K.k. Gewerbeinspektor Hubert Stipperger erstattet Bericht über die liechtensteinischen Textilfabriken


Handschriftliches Schreiben des k.k. Gewerbeinspektorates für Vorarlberg, gez. Hubert Stipperger, an die liechtensteinische Regierung [1]

20.3.1909, Bregenz

Zufolge des im kurzen Wege erhaltenen Auftrages [2] beehre ich mich, einen Bericht über die Inspektion der drei im Fürstentum bestehenden Fabriksunternehmungen [3] ergebenst zu unterbreiten.

Verwendung der Arbeiter

Wie aus den Beilagen [4] ersichtlich, wurden in den drei Textilfabriken 205 männliche und 443 weibliche, zusammen also 648 Arbeiter verwendet, unter welchen sich 43 Jugendliche, und zwar 14 männliche und 29 weibliche befanden.

Eine Verringerung der normalen Arbeiterzahl ist in der Weberei in Triesen zu verzeichnen; diese Verringerung findet zum Teil in der Einführung neuer maschineller Einrichtungen, welche die Bedienung der Webstühle vereinfachen, ihre Ursache.

Arbeitszeit

Die Arbeitszeit betrug in zwei Fabriken wie bisher täglich 11 Stunden; in Triesen wurde bereits zu Beginn des Jahres der 10 Stunden Tag eingeführt; dagegen wurde den Arbeitern in den Betrieben zu Mühleholz und Vaduz die 11. Stunde durch einen entsprechenden Lohnaufschlag separat vergütet.       

Unfälle

Die Zahl der Unfälle, welche seitens der Fabriken angezeigt wurden, beträgt nur 3 und sind dieselben leichter Natur.

Arbeiterschutz

Die in schutztechnischer und hygienischer Beziehung erforderlichen Massnahmen und Herstellungen, welche den Unternehmungen noch aufzutragen wären, sind in den Beilagen besonders hervorgehoben.

Kesselhäuser

In baulicher Hinsicht ist zu bemerken, dass in sämmtlichen drei Fabriken die Kesselhäuser sehr ungünstig, ganz gegen die für derartige Anlagen aufgestellten Normen angelegt sind.

Die Kesselhäuser der Webereien in Mühleholz und Triesen sind überbaut und befinden sich in den darüberliegenden Geschossen Betriebsabteilungen, in welchen sich Arbeiter zeitweise aufhalten.

Die Dampfkessel der Spinnerei in Vaduz befinden sich in einem kellerartigen, überwölbten Raume, welcher nur durch eine nach abwärts führende Stiege zugänglich ist und dessen Decke unter dem Niveau des Hofes liegt. Ein Entrinnen des Wärters im Falle einer Kesselhavarie ist hier fast ausgeschlossen.

Es konnte bisher nicht ermittelt werden, ob die beschriebenen Kesselanlagen mit Wissen der Aufsichtsorgane errichtet wurden und ob die Unternehmungen für dieselben einen Benützungskonsens besitzen, weshalb der Gefertigte sich darauf beschränkte den Fabriksleitungen nahe zu legen, bei vorkommenden Veränderungen oder Erweiterungen die Übelstände in den Kesselanlagen zu beseitigen.

Um aber eine Verbesserung dieser Anlagen in absehbarer Zeit herbeizuführen, könnte ohne weiteres das Verbot erlassen werden, dass in den gegenständlichen Kesselhäusern neue Kessel nicht mehr zur Aufstellung kommen dürfen, welches Verbot sich auch auf einen Kesselwechsel bei Ablauf der Lebensdauer der derzeit vorhandenen Dampfkessel erstrecken sollte.

Arbeits-Ordnungen

Aus den Bemerkungen, welche zu den Arbeits-Ordnungen der drei Betriebe gemacht wurden, geht hervor, dass einerseits einzelne Bestimmungen für die genaue Festlegung des Arbeitskontrakte fehlen (Arbeitszeit, Sonntagsruhe, Minimalalter, Zahltag, Lohnabzüge und Unfallversicherung) andererseits den Arbeitgebern zu grosse Rechte gegenüber den ohnedies wirtschaftlich schwächeren Arbeitnehmern eingeräumt sind, welche Rechte über die durch die Gewerbe-Ordnung beschriebenen Verbindlichkeiten hinausgehen.

Besonders sind in die Arbeitsordnung der Weberei in Triesen eine Reihe von Bestimmungen aufgenommen, welche zu grosse Härten beinhalten.

Da nun die Gewerbe-Ordnung [5] demnächst novelliert [6] werden soll, würde sich hiebei ein geeigneter Anlass bieten, die Arbeitsordnungen einer entsprechenden Umarbeitung zu unterziehen.

Krankenversicherung

Ebenso wären bei Einführung eines Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes die Krankenkassen gründlich zu reorganisieren; insbesondere aber die Leistungen zu erweitern und zwischen den einzelnen Kassen auszugleichen, das Verhältnis zu den Ärzten neu zu regeln, eine Berufungsinstanz in Streitsachen zu statuiren und der Regierung einen grösseren Einfluss auf die Verwaltung der Kassen zu wahren.

Die vorstehenden Ausführungen enthalten gewissermassen ein Programm über die in den drei Etablissements noch durchzuführenden gewerbepolizeilichen und sozialpolitischen Massnahmen.

Aus demselben ist ersichtlich, welche Anordnungen sogleich zu treffen wären und welche bis zur Abänderung beziehungsweise Ergänzung der Arbeiterschutzgesetze aufgeschoben werden könnten.

Sollte jedoch eine dementsprechende Gesetzgebung für die nächste Zeit nicht zu erwarten sein, so würde es sich empfehlen, sogleich an die Revision der Arbeitsordnungen und Krankenkassenstatuten zu gehen. [7]

Für den Gewerbe-Inspektions-Dienst:

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[1] LI LA RE 1909/0545 (Aktenzeichen des Gewerbeinspektorates: 65). Eingangsstempel der Regierung vom 22.3.1909. Handschriftlicher Vermerk: "Fabriks-Inspektion Termine: Ende August 1909".  – Seit 1886 arbeitete das k.k. Gewerbeinspektorat für Tirol und Vorarlberg auch für Liechtenstein. Einem entsprechenden Ersuchen der liechtensteinischen Regierung an das k.k. Handelsministerium war im Dezember 1885 stattgegeben worden. – Vgl. auch den Bericht des k.k. Gewerbeinspektorates vom 27.6.1912 (LI LA RE 1912/1766).  
[2] Hiezu kein Dokument aufgefunden.
[3] Es handelte sich um die Baumwollweberei der Gebrüder Rosenthal AG im Mühleholz (Vaduz), die Baumwollspinnerei der Firma Jenny, Spoerry & Cie in Vaduz und die Baumwollweberei der Firma Jenny, Spoerry & Cie in Triesen. 
[4] 3 Beilagen unter LI LA RE 1909/ad 0545
[5] Gewerbeordnung vom 16.10.1865, LGBl. 1865 Nr. 9.
[6] Vgl. den Bericht der Gewerbekommission (Berichterstatter Albert Schädler) an den Landtag vom Dezember 1909 zur abgeänderten Regierungsvorlage für eine neue Gewerbeordnung (LI LA LTA 1909/L01), das Gesetz vom 30.4.1910 betreffend Erlassung einer neuen Gewerbeordnung, LGBl. 1910 Nr. 3, sowie das Referat von Hubert Stipperger, inzwischen k.k. Gewerbeinspektor in Innsbruck, vom 19.6.1910 über die neue liechtensteinische Gewerbeordnung (LI LA RE 1910/1196 ad 0873).
[7] Hinsichtlich der den Fabriksleitungen in der Folge auferlegten Vorkehrungen und Massnahmen vgl. etwa das Schreiben der Gebrüder Rosenthal an die Regierung vom 30.9.1909 (LI LA RE 1909/1637 ad 0545).