Maschinenschriftliches Schreiben des Landtagspräsidiums, gez. Landtagspräsident Albert Schädler, an Prinz Karl von Liechtenstein in Vaduz [1]
10.12.1918
Der heute versammelte Landtag hat folgende Beschlüsse gefasst, welche Seiner Durchlaucht unserem Landesfürsten [Johann II.] zur baldmöglichsten Abänderung der bisher bestehenden Gesetze unterbreitet werden mögen.
- Die Regierung des Landes hat aus dem vom Landesfürsten im Einvernehmen mit dem Landtage zu ernennenden Landverweser und zwei durch den Landtag zu wählenden Regierungsräten zu bestehen.
- Die Teilnahme der beiden Regierungsräte an den Regierungsgeschäften soll durch besondere gesetzliche Vorschriften geregelt werden, wobei der Grundsatz zur Anwendung kommen soll, dass die beiden Regierungsräte zu allen wichtigeren Beschlüssen zuzuziehen, mindestens aber alle 14 Tage zu einer Sitzung einzuberufen sind.
- Wenn ein Mitglied der Regierung durch die Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert, so ist der Landtag berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung des betreffenden Regierungsfunktionärs zu beantragen.
- Bei Anstellung von Beamten soll der Grundsatz zur Anwendung kommen, dass der Bewerber die liechtensteinische Staatsbürgerschaft besitzen muss. Abweichungen hievon bedürfen der Zustimmung des Landtages.
Auch bei Bestellung des Landesverwesers sollen in erster Linie hiefür geeignete Liechtensteiner in Betracht kommen. - Die Wahl des Landtages soll in der bisherigen Art erfolgen; die drei vom Landesfürsten zu ernennenden Abgeordneten sollen durch kollegialen Beschluss der Regierung dem Landesfürsten in Vorschlag gebracht werden. [2]
- Die Sitzungen des Landtages sollen nicht in eine Session zusammen gezogen werden, sondern es soll der Landtag das ganze Jahr hindurch nach Bedarf mindestens aber im Frühjahr und im Herbste einberufen werden. Präsidium, Schriftführer und die Kommissionen wären jedes Mal für die Zeitdauer eines Jahres zu wählen.
- Sämtliche politische und gerichtliche Instanzen mit Ausnahme des Obersten Gerichtshofes sind in das Land zu verlegen. Bei der Organisation dieser Behörden soll unser Kriminalgericht als Vorbild genommen und also insbesondere neben Berufsrichtern auch Laienrichter aus dem Lande aufgenommen werden.
- In die Verfassung ist die grundsätzliche Bestimmung des freien Vereins- und Versammlungsrechtes aufzunehmen.
- Das Alter der Wahlfähigkeit und Grossjährigkeit soll auf 21 Jahre herabgesetzt werden.
Sämtliche vorstehende Beschlüsse wurden bei Anwesenheit aller fünfzehn Abgeordneten, also einstimmig [3] gefasst mit der einzigen Ausnahme, dass zu Punkt 5 von drei Abgeordneten beantragt wurde, die Sitze der Volksabgeordneten zu vermehren.
Ferner hat der Landtag mit allen gegen eine Stimme beschlossen, zur Regelung der Landesangelegenheiten die Berufung des Prinzen Karl von und zu Liechtenstein als Landesverweser in Vorschlag zu bringen. [4]
Das gefertigte Präsidium beehrt sich, Euere Durchlaucht hievon mit der Bitte zu verständigen, die Höchste Zustimmung durch einen bezüglichen Erlass Seiner Durchlaucht zu erwirken. [5]
Das Landtags-Präsidium:
______________
[1] LI LA SF 01/1918/044. Ein nicht unterzeichnetes Exemplar dieses Schreibens findet sich unter der Signatur LI LA LTA 1918/S04/02. Auf dem Schreiben befinden sich stenographische Randvermerke. Das 9-Punkte-Programm wurde in beiden Landeszeitungen veröffentlicht: L.Vo., Nr. 50, 13.12.1918, Erstes Blatt, S. 1 ("Zur Aufklärung"; vgl. ebenda auch den Artikel "Dem Landesfrieden entgegen!") und O.N., 14.12.1918, S. 2 ("Verfassungs-Ausbau"). Das Programm war das Ergebnis der Gespräche von Prinz Karl mit den Landesvertretern vom 6. bis zum 9.12.1918 in Vaduz. Formal ist das Programm ein Beschluss der Landtagsabgeordneten, nicht des Landtages, deshalb liegt hierüber kein Landtagsprotokoll vor. Gemäss Dorsalvermerk von Prinz Karl vom 24.12.1918 wurde das Programm dem Fürsten durch Baron Leopold vom Imhof zur Kenntnis gebracht.
[2] Es finden sich folgende handschriftliche Randvermerke: "8 [Landtagssitze] Oberl", "5 Unterl." und "2 fürstl.".
[3] Am Rande dieses Absatzes findet sich ein handschriftliches Fragezeichen.
[4] Fürst Johann II. bestellte - dem Wunsch der Landtagsabgeordneten entsprechend - seinen Neffen Prinz Karl am 13.12.1918 "bis auf Weiteres" zum Landesverweser. Dessen Vereidigung fand am 22.12.1918 statt.
[5] Fürst Johann II. erteilte mit Schreiben an den Landtag vom 13.12.1918 grundsätzlich seine Zustimmung zum 9-Punkte-Programm (LI LA RE 1918/5491 ad 4851). Vgl. auch das Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 17.12.1918 (LI LA LTA 1918/S04/02).