Die fürstliche Kabinettskanzlei ersucht die Gesandtschaft in Bern um inoffizielle Sondierungen zwecks Übernahme der liechtensteinischen Interessenvertretung in Prag durch die Schweiz


Maschinenschriftliches Schreiben des fürstlichen Kabinettsdirektors Josef Martin, gez. ders., an den liechtensteinischen Geschäftsträger in Bern, Emil Beck [1]

24.7.1923, Schloss Sternberg [2]

Prager Interessenvertretung

Hochgeschätzter Herr Legationsrat!

Durch Vermittlung eines bekannten Ökonomieoberbeamten wurde mir kürzlich eine Unterredung mit dessen Vetter, dem Schweizerischen Generalkonsul in Prag, Herrn [Gerold F.] Déteindre, [3] herbeigeführt.

Im Verlauf des Gespräches wurde auch die Frage einer fürstl. Interessenvertretung in Prag berührt. Ich habe das Stadium, in welchem sich die Angelegenheit befindet, sodann im blg. Memorandum [4] kurz skizziert.

Im Gegenstande habe ich Ihren Durchlauchten dem Landesfürsten [Johann II.] und Prinzen Franz sen. [von Liechtenstein] vorgetragen und haben Höchstdieselben, sowie der fürstl. Herr Regierungschef [Gustav Schädler], mit welchem ich kürzlich in Wien gesprochen, den Standpunkt vertreten, dass vielleicht doch, nachdem eine zustimmende Antwort auf die Verbalnote der fürstl. Regierung vom Februar 1922 [5] an das Prager Ministerium des Äusseren kaum mehr zu erwarten ist, mit Rücksicht auf die geänderten Verhältnisse die Wiederaufnahme der Frage einer Übernahme durch die Schweiz in Erwägung gezogen werden könnte. [6]

Im Höchsten Auftrag ersuche ich Sie, sehr geehrter Herr Legationsrat, im Sinne des Schlussabsatzes meines Memorandums in dieser Hinsicht inoffiziell in Bern zu sondieren.

Sollten Sie hiebei den Eindruck gewinnen, dass der geeignete Zeitpunkt zu einer Übernahme durch die Schweiz noch nicht gekommen, müsste an dem Projekt einer Akkreditierung Ihrer werten Person festgehalten werden. Nur erschiene es sehr vorteilhaft, wenn dann die fallweise Vermittlerstelle in Prag, welche Justizrat Dr. [Victor] Kaplan zugedacht war, das Schweizerische Generalkonsulat, wenn dies nicht angängig, Herr Generalkonsul Déteindre oder wenn dies mit Rücksicht auf dessen Rang nicht opportun erschiene, sonst ein Organ des Generalkonsulates übernehmen würde. Eine Klärung des Berner Standpunktes in dieser Hinsicht – siehe vorletzten Absatz meiner Darstellung – könnte sich vielleicht der vorstehend angegebenen Sondierung dann anschliessen, wenn diese ein negatives Ergebnis zeitigen sollte.

Beifügen möchte ich noch, dass die Sondierungen Ihrerseits streng vertraulich zu erfolgen hätten, weil sonst immerhin mit einer event. Durchkreuzung unserer Pläne in Prag durch Justizrat Dr. Kaplan gerechnet werden müsste.

Eine Abschrift meiner Zeilen sende ich unter einem dem fürstl. Herrn Regierungschef ein.

Indem ich um baldige Bekanntgabe Ihrer Wohlmeinung bwz. des Ergebnisses der von Ihnen unternommenen Schritte bitte, [7] bin ich mit dem Ausdrucke besonderer Wertschätzung

Ihr ergebenster

fürstl. Kabinettsdirektor.

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[1] LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der fürstlichen Kabinettskanzlei: Präs. No. 55/5. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern, wo das Schreiben am 1.9.1923 registriert wurde: 873).
[2] Als Postadresse wurde angegeben: „Wien I. Minoritenplatz 4, von wo die Dienstpost täglich nachgeschickt wird".
[3] 1921-1927 Schweizer Honorar-Generalkonsul in Prag.
[4] Liegt nicht bei, nicht aufgefunden.
[5] Vgl. den Entwurf A der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern für eine Verbalnote der liechtensteinischen Regierung an das tschechoslowakische Aussenministerium, welcher am 3.2.1922 der liechtensteinischen Regierung sowie der fürstlichen Kabinettskanzlei zugesandt wurde (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Gesandtschaft in Bern: Beilage zu Zl. 135 und 136)). Darin wurde von der liechtensteinischen Regierung "ins Auge gefasst", eine Gesandtschaft in Prag zu errichten und Emil Beck mit dieser Mission zu betrauen. Wie aus dem Schreiben von Kabinettsdirektor Josef Martin an Emil Beck vom 11.4.1922 hervorgeht, wurde die Verbalnote von der liechtensteinischen Regierung Mitte Februar 1922 an das Aussenministerium in Prag gerichtet (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei: Ad No. 12/5. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern: 431)). Im Schreiben von Martin an die liechtensteinische Regierung vom 9.2.1923 wurde die Verbalnote auf den 2.2.1922 datiert (vgl. LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei: No. 55/2. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern: 153 Blg. 2)), ebenso im vertraulichen Ergänzungsschreiben von Martin vom selben Tag (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei: Ad No. 55/2. Aktenzeichen der Gesandtschaft in Bern: 153a).
[6] Das Schweizerische Politische Departement hatte im Juli 1921 die liechtensteinische Interessenvertretung in Prag wegen der ablehnenden Haltung der tschechoslowakischen Regierung nicht übernehmen wollen (vgl. das Schreiben des liechtensteinischen Geschäftsträgers Beck an die liechtensteinische Regierung vom 28.7.1921 (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Gesandtschaft in Bern: 998/21))).
[7] Im Auftrage der liechtensteinischen Regierung unterbreitete Geschäftsträger Beck mit Note vom 22.9.1923 dem Eidgenössischen Politischen Departement die Frage, ob es sich bereit finden würde, die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in Prag in der gleichen Weise zu übernehmen, wie dies bereits in den übrigen Staaten geschehe (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Gesandtschaft in Bern: 966)). Das Eidgenössische Politische Departement teilte der liechtensteinischen Gesandtschaft mit Note vom 11.10.1923 mit, dass der Schweizer Bundesrat beschlossen habe, dem Ansuchen zu entsprechen. Es fügte an, dass in der Regel alle Vertretungsaufträge der liechtensteinischen Regierung dem Politischen Departement abzugeben seien, welches in jedem Einzelfall dem schweizerischen Generalkonsulat in Prag die notwendigen Anordnungen erteile. Nur in sehr dringlichen Angelegenheiten, die keinen Aufschub gestatten, könne ausnahmsweise die fürstliche Kabinettskanzlei direkt an die schweizerische Vertretung in Prag das Ersuchen zur sofortigen Inschutznahme bedrohter Interessen und zur Vorkehrung zweckmässiger Massnahmen stellen (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen des Politischen Departements: B 23/1 Liecht.2/1 – FI. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern: 1070)). Eine entsprechende Mitteilung seitens der Gesandtschaft an die liechtensteinische Regierung erging am 23.10.1923 (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 1091)). Hingegen unterblieb vorläufig eine Benachrichtigung der tschechoslowakischen Regierung durch die Schweiz; diese erfolgte erst im Oktober 1924. Am 23.2.1925 teilte jedoch die tschechoslowakische Regierung dem Eidgenössischen Politischen Departement mit, dass sie gezwungen sei, auf das schweizerische Angebot zu verzichten, die Interessenvertretung für Liechtenstein durch das schweizerische Generalkonsulat in Prag zu übernehmen (vgl. CH BAR 2001(E)/1969/262, 43). Erst am 30. Juli 1938 erklärte die tschechoslowakische Regierung ihre Zustimmung zur Vertretung der liechtensteinischen Interessen in Prag durch die Schweiz.