Alfred von Baldass, liechtensteinischer Geschäftsträger in Wien, rät von der Aufhebung der Gesandtschaft in Wien ab


Maschinenschriftliches Schreiben von Legationssekretär Alfred von Baldass, Geschäftsträger in Wien, an Regierungschef Josef Ospelt [1]

23.9.1921, Wien

Herr Regierungschef!

Ich erhalte soeben den in Abschrift beiliegenden Erlass der fürstlichen Kabinettskanzlei, [2] aus welchem ich entnehme, dass die fürstliche Gesandtschaft mit 31. Dezember l.J. aufgelöst wird. Ich kann nicht verhehlen, dass dieser Erlass mich aufs äusserste befremdet, da er weder den mir anlässlich der Übergabe der Geschäfte gemachten Äusserungen und den formellen Zusicherungen des Kabinettsdirektor [Josef] Martin, welche ja auch Ihnen, Herr Regierungschef, bekannt sind, entspricht, noch auch die verfassungsmässige, bei einer derartigen Entscheidung unbedingt notwendige Gegenzeichnung der fürstlichen Regierung trägt. Ich kann nicht umhin einzugestehen, dass ich, wenn ich gewusst hätte, dass die Lebensdauer der Gesandtschaft mit 31. Dezember beschränkt ist, bei den Differenzen, die ich schon früher mit der fürstlichen Kabinettskanzlei hatte, eine Übernahme der Geschäfte absolut abgelehnt hätte. Es liegt mir selbstverständlich vollkommen ferne, mich irgend jemanden aufdrängen zu wollen, werde daher selbstverständlich von meinem Posten zurücktreten und muss mir nur vorbehalten, dies eventuell zu einem früheren Zeitpunkt als dem 31. Dezember zu tun.

Nachdem ich dadurch meine Person aus der Diskussion vollkommen ausgeschaltet habe, kann ich nicht umhin der fürstlichen Regierung dringendst nahe zu legen, die Auflösung der fürstlichen Gesandtschaft in Wien noch einer eingehenden Erwägung unterziehen zu wollen.

Nach meiner Überzeugung ist diese Entscheidung von so einschneidender Bedeutung für das Land, dass sie nicht ohne Anhörung des Landtages vorgenommen werden kann. Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so ist die Gesandtschaft, trotzdem ihre Kosten bisher vom Fürsten [Johann II.] getragen wurden, eine Regierungsbehörde, die nicht von der verfassungsmässig nicht verantwortlichen Kabinettskanzlei, sondern nur von der fürstlichen Regierung aufgelöst werden kann; da aber dies nicht eine administrative, auf der blossen Durchführung bestehender Gesetze beruhende Massnahme ist, kann dies nach meiner Überzeugung und nach dem Vorbilde sämtlicher konstitutioneller Staaten nur nach Anhörung und unter Zustimmung der Volksvertretung, also des Landtages geschehen.

Für die Auflösung der Gesandtschaft wird von der Kabinettskanzlei immer die Sparsamkeitsrücksicht ins Treffen geführt; da aber die fürstliche Gesandtschaft, selbst wenn ich den von mir verlangten Gehalt von 24'000 K bekommen hätte, monatlich insgesamt ungefähr 33'000 K, nach dem jetzigen Kurs also cca 120 Schweizer Franken kostet, jährlich also noch weniger als ein Amtsdiener in Vaduz, welcher jährlich 2200 Franken bezieht, kostet, scheint mir diese doch nicht ein hinreichender Grund zu einem so schwerwiegenden Schritt zu sein. Ich glaube, dass es für das Fürstentum eine Lebensnotwendigkeit ist, zur Wahrung seiner Selbstständigkeit bei seinen beiden Nachbarstaaten Gesandtschaften zu unterhalten. Gerade jetzt, wo man so gar nicht beurteilen kann, in welcher Weise sich die Verhältnisse in Europa gestalten werden und nach welcher Richtung sich zu orientieren in Zukunft für das Fürstentum am vorteilhaftesten sein wird, wäre es nach meiner festen Überzeugung ein verhängnisvoller Fehler, sich durch eine überstürzte Entscheidung die Hände für alle Zukunft zu binden. Zu einem späteren Zeitpunkt wird es vielleicht möglich sein die Gesandtschaft in Wien aufzulösen, obwohl ich nicht glaube, dass, nachdem man schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass eine allzu sehr betonte einseitige Orientierung von den verhängnisvollsten Folgen sein kann, es sich nunmehr empfiehlt, in denselben Fehler nur nach der anderen Seite zu verfallen; im gegenwärtigen Augenblick wäre jedoch die Auflösung der Gesandtschaft gewiss ganz verfehlt. Wie stark und vielfältig die Beziehungen des Fürstentumes zu Österreich immer noch sind, wissen Sie, Herr Regierungschef selbst, dass die Erledigung derselben eine Person vollauf beschäftigt, ist eine unleugbare Tatsache, und ich bin überzeugt, dass die Schweiz über kurz oder lang für dieselben in Wien einen eigenen Beamten anstellt, für den sie selbstverständlich die Kosten dem Fürstentum aufrechnet; Gesandter [Charles-Daniel] Bourcart hat dies seinerzeit ganz offen erklärt. Da der Gehalt eines schweizerischen Attachés jährlich 8'000 Schweizer Franken beträgt und derselbe ausserdem über kurz oder lang avancieren muss, glaube ich, dass die gegenwärtige Ersparnis in sehr kurzer Zeit durch eine, die bisherigen Kosten um ein Vielfaches übersteigende Ausgabe ersetzt werden wird, mindestens 8'000 Franken, welche die fürstliche Regierung zu tragen haben wird. Ich glaube daher, dass, selbst wenn Seine Durchlaucht die Kosten der Gesandtschaft in Wien nicht länger weiter zu tragen gewillt wäre, es für das Fürstentum immer noch ökonomischer ist, die Gesandtschaft wenigstens vorläufig nicht aufzulösen, sondern bis zur endgiltigen Abwickelung aller mit Österreich bestehenden Beziehungen oder bis zu dem Zeitpunkt, bis die Verhältnisse in Europa sich soweit geklärt haben, dass man ohne Gefahr sich binden kann, deren Kosten, welche gegenwärtig etwa 2000 Frs. betragen und selbst im Falle einer billigen Gehaltsregulierung höchstens auf 2700 Frs. steigen werden (150 Frs. monatlich Geschäftsträger, 50 Frs. Kanzleisekretärin, 300 Frs. jährlich Kanzleispesen) selbst auf sich zu nehmen, als den Gehalt eines Schweizer Diplomaten per mindestens 8'000 Frs. jährlich zu zahlen. Ausserdem ist es noch fraglich, ob ein tatsächlicher Ausländer, der an dem Fürstentum keinerlei Interesse hat und dessen Bedürfnisse und Verhältnisse nicht kennt, die Angelegenheiten Liechtensteins, die im Verhältnis zu jenen der Schweiz unbedeutend und klein erscheinen müssen, für das Fürstentum aber hochbedeutend und lebenswichtig sind, mit jenem Eifer besorgen, die vielfältigen Schwierigkeiten und Hindernisse mit jenem Nachdruck zu überwinden suchen wird, welcher im Interesse des Fürstentumes unbedingt verlangt werden muss.

Ich bitte die fürstliche Regierung bei der zu treffenden Entscheidung von meiner Person vollkommen abzusehen. Ich bin jederzeit zum Rücktritt bereit und nicht mein persönliches Interesse, sondern lediglich die Anhänglichkeit an das Land, in dem ich mein neues Vaterland zu finden gehofft hatte, [3] haben mich zu vorstehenden Ausführungen veranlasst. Und aus dieser Anhänglichkeit bitte ich die fürstliche Regierung den Schritt, den sie mit Auflösung der fürstlichen Gesandtschaft in Wien zu unternehmen gedenkt, vorher noch reiflich zu überlegen. Die überstürzte Auflösung des Zollvertrages mit Österreich [4] ist wohl ein Beispiel dafür, dass es sich nicht empfiehlt, Bande, die durch Jahrhunderte bestanden haben, mit derartiger Plötzlichkeit und Rücksichtslosigkeit zu zerschneiden, wie es jetzt beabsichtigt ist. Österreich wird bestimmt keinen Schaden davon haben, dass es aber dem Fürstentum zum Vorteil gereicht, das gestatte ich mir nach meiner Kenntnis der gesamten Verhältnisse lebhaftestens zu bezweifeln. [5]

Genehmigen Sie, Herr Regierungschef, den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.

Nachtrag vom 23. September 1921

Ich habe soeben mit dem Schweizerischen Geschäftsträger Dr. [Max] Ratzenberger über die Modalitäten der Übernahme der Geschäfte durch die Schweiz gesprochen, und teilte mir derselbe mit, dass die Schweiz zwar gerne bereit sei, die Vertretung der liechtensteinischen Interessen auch in Wien zu übernehmen, dass aber das Personal der Gesandtschaft so beschränkt ist, dass eine Mehrarbeit der Herren nicht möglich erscheint und daher für Liechtenstein ein eigener Beamter angestellt werden würde. Da die Schweiz in ihrer Verwaltung ebenfalls die grösste Sparsamkeit beobachten müsse, werden die Kosten für denselben, welche ungefähr 6'000–8'000 Franken jährlich ausmachen werden, dem Fürstentum in Rechnung gestellt werden.

Ich bitte diese Nachricht als absolut Authentisch zu betrachten.

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[1] LI LA SF 01/1921/148. Aktenzeichen: 426/2/XIV-21. Das Schreiben langte am 26.9.1921 bei der Regierung ein.
[2] LI LA SF 01/1921/ad 148, Kabinettsdirektor Josef Martin an Baldass, 16.9.1921.
[3] Baldass hatte die österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben, um liechtensteinischer Geschäftsträger werden zu können, und war nun staatenlos.
[4] Der Landtag hatte am 2.8.1919 beschlossen, den Zollvertrag mit Österreich zu künden (LI LA LTA 1919/S04, Protokoll der Landtagssitzung vom 2.8.1919).
[5] Ospelt teilte Kabinettsdirektor Martin mit Schreiben vom 27.9.1921 mit, dass die Aufhebung der Gesandtschaft vorerst unterbleiben solle, wobei er zahlreiche der von Baldass vorgebrachten Argumente übernahm (LI LA SF 01/1921/ad 148). Am gleichen Tag informierte er Baldass, dass er die Kabinettskanzlei "um Aufklärung über den Sachverhalt" ersucht habe. Er vertrete "den Standpunkt, dass eine Neuregelung des Gegenstandes nicht ohne Mitwirkung der Regierung zu erfolgen hat" und hoffe, "dass sich die Sache in eine ruhigere Bahn lenken lassen wird" (LI LA SF 01/1921/ad 148).