Maschinenschriftliches Nachtragsprotokoll zur öffentlichen Landtagssitzung, nicht gez. [1]
11.12.1906
Nachtrag zum Protokolle über die Landtagssitzung vom 11. Dezember 1906 [2]
Der Regierungskommissär [Karl von der Maur] äussert sich zum Gesetzentwurf [3] betreffend Zusatzbestimmungen zur Strafprozessnovelle vom 24. August 1881 [4] folgendermassen:
Das alte Strafgesetz vom Jahre 1803 [5] zerfällt in zwei Teile, wovon einer die Verbrechen, der andere die schweren Polizeiübertretungen betrifft; jeder Teil zerfällt in zwei Abschnitte; der erste Abschnitt enthält die materiellen Bestimmungen (Definition der strafbaren Handlungen und Strafe), der zweite die formellen Bestimmungen (das Strafverfahren betreffend); die materiellen Bestimmungen sind durch die im Jahre 1859 erfolgte Einführung des gegenwärtig geltenden österreichischen Strafgesetzes vom Jahre 1852 [6] ausser Kraft gesetzt; von den formellen Bestimmungen wurden verschiedene durch die Strafprozessnovelle vom Jahre 1881 und 1884 [7] ausser Kraft gesetzt, während andere noch bestehen blieben; durch die gegenwärtige Vorlage sollen von den noch bestehen gebliebenen Bestimmungen wieder mehrere fallen.
Die Vorlage hat zwei Hauptpunkte im Auge:
a) die Regelung des mangelhaften Berufungsrechtes,
b) die Einführung freier Beweiswürdigung an Stelle der gesetzlichen Beweisregeln.
Die Begründung der Vorlage ist durch den Ihnen zugegangenen Motivenbericht [8] in so erschöpfender Weise erfolgt, dass eigentlich nur mehr wenig zu sagen übrig bleibt.
Zur besseren Verdeutlichung der Sache, die selbstverständlich nicht sofort jedem Nichtjuristen geläufig sein kann, wäre indessen noch einiges zu bemerken.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Strafrechtspflege zu den wichtigsten Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft gehört.
Eine gute Strafrechtspflege setzt entsprechende Gesetze voraus; sind die Gesetze mit auffallenden Mängeln behaftet, so kann von einer guten Strafrechtspflege nicht gesprochen werden.
Das oberste Postulat für den Richter und speziell auch für den Strafrichter ist Freiheit und Unabhängigkeit; darüber herrscht völlige Einstimmigkeit.
Was heisst, der Richter muss frei und unabhängig sein? Das heisst, er darf nicht von äussern Einflüssen abhangen, hat nur eine Richtschnur zu beobachten, nämlich das Gesetz und seine Richtersprüche dürfen nur wieder durch höhere unabhängige Richtersprüche abgeändert werden.
Weil aber der Staat als solcher an der Strafrechtspflege das grösste Interesse hat, so ist in allen Kulturstaaten dem Strafrichter ein Anwalt des Staates beigestellt, der das staatliche Interesse in der Strafrechtspflege wahrzunehmen hat und bei Richtersprüchen, die diesem staatlichen Interesse zu widerstreiten scheinen, Berufung ergreifen, d. h. die betreffende Strafsache an die höhere gerichtliche Instanz leiten kann.
In Liechtenstein haben wir nichts dergleichen; ein solcher Zustand ist unter Umständen eine grosse Gefahr für die Justiz. Dass diesem Übelstande durch Verbesserung der Gesetzgebung abgeholfen werden sollte, liegt auf der Hand. Wie ist abzuhelfen? Eine Staatsanwaltschaft förmlich zu organisieren, erscheint schon der Kosten wegen und aus anderen Gründen nicht leicht tunlich. So hat sich nun gewissermassen von selbst der Vorschlag ergeben, zur Wahrung des staatlichen Interesses in der Strafrechtspflege ein Berufungsrecht der fstl. Regierung, die ja auch sonst die staatlichen Interessen zu vertreten hat, zu konstituieren.
Als Vorteile der Konstituierung eines solchen Berufungsrechtes wären hervorzuheben:
Kostenlosigkeit und Einfachheit der Institution; durch das Berufungsrecht kann zum Nutzen der Justiz und der Öffentlichkeit auf eine gewisse Gleichmässigkeit in der Rechtsprechung hingewirkt werden; wenn der Richter weiss, dass unter Umständen berufen werden kann, so wird er in seinen Urteilssprüchen nur um so sorgfältiger sein.
Selbst wenn befürchtet werden wollte, dass die fstl. Regierung das ihr zustehende Berufungsrecht missbrauchen würde, was schon wegen der für die fstl. Regierung unangenehmen Folgen von vorneherein ausgeschlossen wäre, so könnte hierdurch kein Schaden für die Rechtsprechung entstehen; auf unbegründete Berufungen würde das fstl. Appellationsgericht nie und nimmer eingehen; ist die Berufung aber begründet, so gewährt sie eben den Vorteil, dass ein mangelhaftes Judikat durch ein besseres ersetzt werden kann, was vom staatlichen Standpunkt nicht hoch genug anzuschlagen ist; sehr wichtig für spezifisch liechtensteinische Verhältnisse ist namentlich auch das Berufungsrecht in administrativen Strafsachen; in solchen Angelegenheiten könnte durch fehlerhafte Urteil die Administration geradezu beirrt und geschädigt werden und diesem empfindlichen Mangel der Gesetzgebung soll eben durch das neu einzuführende Berufungsrecht der fstl. Regierung abgeholfen werden. Dieses Berufungsrecht begründet nicht nur kein Abhängigkeitsverhältnis des Landgerichtes gegenüber der Regierung, es ist ganz im Gegenteil geradezu ein Dokument für die Unabhängigkeit des Richterstandes; wenn diesfalls falsche Ansichten herrschen sollten, so müssen sie eben widerlegt werden.
Wenn weiter gesagt wird, dass die Konstituierung des Berufungsrechtes der fstl. Regierung als eine Schwächung der Autorität des fstl. Landgerichtes empfunden würde, so vermag die fstl. Regierung diesem Gedankengange nicht zu folgen; mit der gleichen Berechtigung könnte behauptet werden, dass auch das dem Verurteilten oder das in anderen Ländern der Staatsanwaltschaft eingeräumte Berufungsrecht die Autorität des Gerichtes schwäche; wird anerkannt, dass durch gerichtliche Erkenntnisse staatliche Interessen verletzt werden können, so muss auch anerkannt werden, dass nach Mitteln gesucht werden muss, solchen Verletzungen zu begegnen; das Ihnen vorgeschlagene Berufungsrecht der fstl. Regierung ist nach meiner gewissenhaften Überzeugung ein den hiesigen Verhältnissen durchaus angemessenes, nach jeder Richtung unbedenkliches und einfaches Mittel, um möglichen Verletzungen des staatlichen Interesses durch gerichtliche Strafurteile der ersten Instanz zu begegnen und bedeutet als Institution einen wirksamen Schutz zum Vorteil der Allgemeinheit.
Hinsichtlich der Einführung der freien Beweiswürdigung an Stelle der gesetzlichen Beweisregeln, die aus dem Jahre 1803 beziehungsweise 1833 [9] stammen, viele Worte zu verlieren, erscheint überflüssig; es mag die einzige Tatsache ins Feld geführt werden, dass heute, soweit mir bekannt, in keinem europäischen Kulturstaate gesetzliche Beweisregeln in Geltung stehen.
Die Vorlage ist nach allen Seiten auf das gewissenhafteste erwogen, würde hier sicher zur Verbesserung der unabhängigen Justiz beitragen und rechtfertigt sich so sehr durch sich selbst, dass ihr jedermann ohne Bedenken beistimmen kann.
Je nach der Beschaffenheit allfälliger Amendierungen [10], welche durch Landtagsbeschluss an der Vorlage vorgenommen würden, behält sich die fstl. Regierung vor, in Erwägung zu ziehen, ob die amendierte Vorlage der höchsten Sanktion unterbreitet werden kann oder nicht. [11]