Die Finanzkommission des Landtags beantragt die Einführung der freien Beweiswürdigung im Strafverfahrensrecht


Gedruckter Kommissionsantrag an den Landtag, nicht gez. [1]

o.D. (vor dem 16.12.1909)

II. Antrag der Finanzkommission betreffend Einführung der freien Beweiswürdigung im Strafprozessverfahren

(Referent: Dr. Albert Schädler)

Nach der in der Sitzung vom 15. November auf die Interpellation Ihres Referenten von dem Regierungschef [Karl von In der Maur] abgegebenen Erklärung sind die Vorarbeiten für die geplante Justizreform noch nicht soweit gediehen, dass noch in diesem Jahre eine Regierungsvorlage eingebracht werden kann. Der Landtag beauftragte daher die Finanzkommission, in Beratung zu ziehen und darüber zu berichten, ob es sich nicht empfiehlt, den Artikel 6 der seinerzeitigen Regierungsvorlage, dessen zweiter die freie Beweiswürdigung festsetzende Absatz wörtlich mit dem § 258 der österr. Strafprozessordnung übereinstimmt, jetzt schon gesetzlich einzuführen. [2]

Die moderne Rechtsprechung hat bekanntlich mit der alten Beweistheorie und mit dem damit verbundenen formalistischen und langwierigen Verfahren gänzlich gebrochen und an Stelle dieses bei uns noch immer geltenden Verfahrens das Prinzip der freien Beweiswürdigung eingeführt. –

Die Landtagskommissionen, welche sich in den Vorjahren wiederholt mit der Frage der Justizreform beschäftigten, haben sich stets einhellig für die Einführung des Prinzips der freien Beweiswürdigung ausgesprochen und anerkannt, dass die seinerzeitige Regierungsvorlage besonders durch diese im Artikel 6 enthaltene Bestimmung eine erhebliche Verbesserung unserer Justizpflege bedeute. [3] Es sei in dieser Beziehung auf die ausführliche Begründung, welche in meinen in den Jahren 1906 und 1907 erstatteten Referaten enthalten ist, verwiesen. [4] Herr Dr. [Martin] Hämmerle, welcher derzeit mit der Substitution des Landrichters betraut ist und als erfahrener Richter das neue Strafprozessverfahren in Österreich und das alte bei uns gründlich kennt, hat auf mein Ansuchen folgende Aufklärungen zu dieser Frage gegeben, welche an der Hand der angeführten Beispiele jedermann die grossen Mängel des bei uns noch geltenden Beweisverfahrens klar ersichtlich machen.

"Bisher ist im Verfahren wegen Verbrechen zur Herstellung eines Beweises die Aussage von zwei Zeugen vorgeschrieben oder die zweier Mitschuldiger oder die eines Zeugen und eines Mitschuldigen und ausserdem müssen die Zeugen das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt haben. Ist einer der Zeugen um einige Tage jünger, so kann – wenn sie auch noch so glaubwürdig sind – ein Beweis mangels der gesetzlichen Voraussetzungen nicht als erbracht angenommen werden und das Gericht muss den Beschuldigten schuldlos erklären. Das sind unhaltbare Zustände; nicht auf die Zahl, sondern auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen und auf die die Tat begleitenden Umstände muss es ankommen, und das ist eben die freie Beweiswürdigung, die jetzt in allen Kulturstaaten eingeführt ist.

In dem in Liechtenstein heute noch geltenden Beweispatente vom Jahre 1833 [5] sind eine Menge von Anzeigungen für die Schuld aufgezählt, also Verdachtsgründe. Eine solche Aufzählung kann aber niemals erschöpfend sein, und scheinbar vorsichtig, aber gänzlich unhaltbar ist die Bestimmung, dass drei solcher Anzeigungen zur Herstellung eines rechtlichen Beweises erforderlich sind, sowie die Aufzählung einzelner Fälle, in welchen zwei solcher Anzeigungen für den Beweis der Schuld genügt. Man darf die Beweisgründe nicht zählen, wie es die alte Schule tat, sondern man muss sie wägen. Manchmal kann eine solche Anzeigung für den Beweis genügend sein, in andern Fällen können aber auch drei solcher Anzeigungen für den gewissenhaften Richter nicht genügen, um mit einem Schuldspruch vorzugehen.

Es gibt allerdings sogenannte bedenkliche Zeugen, aber es ist falsch, wenn das Gesetz vorschreibt, wann ein Zeuge bedenklich ist und wenn nicht und dem Richter in dem einen Falle verbietet, dem Zeugen zu glauben und ihn im andern Falle zum Glauben zwingt. Das soll doch dem freien Ermessen der beeideten Richter, seien es nun gelehrte Richter oder Schöffen – überlassen bleiben, ob sie im einzelnen Falle einen Zeugen für bedenklich oder unbedenklich halten.

Zu direkt haarsträubenden Ergebnissen führt die Bestimmung des § 370 St.G. II. Teil, [6] welcher sagt: "Es macht auch die Aussage desjenigen, an welchem die Übertretung begangen oder der dadurch beschädigt worden, die Überweisung vollständig, wann demselben aus der Verurteilung des Beschuldigten weder Genugtuung, noch sonst ein Vorteil zu gute kommt." Wenn z.B. ein händelsüchtiger Bursche einen friedlichen Bürger misshandelt und beschimpft und der Friedliebende bei Gericht die Klage erhebt, so muss dieses – wenn nicht noch zwei Zeugen vorhanden sind – den Stänkerer freisprechen, weil die Zeugenaussage des Misshandelten, der eben durch die Verurteilung des Beschuldigten Genugtuung erhalten will, keinen Beweis herstellen kann. Oder: Ein Raufbold überfällt einen ehrenwerten Mann – sagen wir den Vorsteher, der ihm einmal einen schlechten Leumund ausstellen musste – auf der Strasse, prügelt den Vorsteher, verletzt ihn am Körper und zerreisst ihm das Gewand. Der Raufbold hat Vermögen; der Vorsteher ist nicht mit Glücksgütern gesegnet und er verlangt, als Zeuge vernommen, bei Gericht den Ersatz der Heilungskosten und einen Ersatz für die zerrissenen Kleider. Der Beschuldigte leugnet, weitere Zeugen waren nicht vorhanden, und der Richter ist gezwungen, ganz gegen seine Überzeugung den Raufbold freizusprechen und den Vorsteher mit seinen Ersatzansprüchen auf den Zivilrechtsweg zu verweisen; der Richter darf dem ehrenwerten Vorsteher als Zeugen nicht glauben, weil dieser aus der Verurteilung des Beschuldigten einen Schadenersatz erwartet und nach unserer veralteten Gesetzgebung kein glaubwürdiger Zeuge ist.

Es ist nur zu wundern, dass solche Bestimmungen, die aus dem Jahre 1803 stammen und in Österreich im Jahre 1873 aufgehoben worden sind, sich hier bis in's zwanzigste Jahrhundert erhalten konnten. Solche Gesetze ermuntern den Beschuldigten zum Leugnen und wirken demoralisierend.

Und dennoch brach auch im alten Prozess die Natur das einzig Vernünftige in manchen Fällen durch. Z.B. wenn der Beschuldigte zwar die Tat eingesteht, aber den bösen Vorsatz leugnet, hat § 413 St.G. I. Teil verschämt die freie Beweiswürdigung zugelassen und die §§ 317 und 360 St.G. II. Teil, welche von der Überweisung eines leugnenden Beschuldigten durch das Zusammentreffen mehrerer Umstände handeln, sprechen direkt von der Unmöglichkeit, diese Umstände sämtliche aufzuführen, was also wieder auf die freie Beweiswürdigung hinausläuft.

Legen wir also die geistige Zwangsjacke der gesetzlichen Beweistheorie ab; mit der freien Beweiswürdigung wird den Richtern und dem Volke gedient sein!

An der Notwendigkeit, das alte Verfahren zu beseitigen und durch die Einführung des Prinzips der freien Beweiswürdigung zu ersetzen, ist daher nicht zu zweifeln. Es ist nur die Frage, ob dieser wichtige Teil der Justizreform schon jetzt oder erst mit den in Aussicht stehenden Justizgesetzen bei uns einzuführen wäre.

Ihre Kommission ist einstimmig der Ansicht, dass dies schon jetzt geschehen soll und zwar aus wichtigen Gründen. Die Landrichterstelle muss demnächst infolge der Pensionierung des Landrichters [Carl] Blum und des baldigen Wegzuges des derzeitigen Substituten wieder besetzt werden. Auf Grund unseres Justizvertrages mit Österreich vom 3. August 1884 [7] wird ein richterlicher Beamter aus Österreich diese Stelle versehen. Österreich hat aber schon vor mehr als 30 Jahren (im Jahre 1873, Deutschland im Jahre 1870) [8] mit der alten Beweistheorie, welche bei uns noch Geltung hat und vom Jahre 1803 herrührt, gänzlich gebrochen und das moderne Verfahren der freien Beweiswürdigung eingeführt. Es dürfte also, wie ich das schon in einem früheren Referate hervorgehoben habe, schwer fallen, einen Richter aus Österreich zu bekommen, der sich in das ihm nicht geläufige, anderswo obsolet gewordene Verfahren einspannen liesse. Ferner ist es nach den eingangs geschilderten Mängeln des bisherigen Verfahrens angezeigt, dasselbe so rasch als möglich zu beseitigen und durch ein besseres zu ersetzen. Die weitere in Aussicht stehende Ausgestaltung und Reform unserer Justizgesetzgebung [9] wird dadurch in keiner Weise behindert.

Im Sinne dieser Ausführungen beschloss Ihre Kommission einstimmig, dem Landtag die gesetzliche Einführung des Artikel VI der seinerzeitigen Regierungsvorlage vorzuschlagen.

Der Gesetzesvorschlag lautet wie folgt:

Artikel 1

Die im ersten Teile, 2. Abschnitte, 10. Hauptstücke des in Liechtenstein teilweise rezipierten österreichischen Strafgesetzbuches vom 3. September 1803 enthaltenen, von der rechtlichen Kraft der Beweise handelnden Bestimmungen (§§ 396–414) werden, soweit sie nicht schon aufgehoben sind, samt dem in Liechtenstein gleichfalls rezipierten österreichischen Beweispatent vom 6. Juli 1833, welches an die Stelle des schon früher aufgehobenen § 412 getreten ist, zur Gänze ausser Kraft gesetzt; an deren Stelle haben nachfolgende Bestimmungen zu treten:

Das Gericht hat bei der Urteilsfällung nur auf dasjenige Rücksicht zu nehmen, was im Schlussverfahren vorgekommen ist; Aktenstücke können nur insoweit als Beweismittel dienen, als sie im Schlussverfahren vorgelesen worden sind. Das Gericht hat die Beweismittel in Ansehung ihrer Glaubwürdigkeit und Beweiskraft sowohl einzeln als auch in ihrem inneren Zusammenhang sorgfältig zu prüfen; über die Frage, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen sei, entscheidet das Gericht nicht nach gesetzlichen Beweisregeln, sondern nur nach freier, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung.

Diese Bestimmungen haben sowohl im Verfahren wegen Verbrechen als auch in jenen über Vergehen und Übertretungen zu gelten; es werden daher auch die nicht ohnehin schon aufgehobenen Bestimmungen des im zweiten Teile, 2. Abschnitte des bezogenen Strafgesetzbuches enthaltenen 4. Hauptstückes von den rechtlichen Beweisen und jene Bestimmungen des Gesetzes (Strafprozessnovelle) vom 24. Juni 1884, L.-Gbl. Nr. 6, [10] welche sich in Ansehung der rechtlichen Kraft der Beweise auf die Anwendung der §§ 351–358, 360–365, 367–371, 375 und 376 dieses 4. Hauptstückes beziehen, ausser Kraft gesetzt.

Unberührt bleiben jedoch die Bestimmungen des Gesetzes vom 24. Juni 1884, L.-Gbl. Nr. 6, über die Zeugenpflicht, über jene Personen, die als Zeugen nicht vernommen werden dürfen und die von der Zeugenpflicht befreit sind, sowie über das Verbot der Durchsuchung von Papieren dritter Personen und der Beschlagnahme oder Eröffnung von Briefen.

Artikel 2

Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Kundmachung in Wirksamkeit und hat auf alle anhängigen Strafuntersuchungen, worüber noch kein Erkenntnis ergangen ist, Anwendung zu finden.

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[1] LI LA LTA 1909/L01 (Punkt 2 der Tagesordnung des Landtagspräsidiums für die auf den 16. und 18.12.1909 anberaumten Landtagssitzungen). Ein Teil des Kommissionsberichts ist abgedruckt in: L.Vo., Nr. 52, 24.12.1909, Beilage ("Bericht über die Landtagssitzungen vom 16. und 18. Dezember 1909"). Vgl. auch die Beilage zu Punkt 2 der Tagesordnung für die auf 16.12.1909 anberaumte Landtagssitzung: Auszug aus dem Motivenberichte der frstl. Regierung zu dem im Jahre 1906 eingebrachten Gesetze betr. Zusatzbestimmungen zur Strafprozessnovelle vom Jahre 1881 (LI LA LTA 1909/S04/2). In der öffentlichen Landtagssitzung vom 16.12.1909 äusserte sich Regierungskommissär Karl von In der Maur dahingehend, dass es überflüssig sei, die Notwendigkeit dieser Gesetzesbestimmung weiter darzutun. Es sei nur zu wünschen, dass die Gesetzesvorlage unverzüglich eingeführt werde. Am 18.12.1909 wurde der Gesetzesvorschlag nach dessen Verlesung vom Landtag einstimmig angenommen (diesbezügliche Protokolle unter LI LA LTA 1909/S04/2). Vgl. das Gesetz vom 28.12.1909, womit Zusatzbestimmungen zur Strafprozessnovelle vom 24.8.1881 erlassen werden, LGBl. 1910 Nr. 1.
[2] Vgl. das Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 15.11.1909 unter LI LA LTA 1909/S04/2. Der diesbezügliche Antrag von Landtagspräsident Albert Schädler findet sich unter LI LA LTA 1909/L05. Die erwähnte österreichische Strafprozessordnung stammt von 1873: Gesetz vom 23.5.1873 betreffend die Einführung einer Strafprocess-Ordnung, öst. RGBl. 1873 Nr. 119.
[3] Vgl. die Behandlung des Justizgesetzentwurfes betreffend strafprozessuale Zusatzbestimmungen in den öffentlichen Landtagssitzungen vom 11.12. und 13.12.1906 – nach Ablehnung von Artikel 1 zog Regierungskommissär In der Maur den ganzen Gesetzentwurf zurück (Protokolle unter LI LA LTA 1906/S04/2). Die Regierungsvorlage findet sich unter LI LA LTA 1906/L08; der diesbezügliche Kommissionsbericht unter LI LA LTA 1906/L01.
[4] In der öffentlichen Landtagssitzung vom 16.11.1907 wurde der Antrag von Albert Schädler auf neuerliche Behandlung der Justizgesetzentwürfe genehmigt und in diesem Sinne eine siebengliedrige Kommission gewählt (LI LA LTA 1907/S04/2). Zum Antrag dieser Kommission siehe die öffentlichen Landtagssitzungen vom 14.12.und 16.12.1907. Der Landtag ersuchte schliesslich die Regierung, von den die Justizreform berührenden Vorschlägen Kenntnis zu nehmen und "in nächster Bälde" die entsprechenden Gesetzentwürfe vorzulegen (ebd.; LI LA LTA 1907/L01; LI LA LTA 1907/L03).
[5] Patent vom 6.7.1833, öst. JGS 1833 Nr. 2622.
[6] Österreichisches Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uibertretungen (Strafgesetzbuch) vom 3.9.1803 (öst. JGS 1798–1803 Nr. 626; LI LA DS 100/1804/1), eingeführt in Liechtenstein durch fürstliche Verordnung vom 18.2.1812 (LI LA RB G1/1812).
[7] Staatsvertrag bezüglich der Justizverwaltung im Fürstentum Liechtenstein vom 19.1.1884, LGBl. 1884 Nr. 8 bzw. öst. RGBl. 1884 Nr. 124.
[8] Vgl. das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31.5.1870, BGBl. des Norddeutschen Bundes, 1870, Nr. 16, S. 197, sowie das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15.5.1871, dt. RGBl. 1871, S. 127. Vgl. ferner die deutsche Strafprozessordnung vom 1.2.1877, dt. RGBl. 1877 S. 253.
[9] Vgl. das Gesetz vom 31.12.1913 betreffend die Einführung einer Strafprozessordnung, LGBl. 1914 Nr. 3. Vgl. in diesem Zusammenhang den undatierten Bericht einer Siebnerkommission an den Landtag betreffend die Reform des Strafprozessrechts in Liechtenstein unter LI LA RE 1913/3270 ad 0040.
[10] Gesetz vom 24.6.1884 mit Zusatzbestimmungen zur Strafprozessnovelle vom 24.8.1881, LGBl. 1884 Nr. 6.