Der liechtensteinische Gesandte in Wien, Prinz Eduard, berichtet über eine Unterredung mit dem britischen Bevollmächtigten Sir Francis Lindley betreffs die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in London


Maschinenschriftliche Abschrift eines Schreibens des liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard von Liechtenstein, gez. ders., an den liechtensteinischen Landesverweser Prinz Karl von Liechtenstein, mit einem Nachtrag [1]

11.11.1919, Wien

Euere Durchlaucht!

Ich habe heute beim neuen Bevollmächtigten der englischen Regierung in Wien, Sir [Francis] Lindley, vorgesprochen und ihn eingehend über die völkerrechtliche Situation des Fürstentumes Liechtenstein informiert. Das Ergebnis des Gespräches ist Folgendes:

1.) Ich habe Lindley von dem Schritt der Schweizerischen Regierung informiert bezüglich der Vertretung der liechtensteinischen Interessen in London durch die Schweizerische Regierung [2] und habe ihn ersucht, seine Regierung zu bitten, die bezügliche willfahrende Antwort so rasch als möglich abgeben zu wollen, nachdem die Pariser Regierung bereits zugesagt habe, [3] und wir vermeiden wollen, die tatsächliche Betrauung der Schweizerischen Gesandtschaft in Paris mit der Vertretung der liechtensteinischen Interessen früher zu vollziehen als in London. - Lindley hat zugesagt, in London in dieser Richtung vorstellig zu werden.

2.) Ich habe weiters Lindley eine deutsche Übersetzung der an Sir Francis Dent gerichteten französischen h.ä. [hierämtlichen] Note, Zahl 417, [4] in Angelegenheit der Zuweisung von Waggons an das Fürstentum übergeben und ihn gebeten, auch diese Angelegenheit bei Sir Dent entsprechend zu unterstützen. Lindley hat die Berechtigung des Fürstentumes anerkannt, trotzdem die dasselbe durchquerende Eisenbahn der österreichischen Staatsverwaltung gehört, über eigene Waggons zu verfügen, und ich habe den Eindruck, dass er diese Angelegenheit wohlwollend fördern wird, was mir im enormen Interesse des Fürstentumes gelegen zu sein scheint.

3.) Ich habe Sir Lindley auf die dringende Notwendigkeit der Belieferung des Fürstentumes mit Lebensmitteln aus der Cechoslovakei aufmerksam gemacht und darauf verwiesen, dass diese Belieferung, gegen welche sich nach der gleichzeitig mitfolgenden Note 413/4 [5] neuerlich Schwierigkeiten auftürmen, die nunmehr in der Staatsgetreideanstalt in Prag liegen, sehr dringlich ist, und ich ihn bäte, auch in dieser Richtung englischerseits einen Einfluss in Prag auszuüben. Naturgemäss wird eine diesbezügliche Einflussnahme von London wohl erst erwartet werden können, wenn die Übernahme der Vertretung der liechtensteinischen Interessen durch die Schweiz in London effektiv erfolgt sein wird.

4.) Sir Lindley erkundigte sich eingehend nach dem Verhältnisse des Fürstentumes zu Deutschösterreich, in welcher Richtung ich auf die ebenfalls in Abschrift mitfolgende h.ä. Note Zahl 388/2 [6] des Staatsamtes für soziale Fürsorge betreffend die Anerkennung der vollen Exterritorialität des Fürsten und die Befreiung der von ihm tatsächlich benützten Immobilien vom Volkspflegestättengesetze, dem sogenannten Schlössergesetze, [7] verweisen konnte, aus welcher ebenso wie aus der Zulassung der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien [8] die Anerkennung der Souveränität des Fürstentumes durch Österreich klar hervorgeht.

5.) Ich habe weiters Sir Lindley auf die Forderungen Liechtensteins aus dem Zollvertrage [9] aufmerksam gemacht und ihm mitgeteilt, dass nach meiner vortägigen Unterredung mit Sektionschef [Theodor von] Ippen, dem Stellvertreter des Staatskanzlers [Karl] Renner in der Leitung des Staatsamtes für Äusseres, diese Angelegenheit voraussichtlich von der Reparationskommission werde in die Hand genommen werden müssen, da die sogenannte Gesandtenkonferenz der Successionsstaaten nicht aktionsfähig sei und - wie mir Ippen sagte - mit der Ratifizierung des Friedensvertrages von St. Germain wahrscheinlich sofort verschwinden würde.

6.) Sir Lindley erkundigte sich nach den valutarischen Verhältnissen des Fürstentumes, in welcher Hinsicht ich ihm mitteilte, dass ich noch immer hoffe, dass das Land zunächst eine Abstempelung der d.ö. [deutschösterreichischen] Krone vornehmen werde, wodurch ein wesentlich höherer Kurs in Zürich erreicht werden würde, und dass ich glaube, dass das Land beabsichtige, auf Grund dieser in Zürich gebesserten liechtensteinischen Krone mit der Zeit auf die Frankenwährung überzugehen, wobei der liechtensteinische France in der Schweiz ebenso wie die Frances anderer Länder der lateinischen Münzunion [10] Umlaufkraft haben sollte. Etwas Bestimmtes wurde aber noch nicht beschlossen. Lindley erachtete diesen Gedanken in beiden Richtungen für durchaus akzeptabel.

7.) Sir Lindley erkundigte sich auch, ob tatsächlich die Absicht bestehe, die Spielbank in Vaduz zu errichten und äusserte sich gegen dieses Projekt in durchaus nicht günstigem Sinne.

8.) Sir Lindley stellte ferner die Frage, wohin der liechtensteinische Viehexport eigentlich gehe, nahm zur Kenntnis, dass damit in erster Linie Kompensationen aus der Cechoslovakei und Italien versucht werden, welch erstere Verhandlungen bereits einen gewissen Erfolg gebracht hätten, während mir über den Erfolg der Kompensationsverhandlungen mit Italien nichts Positives bekannt sei. Er meinte, dass hier in Wien wohl ein starker Bedarf an Fleisch wäre, worauf ich ihm entgegnete, dass das Land gewiss bereit sei, auch hieher zu liefern, dass aber die Schwierigkeit, Kompensationsware aus Deutschösterreich zu erhalten, sowie die geringe Kaufkraft der österreichischen Krone ein grosses Hindernis bilden.

9.) Ich machte Lindley darauf aufmerksam, wie wichtig für das Land es sei, dass die Gesandtschaft in Prag [11] bald zugelassen werde, um dadurch die Verpflegung des Fürstentumes zu sichern und um die Interessen des fürstlichen Besitzes in Böhmen zu wahren. Da England - wie ich annähme - wohl Interesse habe, bolschewistische Strömungen in der Tschechoslovakei nicht aufkommen zu lassen, müsse es ein Interesse daran haben, den fürstlichen Besitz in Böhmen zu schützen, zumal eine Konfiskation dieses dreihundertjährigen Besitzes auf Grund des Umstandes, dass ein Teil dieser Besitzungen aus Konfiskationen von Rebellen stamme, [12] auch dazu führen müsse, dass die Güter einer ganzen Reihe anderer hervorragender Familien in der Cechoslovakei einer ähnlichen Behandlung unterworfen würden.

10.) Endlich bat ich Lindley seinem Kollegen in Prag, Mister [Cecil] Gosling, den Besuch des Prinzen Louis jun. [Alois von Liechtenstein] anzukündigen, welcher Samstag nach Prag fährt, um auch diesen in gleichem Sinne zu orientieren und dessen Einwirkung in der selben Richtung sowohl in London wie in Prag zu erreichen.

Ich hatte den Eindruck, dass Sir Lindley, welcher früher in Wien als Diplomat tätig war und über die Verhältnisse des Hauses Liechtenstein und des Fürstentumes ziemlich orientiert ist, die Bestrebungen der hiesigen Gesandtschaft in freundlichster Weise fördern wird.

Eine Abschrift dieses Berichtes ergeht gleichzeitig an die Gesandtschaft in Bern.

Nachtrag: Nach Fertigstellung dieses Berichtes kommt heute abends die telefonische Mitteilung vom Schweizer Gesandten [Charles-Daniel Bourcart], dass seine Regierung ihm auf die von mir veranlasste Anfrage telegrafiert habe, dass London vor zirka 10 Tagen das Agrement zur Vertretung Liechtensteins durch die Schweiz erteilt habe. Ich werde Sir Lindley heute sofort von dieser erfreulichen Tatsache Mitteilung machen, um ihm einen unnötigen Schritt in dieser Richtung zu ersparen. [13] - Es dürfte aber empfehlenswert sein, vorzusorgen, dass derartige wichtige Mitteilungen direkt von Bern oder Vaduz rasch hieher kommen und die hiesige Gesandtschaft nicht auf Informationen im Wege der schweizerischen Gesandtschaft in Wien angewiesen bleibt. Die in den Oberrheinischen Nachrichten [14] gerügte Verschleppung der Kompensationsverhandlungen in Prag fällt gewiss zum Teil der mangelnden diplomatischen Organisation des Fürstentumes zur Last und wäre die neuerliche Komplikation vielleicht zu vermeiden gewesen, wenn ich vor 6 Tagen in der Lage gewesen wäre, auf die effektive Anerkennung des Fürstentumes durch Frankreich und England zu verweisen bzw. durch [Hans von] Kolowrat verweisen zu lassen.

Der Fürstliche Gesandte:

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[1] LI LA V 002/0170/12 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 422/1). Eine Abschrift ging an die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern zur Kenntnisnahme, Eingang ebd. am 19.11.1919. Weiteres Exemplar unter LI LA V 003/0069 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 422/1).
[2] Vgl. in diesem Zusammenhang etwa das Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern an die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien vom 12.12.1919 betreffend die Übernahme der liechtensteinischen Interessenvertretung im Ausland durch die Schweiz (LI LA RE 1919/6087 ad 0589).
[3] Vgl. das Schreiben des liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard, an die liechtensteinische Regierung vom 30./31.10.1919 betreffend die liechtensteinische Interessenvertretung bei der französischen Regierung (LI LA RE 1919/5402 ad 0589 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 397/2)).
[4] Vermutlich falsches Aktenzeichen: Die Akte der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien mit dem Aktenzeichen 417 betrifft die Pläne für die Schaffung eines liechtensteinischen Konsulates für Süddeutschland (LI LA V 003/0107).
[5] Dokument liegt nicht bei. Siehe jedoch LI LA V 003/0626 (Aktenzeichen der Gesandtschaft in Wien: 413) mit der Korrespondenz betreffend die Kompensationsverhandlungen mit der tschechoslowakischen Republik wegen der Lieferung von Getreide nach Liechtenstein bzw. von Zuchtvieh in die Tschechoslowakei.
[6] Dokument liegt nicht bei. Vermutlich falsches Aktenzeichen: Die Akte der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien mit dem Aktenzeichen 388/2 betrifft die Errichtung eines amerikanisches Konsulats für Liechtenstein (LI LA V 003/0145).
[7] Gesetz vom 30.5.1918 über die Errichtung und Unterbringung von Volkspflegestätten, öst. StGBl. 1919 Nr. 309.
[8] Vgl. die Note des deutschösterreichischen Staatsamtes für Äusseres an die liechtensteinische Hofkanzlei vom 2.5.1919 betreffend die Errichtung einer liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien (LI LA V 003/1165 (Aktenzeichen: I-3329/2)).
[9] Nach Art. 17 des österreichisch-liechtensteinischen Zollvertrages von 1876, öst. RGBl. 1876 Nr. 38, idF. RGBl. 1889 Nr. 29, erhielt das Fürstentum eine Quote aus dem Reinerträgnis der in Vorarlberg und Liechtenstein eingehobenen Verzehrungssteuern, des Tabak- und Schiesspulvermonopols und einiger anderer Einnahmequellen im Verhältnisse der Bevölkerung dieser Gebiete; ferner aus dem Reingewinne der an den Zollämtern Vorarlbergs und Liechtensteins eingelaufenen Zölle nach Abzug eines "Präzipuums" von einem Drittel für Österreich-Ungarn einen im Verhältnis der Bevölkerung von Vorarlberg und Liechtenstein festgesetzten Anteil. Die näheren Bestimmungen über die Festsetzung dieses Reinertrages enthielt Art. 18 des Zollvertrages. Nach Art. 22 des Zollvertrages verbürgte Österreich dem Fürstentum ein jährliches Reineinkommen an Zöllen und Verzehrungssteuern von mindestens 2,2 Gulden pro Kopf der Bevölkerung. Dieser verbürgte Minimalreinertrag hatte in vierteljährlichen Raten im Vorhinein bezahlt zu werden. 1919 bemühte sich der liechtensteinische Gesandte in Wien, Prinz Eduard, im Auftrage der liechtensteinischen Regierung bei der Wiener Gesandtenkonferenz um die Auszahlung des dem Fürstentum aus dem Zollvertrag zukommenden Gewinnanteils von 65'255 Kronen. Begründet wurde dies damit, dass diese Zahlungsverpflichtung aus der Jahresabrechnung pro 1917/1918 der Gesamtheit der Nationalstaaten, welche ehemals die österreichisch-ungarische Monarchie gebildet hatten, obliege (vgl. das Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien an die Wiener Gesandtenkonferenz zuhanden ihres Vorsitzenden Theodor von Ippen vom 14.8.1919 (LI LA V 003/0347 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien 233/1); vgl. ferner LI LA V 003/0348 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 102/1)).
[10] Die Lateinische Münzunion war eine Währungsunion zwischen Frankreich, Belgien, Italien, der Schweiz und Griechenland, welche zwischen 1865 und 1914/1926 bestand.
[11] Vgl. etwa den Bericht des liechtensteinischen Gesandten Prinz Eduard an die liechtensteinische Regierung vom 10.10.1919 über die Verhandlungen mit dem tschechoslowakischen Aussenminister Edvard Beneš betreffend die Errichtung einer liechtensteinischen Gesandtschaft in Prag (LI LA RE 1919/0105).
[12] Nach der Schlacht am Weissen Berg vom 8.11.1620 kam es seitens Habsburgs zu umfangreichen Güterkonfiskationen bei den böhmischen "Rebellen".
[13] Vgl. die Note des englischen Bevollmächtigten Sir Francis Lindley an den liechtensteinischen Gesandten vom 15.12.1919 (LI LA V 003/0069 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 422/2): "… le Gouvernement de Sa Majesté ne voit aucune objection à ce que la représentation de la Principauté de Liechtenstein dans le Royaume Uni soit confiée aux agents diplomatiques et consulaires suisses."
[14] Vgl. etwa O.N., Nr. 66, 3.9.1919, S. 2 ("Viehausfuhr"); O.N., Nr. 70, 17.9.1919, S. 1-2, hier S. 2 ("Landesumschau"); O.N., Nr. 84, 5.11.1919, S. 1 ("Landesprattig").