Der liechtensteinische Gesandte in Wien, Prinz Eduard, berichtet über eine Unterredung mit dem schweizerischen Gesandten Charles-Daniel Bourcart betreffend die liechtensteinische Interessenvertretung im Ausland, insbesondere in Paris, durch die Schweiz


Maschinenschriftliches Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien, gez. Prinz Eduard von Liechtenstein, an die liechtensteinische Regierung, mit einem Nachtrag [1]

6.11.1919, Wien

Im Nachhange zu meinem Berichte vom 30. Oktober l.J., Zahl 397/1, [2] beehre ich mich Nachstehendes zu berichten:

Im Auftrage Sr. Durchlaucht des Fürsten [Johann II.] habe ich Montag den schweizerischen Gesandten [Charles-Daniel] Bourcart aufgesucht und ihm den Dank Seiner Durchlaucht ausgesprochen für die Bereitwilligkeit der Schweizer Regierung, das Fürstentum in Paris zu vertreten. Ich habe ihn gleichzeitig verständigt, dass uns sehr daran gelegen sei, dass die schweizerische Regierung die Vertretung Liechtensteins in allen Staaten übernehme, in welchen das Fürstentum nicht eigene Vertretungen unterhält. [3] Dies sei gegenwärtig in der Schweiz, in Österreich und in der Cechoslovakei sowie in Deutschland der Fall. Man habe allerdings daran gedacht auch bei den Westmächten an einem Orte eine eigene Vertretung zu errichten, wofür Paris schon aus dem Grunde in erster Linie in Betracht gekommen sei, weil der liechtensteinische Vertreter in Bern [Emil Beck] leicht und ohne grosse Kosten sich im Bedarfsfalle nach Paris begeben könne. Nachdem der Schritt der Schweizer Regierung aber bereits in Paris geschehen sei – ob auf Grund einer Weisung der Vaduzer Regierung oder aus Initiative Dr. Becks sei mir nicht bekannt – so werde voraussichtlich diese eigene Vertretung des Fürstentumes bei der Entente entfallen. Der Fürst lege aber grossen Wert darauf, dass mit Rücksicht auf die zwischen London und Paris bestehende Rivalität – welche, wie ich zur dortigen Information bemerke, beim Zusammenarbeiten der französischen und englischen Mission in Wien des öfteren zu Tage tritt, und von den beiderseitigen Diplomaten hier gar nicht verhehlt wird – gleichzeitig mit der Publizierung der Übernahme der Vertretung Liechtensteins in Paris auch eine solche in London erfolge. [4] Ich bäte Herrn Bourcart daher, dies mit dem Dank des Fürsten der Berner Regierung zur Kenntnis zu bringen und diese zu ersuchen, einen analogen Schritt wie in Paris auf rascheste Weise auch in London zu unternehmen, nach dessen günstiger Erledigung das offizielle Ansuchen in der ganzen Sache unsererseits nach Bern und schweizerischerseits nach London und Paris zu richten sein werde. [5]

Ich habe mit Bourcart auch die Grundlinien besprochen, nach welchen die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in Paris und London zu erfolgen haben würde und insbesonders darauf hingewiesen, dass die Hauptaufgabe der Schweizer Diplomatie darin liegen werde, bei der englischen und französischen Regierung immer wieder die staatliche Selbständigkeit des Fürstentumes zu betonen und dahin zu wirken, dass dem kleinen Lande, welches durch sein Vieh und die Exporte seiner Wollindustrie in hohem Masse kompensationsfähig sei, insbesondere seitens der cechoslovakischen Republik, auf deren Territorium der Landesfürst so grosse Besitzungen habe, das für den Lebensunterhalt seiner Bewohner unbedingt Notwendige an Mehl, Zucker, Kohle etc., geliefert werden müsse, so lange die zentrale Wirtschaft in Europa nicht dem freien Handel Platz mache. Da die Schweiz sich vielfach in einer ähnlichen wirtschaftlichen Lage befindet, wird die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in dieser Richtung ihr nicht allzuschwer fallen.

Ich habe mit Bourcart vorläufig rein persönlich und unter ausdrücklicher Betonung, in dieser Hinsicht nur einen persönlichen Gedankenaustausch mit ihm pflegen wollen, die Frage der Aufnahme des Fürstentumes in den Völkerbund erörtert und der diesbezüglichen Vertretung seiner Wünsche durch die Schweiz. Bourcart billigte vollkommen meine Ausführungen im vorerwähnten Berichte, Zahl 397/1, [6] über die Aufnahme Liechtensteins unter Anerkennung seiner immerwährenden Neutralität, wofür zwar nicht wie bei der Schweiz völkerrechtliche Verträge sprächen, sondern vielmehr die Kleinheit des Landes und die dadurch bedingte militärische Bedeutungslosigkeit, sowie die geographische Lage des Landes, das mit der Schweiz leicht Kriegsgebiet werden könnte, und das als Durchzugsgebiet eben nur dann in Frage kommen kann, wenn auch die Schweiz Durchzugsgebiet sein darf. Er hegte nicht die Befürchtung, dass die Vertretung dieses Standpunktes für Liechtenstein der Schweiz die Vertretung ihres eigenen Standpunktes erschwere und meinte, dass auch in dieser Hinsicht die Interessen Liechtensteins durch die Schweizer Regierung gewahrt werden könnten. Er sprach weiter seine Meinung dahin aus, und erachte ich diese Meinung für durchaus richtig, dass die Schweiz das Fürstentum zum Völkerbunde nicht anmelden kann, nachdem sie selbst noch nicht Mitglied ist, und die Frage, ob sie Mitglied werde, was der Bundesrat beantrage und er auch für richtig halte, noch unentschieden sei. Dagegen könne der Schweizer Gesandte, wenn er einmal als Vertreter Liechtensteins in Paris nominiert sei, die Anmeldung Liechtensteins zum Völkerbunde zweifellos durchführen. Im Übrigen meine er, dass dies für Liechtenstein noch nicht besonders dringlich sei, was ich bis zu einem gewissen Grade auch anerkenne. Ich möchte auch nur soweit kommen, dass im Gegenstande Verhandlungen eingeleitet werden, aus denen Liechtensteins Souveränität klar hervorgeht und die zur Folge haben, dass ich mir die Unterstützung Frankreichs und Englands für die Interessen des Landes bei der Wiener Reparationskommission in höherem Masse sichere, denn ich gestehe offen, dass mir die Schwierigkeit der Beschaffung von Lebensmittel und Kohle grosse Sorgen macht und der Verlauf der Verhandlungen in Prag, [7] die doch - zunächst wenigstens nur Hafer und etwas Gerste - eingebracht haben, ist nicht erfreulich. Ich bin auch jetzt mit dem Staatsamte für Verkehrswesen in Verbindung getreten, um bei einer Aufteilung der Waggons des alten Österreichs für das Fürstentum eine gewisse Anzahl rollenden Materials zu sichern, aber in allen diesen Fragen werde ich einen Erfolg wohl nur erhoffen können, wenn Frankreich und England und vielfach auch Amerika sich der Landesinteressen in der Waggon- und Kohlenkommission etc. annimmt.

Ich beehre mich, den vorstehenden Bericht unter gleichzeitiger Übermittlung einer Abschrift an Dr. Beck in Bern [8] zu übermitteln. [9] So viel ich heute, durch einen Herrn der Schweizer Gesandtschaft hörte, hat Minister Bourcart die an ihn gestellte Bitte seiner Regierung im telegrafischen Wege übermittelt. Jedenfalls hätte Dr. Beck der Berner Regierung gegenüber sich ebenfalls dahin zu äussern, dass der Fürst durch mich bereits seiner hohen Befriedigung und seinen warmen Dank für das liebenswürdige Entgegenkommen der Schweizer Regierung, dem Schweizer Gesandten in Wien ausgesprochen habe.

Eine telegrafische Erledigung der Angelegenheit erschien mir ausgeschlossen, - abgesehen von der Unmöglichkeit eine solche Materie in entsprechend ausführlicher Form telegrafisch zu erledigen - auch deswegen, weil, wie auch Bourcart sagt, dies alles wohl nur chiffriert behandelt werden könne.

Nachtrag

Heute übermittelte Bourcart die zuliegende Information, Zahl 397/4, [10] aus welcher ich entnehme, dass die Schweiz die Anfrage wegen unserer Vertretung bereits überall hin offiziell und nur nach Paris inoffiziell gerichtet hat, will wir noch zweifeln, ob wir uns dort selbständig vertreten lassen sollen. Seine Durchlaucht der Fürst erklärt sich nunmehr einverstanden, dass die Schweiz uns auch in Paris vertrete. Bezüglich Deutschland wäre ihm eine eigene Vertretung mit Rücksicht auf seinen Besitz in Sachsen erwünscht, doch hat er darüber noch nichts Definitives verfügt. Jedenfalls könnte man jetzt die offizielle Anfrage nach Paris richten sowie an die anderen Staaten, und zwar nicht von hier oder von Vaduz aus, sondern durch die Berner Regierung. Ich ersuche nur um ungesäumte Mitteilung, wenn die Zustimmung der verschiedenen Staaten einlangt, schon um das liquidierende k.u.k. Ministerium des Äussern, das uns ja noch vertritt, [11] entsprechend verständigen zu können.

Ich möchte nicht ermangeln noch zu berichten, dass ich aus anderem Anlass ebenfalls Montag den Vertreter Allizees [Henri Allizé] Botschaftsrat Romieu aufsuchte und ihm von der hocherfreulichen Tatsache Mitteilung machte, dass Frankreich der Vertretung Liechtensteins in Paris zugestimmt habe, welche anscheinend in der Form der Vertretung durch die Schweiz geplant sei. Er schien sehr erfreut und bat überzeugt zu sein, dass diese Zustimmung gewiss auf Allizees gegenwärtigen Aufenthalt in Paris und Einwirkung dortselbst zurückzuführen sei, dem er auf Grund meiner Interventionen nach meinen Prager Verhandlungen zweimal Informationen gesendet habe.

Wie mir gestern im Staatsamte für Äusseres zur sicheren Kenntnis gelangte, reist Minister Benes [Edvard Beneš] mit dem morgigen Ententezug nach Paris und dürfte jetzt auch den Angelegenheiten Liechtensteins dort näher treten.

Ich habe gestern dem cechischen Gesandten in Wien Dr. [Robert] Flieder gesprächsweise die Tatsache der Zulassung der liechtensteinischen Vertretung in Paris mitgeteilt und auch [Hans von] Kolowrat bereits angewiesen, diese Tatsache so rasch wie möglich durch Vermittlung seines Freundes Strümpl dem Sekretär Benes zur Kenntnis zu bringen.

Der fürstliche Gesandte: [12]

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[1] LI LA RE 1919/5623 ad 0589 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 397/3). Bei der liechtensteinischen Regierung am 16.11.1919 eingelangt und ebd. am 18.11.1919 ad acta gelegt. Weiteres Exemplar (Konzeptschreiben) unter LI LA V 003/0067 (genanntes Aktenzeichen der Gesandtschaft Wien).
[2] Vgl. das Schreiben des Gesandten Prinz Eduard an die liechtensteinische Regierung vom 30./31.10.1919, in welchem dieser die Akkreditierung eines eigenen liechtensteinischen Vertreters in Paris empfohlen hatte (LI LA RE 1919/5402 ad 0589 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 397/2)).
[3] Zur Vorgangsweise bei der Übernahme der liechtensteinischen Interessenvertretung im Ausland durch die Schweiz vgl. das Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern an die liechtensteinische Regierung vom 26.11.1919 (LI LA RE 1919/5810 ad 0589).
[4] Vgl. den Bericht des Gesandten Prinz Eduard an Landesverweser Prinz Karl von Liechtenstein vom 11.11.1919 über eine Unterredung mit dem britischen Bevollmächtigten in Wien, Sir Francis Lindley, betreffend die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in London durch die Schweiz (LI LA V 002/0170/12 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 422/1)).
[5] Der folgende Satz ist gestrichen: "Hiezu bemerkte ich übrigens, dass die Form der weiteren Verfolgung der Angelegenheit noch von mir hier klar gestellt werden wird und ich mir vorbehielte, diesbezügliche Anträge bezw. Entwürfe zu übermitteln." Daneben der handschriftliche Randvermerk: "überholt siehe Zl. 399/3". Vgl. in diesem Zusammenhang das private Schreiben von Prinz Eduard an Prinz Karl vom 7.11.1919 u.a. betreffend die Vorgangsweise von Emil Beck bei der Frage der liechtensteinischen Vertretung in Paris (LI LA V 003/0068 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 399/2)) bzw. das Schreiben von Prinz Karl an Prinz Eduard vom 18.11.1919 (ebd. (Aktenzeichen: 399/3)).
[6] Siehe Fussnote 2.
[7] Vgl. hiezu die Korrespondenz betreffend die Kompensationsverhandlungen mit der tschechoslowakischen Republik wegen der Lieferung von Getreide nach Liechtenstein bzw. von Zuchtvieh in die Tschechoslowakei (LI LA V 003/0626 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 413)). Vgl. auch Ziff. 2 des Berichts von Prinz Eduard an Landesverweser Prinz Karl vom 11.11.1919 über eine Unterredung mit dem britischen Bevollmächtigten in Wien, Sir Francis Lindley (LI LA V 002/0170/12 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 422/1)).
[8] Durchgestrichen. "mit dem Ersuchen".
[9] Durchgestrichen: "die beiden gegenständlichen Berichte der Finanzkommission zur Kenntnis zu bringen".
[10] Liegt nicht bei. Vgl. LI LA V 003/0067 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 397).
[11] Österreich-Ungarn hatte 1880 den diplomatischen Schutz der liechtensteinischen Staatsangehörigen im Ausland übernommen: Vgl. das Schreiben des österreichisch-ungarischen Aussenministeriums an die fürstliche Hofkanzlei vom 24.10.1880 (LI LA RE 1919/6087 ad 0589 (Aktenzeichen des Aussenministeriums: 18702/80/7)).
[12] Vgl. in weiterer Folge das Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien an die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern vom 3.12.1919 (LI LA RE 1919/5966 ad 0589 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 450/5)).