leer ausgehen, so froh
er gewesen, nur noch von dem Weiss-
wein zu bekommen. Auch der Preiss stellte [6]
sich diesen Herbst etwas besser: Weiss-
wein 44 Heller [7], der rote 80-85 Heller [8]. –
Wie verkauften Sie ihn? – Müssen
Sie den Sommer durch auch so viel Kupfer-
vitriol anwenden, wie wir? – Es ist
dies ein recht leidiges, umständliches
u. kostbilliges Ding. – Überhaupt
muss zum guten Werden des Rebensaftes
der liebe Gott sein Wollen geben, sonst
ist Alles Mühen u. Plagen dabei ver-
gebens, was wir im Jahre „1910“ so
tief empfinden musste, wo [9] Vaduz
bei schier ununterbrochenen Regen
während des Sommers, so viel auf
die Weinberge zahlen musste. –
Hat man bei Ihnen diesen Frühling
auch mit dem neuen Kunstkniff der
Rebenbürsterei versucht? – Bei uns
wurde (die Rinde des Weinstockes) [10]
gebürstet u. dabei geschimpft in die Wette.
Man hoffte mit dieser gewaltigen Bürsterei [11]
den Sauerwurm abzuhalten, man
hätte jedoch dabei auch annehmen können,
dass mit der Gründlichkeit, mit wel-
cher dieses mitunter geschah, nicht nur
dem Sauerwurm, auch dem Rebstock
Leib u. Leben genommen werden könnte,
denn vielleicht würden es auch wir
Menschlein nicht aushalten, wenn man
uns die Haut abzöge? –
Glücklicher Weise aber scheint ersterer eine
etwas dickere Haut u. auch mehr als
zwei Augen wie wir zu besitzen. –
Doch scheint es heute fast, nicht wahr,
als bliebe ich beim Weinstock stecken. –
Ich höre u. sehe jedoch auch so un-
säglich viel von ihm das ganze Jahr,
dass ich mich hie u. da fest zusammen-
nehmen muss, den vielen Mühen u. Nö- [12]
ten, die er bringt, stand zu halten. – Die
Bearbeitung der Weinberge ist bei uns auch
so erschwert die letzten Jahre, dass man
[13] oft kaum weiss, wo die Arbeiter
dazu hernehmen, ja es kommt vor, dass man
vergebens von Haus zu Haus eilt im
ganzen Dorf, um eine Arbeitskraft
für den andern Tag.
Nun aber zu den „Rotenhausern“ zu-
rück. – Wie ist es ihnen ergangen? –
Schlecht u. gut, lieber Herr Vetter!
Der Winter, er war gut, wir ver-
brachten ihn hierheroben auf Masescha
in unserm, alten einfachen u. einsamen
Bauernhaus. –
Der Frühling jedoch brachte so Verschiedenes,
eine Menge von Sorge, Angst u. An-
strengungen. – Zuerst erkrankte eine
alleinstehende Base (ein Geschwister-
kind unsrer lb. Mutter [Theresia Rheinberger [-Rheinberger]]. Sie hatte [14]
schwere Lungenentzündung u. war
ganz allein im Hause, so dass wir uns
abwechselnd Tag u. Nacht in der Kranken-
pflege teilten. – Diese Base war noch
nicht wieder hergestellt, als unsre lb.
Schwester Olga [Rheinberger] sich plötzlich einer
grossen Operation unterziehen musste. –
Es hatte sich bei ihr eine furchtbare
Geschwulst in der Bauchhöle gebildet. Sie
hatte freilich schon seit Jahren darunter
gelitten, das heisst ohne es zu wissen u.
der Arzt sagte vor 2 Jahren bei deren
Entdeckung (Olga war kaum zu einem
Arzte gegangen vorher) es würde d. Geschwulst
nichts machen, wenn sie nicht wachse.
Dann aber auf einmal wuchs diese erschre-
ckend u. ein Spezialist in Zürich unter-
nahm die Operation im dortigen Theodo-
sianum. – Ich war mitgegangen nach [15]
Zürich. – Dann folgten Tage, deren Trag-
weite Gott im Himmel allein weiss. –
Heute noch weiss ich kaum, wie ich diese
Tage überwunden. Doch ich weiss es, mit
blutendem Herzen. – „Leben, od. Tod?“ zitterte
es beständig in mir u. die Tage nach [16] der
Operation waren fast ebenso sorgen-
schwer, als diejenigen vorher, denn man
musste für die Darmtätigkeit fürchten.
Meine Schwester litt entsetzlich u. ich mit
ihr. – Doch hat es der liebe, gute Gott
im Himmel gnädig gelenkt, nach 8
Tagen durfte ich heim u. binnen 3 Wochen
kam auch unsere lb. Olga wieder nach
Hause, noch etwas schwach, aber sonst
schön couriert u. munter. – Im Laufe
des Sommers [17] erholte u. stärkte
sie sich gänzlich, nur war ich noch
darauf bedacht, sie möglichst noch zu [18]
schonen, infolge dessen vernach-
lässigte ich auch meine Correspondenz,
denn ich hatte diesen Sommer u. Herbst viel
viel Arbeit zu bewältigen. –
Deshalb, lb. Herr Vetter, verzeihen Sie
mir, ich bitte, doch recht sehr, dass ich
so lange nicht zu Ihnen kam. –
Wir haben jetzt auch zwei Haushal-
tungen im roten Haus, im obern Stock
unser Bruder [Egon Rheinberger] mit Frau [Aloisia Maria Rheinberger [-Schädler]] u. Söhn-
chen [Johann (Hans) Georg Rheinberger], im untern Olga u. ich. Olga
(die grosse Freude an den Weinbergen
hegt) übernahm vor fast 2 Jahren
bei der Hochzeit unsrers Bruders sämmt-
liche Weinberge, das heisst deren Verwal-
ung. – [19] Und dann ist unsre Schwä-
gerin nicht von stärkster Natur, so-
dass die Obhut ihres Söhnchens viel
uns anvertraut ist. Ein herzig‘ [20]
strammes Kerlchen ist er, 10 Monate alt.
Ich schicke Ihnen nächstens sein Bildchen.
Während ich Ihnen hier schreibe, kommt
die Post nach Masescha u. zwar mit
einem lb. Paketchen aus – Amerika.
Ihr lieber, freundlicher Kalender kam.
Auf den freuen wir uns Alle jedesmal
sehr, er hat so schönen u. reichen
Inhalt. – Nehmen Sie Dank, 1000 Dank
lieber Herr Vetter für die uns allen be-
reitete Freude, die Sie nun schon so
viele Jahre immer wieder u. in so liebens-
würdiger Weise erneuern. –
Und wie geht es Ihren lieben Kindern u.
Grosskindern allen? – Wir hoffen, recht
recht gut. – Gewiss suchten Sie verschie-
dene davon binnen des Jahres heim, wie
wird sich da allemal Ihr Vater- und Gross- [21]
vaterherz an den grossen u. kleinen Kinder-
chen sonnen! – Sagen Sie Allen u. jedem [22]
einzelnen einen Herzensgruss von Vaduz.
Christkindchen segne Ihre ganze liebe Fa-
milie gross u. kleine für’s ganze Jahr
„1912“. –
Wie wird das erst ein Weihnachts-
segen u. ein hohes, heilig Glück für
unsre lb. Vorausgegangenen im Himmel
sein u. wie unaussprechlich werden sie
sich da oben freuen, dass sie ein Leben
für Gott gelebt, dass sie sich nicht scheu-
ten die Erdenkreuzlein mutig auf die
Schultern zu nehmen für Gott. –
Nicht wahr, lieber Herr Vetter, wenn man
den lieben Gott recht u. wahrhaftig
lieb hat, muss man gerne für ihn leiden.
Es ist dies ein Punkt für mich, der
mir immer Kämpfe verursacht, statt willig [23]
u. schnellbereit, hat der liebe Gott da immer
wieder Schwierigkeiten mit mir u. wenn immer
möglich suchte ich seinem Stöcklein zu ent-
gehen u. dies sonderbarerweise, trotzdem ich
weiss, wie notwendig u. wohlverdient es mir
ist, trotzdem ich fast von Kindheit an
gewöhnt bin, die Leidensweglein zu gehen. –
Es war nicht schön, nicht gut gewesen,
lieber Herr Vetter, was ich von dieser
armen, armen Erde gehört u. gesehen, das
heisst, ich hatte vielleicht mehr ihre
Schatten- als ihre Lichtseiten kennen ge-
lernt, auf dieser armen Erde vielleicht
mehr gelitten, als viele andere Menschen-
kinder u. desshalb [24] kam es mir
nicht schön, nicht gut vor. –
Wenn mich der liebe Gott hiesse mein
Leben, die gleiche Bestimmung noch
einmal zu beginnen, dann würde
ich ihn bitten: lieber, grosser Gott [25]
dann gieb mir einen eisernen [26] Stab, dass ich
ein besser Leben zu leben vermag u. gieb
mir mehr Liebe zum Kreuze. –
Sie schrieben mir über diesen Punkt vor
1 od. 2 Jahren einmal ein Brieflein, das
ich heute noch habe, das ich aber zu
wenig wiederlese, – sonst müsste ich
eine willigere u. tapfere Kreuzesträgerin
sein. –
Bei dem lieben Christkindlein, nicht
wahr, lb. H. Vetter, wollen wir ge-
genseitig für unsre Seele beten, ja
von ganzem Herzen möchte ich Sie
bitten, mir bei dem Göttlichen, lieben
Jesulein ein Ave-Maria zu schenken.
Gott lohne Ihnen das!
Seit Ende November sind wir dies Jahr
wieder auf Masescha, diese reine
kräftige Bergesluft (Masescha ist [27]
1290 Mtr. hoch) mag Olga, wiewol sie
sonst, Gott Lob, wieder gesund, doch
gut tun nach d. überstandenen, schweren
Operationstagen. Und mein Husten lässt
mit der Zeit vielleicht auch nach hier he-
roben. Ich huste immer noch etwas, aber
man darf bald annehmen, dass dies eine
ungefährliche Husterei, nach den Lei-
stungen u. angestrengten Arbeiten dieses
Jahres, die vielleicht nicht Jeder ausgeführt.
Masescha ist uns ein ideales, liebes, liebes
Plätzchen, das ganze Jahr freut man sich
darauf. – Als Kinder schon, während
16 Sommer sind wir mit den Eltern da
herauf gekommen u. so ist es eigentlich
zur zweiten Heimat geworden. –
Es liegt ganz, ganz einsam (die
Frl. Schauer [Marie Schauer, Bertha Schauer, Ida Schauer] wohnen fast ¼ Stündchen
weiter unten), aber gerade diese Einsam-
keit, dies ein Weilchen ohne Menschen- [28]
leben tut so unaussprechlich wol. –
Und dann nahmen wir diesmal einen
Freund mit herauf, ein Klavier. – Wir
haben die edle Musika sehr gerne u.
spielen viel 4 händig, u. der Gesang
ist mir eine grosse, grosse Freude.
Ihre Tochter Anna, nicht wahr, die
sang u. singt gewiss jetzt noch
sehr schön. –
Freilich müssen Olga u. ich diesen
lb. Klavierfreund ein wenig büssen,
2 Jahre dürfen wir nun nichts mehr
zu Weihnachten dafür bekommen. Wir
machten es uns gegenseitig zum Weih-
nachtsgeschenk für 2 Jahre. – Das sehr
gute Instrument, das wir unten in
Vaduz haben (es ist das letzte von
Componist [Josef Gabriel] Rheinberger) konnten wir nicht
da herauf nehmen u. weil wir daheim
unten fast nie Zeit zum Spielen haben, [29]
machten wir uns die Freude für hier
heroben eines anzuschaffen, freilich
nur ein altes, billiges zu etwa 560 frs. [30],
während ein neues Gutes bei uns schon
auf ungefähr 1400 frs. [31] kömmt. –
In 5 Tagen kommt schon das
liebe süsse Jesulein auf die Erde nie-
der. – Ausser dem hochheiligen, ist es
eigentlich auch ein Fest der Wohltaten.
Giebt es bei Ihnen auch so viele, viele
arme Menschenkinder? die mit unend-
lichem Dank im Herzen die kleinste der
Weihnachtsgaben entgegen nehmen? –
Unser Onkel Componist Rheinberger
machte eine Stiftung für Weihnachten
in seine Heimatsgemeinde Vaduz,
das reicht jedoch nicht, nur gebürtige
Vaduzer sollen davon beziehen,
während in Liechtenstein – ach [32]
wie viele Menschenherzen noch [33]
weinen, besonders auch hier heroben
unter dem Bergvolk. – Die Frl. Schauer
sind in rührender Emsigkeit beflissen
mit Strümpfestricken, Hemdchen- u. Röck-
chennähen u. allerlei Gutem auf Weih-
nachten zu helfen u. zu lindern. Olga
u. ich sind natürlich auch nicht ganz
müssig, – aber – mein Gott – es reicht
nicht – mein Geldbeutelchen ist heroben
(aber nicht etwa durch Wohltaten) leer
geworden bis auf etwa 15 Kreuzer [34].
Ich sagte neulich: „wäre, dürfte ich
doch nur ein paar mal im Jahr
Fürst Liechtenstein sein“, nur um dem
grössten Elend u. Armut da u. dort steuern
zu können. – Aber unser liebe Landes-
vater Fürst [Johann II. von] Liechtenstein ist eigentlich
„Armenvater“, ich glaube so viele Werke
der Barmherzigkeit geschehen nur [35]
selten durch andere reiche Menschen-
herzen. – Jedoch so ungeheuerlich viel er
auch tut sogar an Mithilfe, oder ganz ei-
genem Vermögen bei Kirchenbauten u. an-
dern grossen Unternehmungen, bleibt
doch immer noch des Jammers u. Elends
genug an Privaten-Armen [36].
Liebes, göttliches Christkindlein sorge
Du für sie u. gewinne ihnen erbarmende
Herzen! –
Und nun behüte Sie Lieben alle in Ame-
rika das Göttliche Herz Jesu u.
das heiligste Herz Marie! –
Von den 3 Frl. Schauer schrieb Ihnen
Berta die letzten Tage wohl selbst. –
Wir grüssen Sie mit dem
Grusse der Treue /
als Ihre Ihnen
zugetanen
Olga u. Emma Rheinberger.