Maschinenschriftliches Schreiben der Regierung, gez. Regierungschef Gustav Schädler, an Kabinettsdirektor Josef Martin [1]
9.2.1923
Hochverehrter Herr Kabinettsdirektor!
Zu ihrem nicht geringen Erstaunen erhält die fürstl. Regierung mit der heutigen Abendpost die Abschrift des an die Kabinettskanzlei gerichteten Schreibens der fürstl. Gesandtschaft in Wien vom 7. d.M., worin Dr. [Josef] Hoop seinen beim Bundesminister für Äusseres [Alfred Grünberger] unternommenen Schritt bezüglich der Auflösung der Wiener Gesandtschaft mitteilt. [2] Tatsächlich hat der schweizerische Bundesrat schon am 27. Jänner d.J. die Einwilligung zur Übernahme der liechtensteinischen Interessenvertretung in Österreich kundgegeben und nur noch um die Bekanntgabe des Zeitpunktes dieser Übernahme ersucht. [3] Überhaupt ist die fürstl. Regierung vollkommen perplex, woher sich der Herr Geschäftsträger in Wien die Vollmacht beschafft hat, bei der österr. Regierung wegen der Auflösung der Wiener Gesandtschaft vorzusprechen. Wenn Dr. Hoop sich schon bei der Regierung keinen Auftrag hiezu eingeholt hat, so hätte er wenigstens Seine Durchlaucht den Herrn Prinzen Franz sen., dem Seine Durchlaucht der regierende Fürst [Johann II.] die Aussenvertretung mit Handschreiben vom 24. Dezember 1921 (L.Gbl. Nr. 1 ex 1922) zu übertragen geruhte, um eine Ermächtigung angehen müssen. So aber hat der Herr Geschäftsträger einen Schritt unternommen, der weit über seinen Aufgabenkreis hinausgeht und auf den noch zurückgekommen werden wird. Wenn auch der derzeitige Minister für Äusseres antwortete, er habe von der Sache "läuten" gehört, er sehe aber keinen Grund zur Auflösung, so bleibt doch immer noch jener Ministerialerlass (Äusseres) vom 6. September 1921 Zl. 4419/Präs. bestehen, welcher an Seine Durchlaucht den Herrn Prinzen Franz sen. gerichtet war und besagt, dass das Ministerium die Vertretung Liechtensteins durch die Schweizerische Gesandtschaft in Wien nach Liquidation der Wiener fürstlichen Gesandtschaft zur Kenntnis nehme. [4]
Es ist wahrscheinlich, dass der derzeitige Minister von dem zitierten Präsidialschreiben keine Kenntnis hatte. Es ist nun mindestens das fünfte Mal, dass die Auflösung der Wiener Gesandtschaft durch Quertreibereien unmöglich gemacht werden soll. Für das Fürstentum gibt es diesmal kein Zurück mehr, wir haben uns nun schon genug durch die ewigen Hintertreibungen blamiert und können nicht riskieren, diesmal sogar noch die Schweiz, die uns so nobel entgegengekommen ist, in die Blamage hineinzuziehen. Es fällt uns übrigens ausserordentlich auf, dass der Herr Geschäftsträger diesmal nicht den Weg an die Regierung findet, sondern die Kabinettskanzlei vorzieht, wo doch sein Vorgänger, Herr Dr. [Alfred] v. Baldass, sich gegenteils auf den Standpunkt stellte, dass die Auflösung eine Regierungsangelegenheit und nicht eine solche der Kabinettskanzlei sei. [5] Wir erwähnen dies nicht aus gekränkter Eitelkeit, sondern lediglich, um den wandelbaren Sinn menschlicher Schwäche zu zeichnen.
Eine Abschrift ergeht an die fürstl. Gesandtschaft in Wien. [6] Die Kabinettskanzlei wird eingeladen, von diesem Schreiben sofort Seiner Durchlaucht dem regierenden Fürsten und Seiner Durchlaucht Herrn Prinzen Franz sen. Mitteilung zu machen. [7]
Empfangen Sie die Versicherung vorzüglichster Hochachtung und Wertschätzung!
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[1] LI LA RE 1923/0486 ad 50. Eine Abschrift erging an die Gesandtschaft in Wien (LI LA V 003/1130).
[2] LI LA V 003/1130, Hoop an Kabinettskanzlei, 7.2.1923.
[3] LI LA V 002/0047, Note des Schweizerischen Politischen Departements an die Gesandtschaft Bern, 27.1.1923.
[4] LI LA SF 01/1921/ad 145.
[5] LI LA SF 01/1921/148, Baldass an Regierungschef Josef Ospelt, 23.9.1921.
[6] Hoop verteidigte sich mit Schreiben vom 12.2.1923 gegen die Vorwürfe der Regierung (LI LA RE 1923/0555 ad 50; LI LA V 003/1130): Er habe auf Anregung von Charles-Daniel Bourcart, Schweizer Gesandter in Wien, sowie mit Wissen von Regierungschef Schädler gehandelt. Dass Österreich bereits am 6.9.1921 der Übernahme der Interessenvertretung durch die Schweiz zugestimmt habe, sei ihm nicht bekannt gewesen.
[7] Die Kabinettskanzlei beantwortete das Schreiben am 14.2.1923 und wies darauf hin, dass Prinz Franz am 10.2. bei Grünberger vorgesprochen und die Situation geklärt habe. Grünberger habe erklärt, Österreich sei nach wie vor mit der Übernahme der Interessenvertretung durch die Schweiz einverstanden (LI LA RE 1923/0569 ad 50; vgl. auch LI LA V 003/1130 und LI LA RE 1923/0509 ad 50, Kabinettskanzlei an Regierung und Gesandtschaft Wien, 10.2.1923). Die Kabinettskanzlei wies in diesem Schreiben auch darauf hin, dass Hoop mit Wissen des Fürsten und der Kabinettskanzlei gehandelt habe.