Die „Neue Zürcher Zeitung“ spricht sich für die Realisierung einer Schmalspurbahn von Landquart über Ragaz, Balzers und Vaduz nach Schaan aus


Nachdruck eines Artikels aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 1.12.1905 im „Liechtensteiner Volksblatt“ [1]

8.12.1905

Die Stellung der Bundesbahnen zum Schmalspurbahnprojekt Landquart-Ragaz-Vaduz-Schaan

In ihrer Vernehmlassung an das Eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement über die Konzessionierung einer Schmalspurbahn Landquart-Ragaz-Landesgrenze bei Fläsch kommt die Generaldirektion der Schweizerischen Bundesbahnen zum Schlusse, der Bau der Linie sei zu verweigern, weil die Rheinlinie und damit allgemein schweizerische Landesinteressen gefährdet würden. Da diese Stellung der Schweizerischen Bundesbahnen gegenüber einer Konkurrenzlinie von prinzipieller Wichtigkeit ist, dürfte eine Erörterung der Verhältnisse von allgemeinem Interesse sein.

Als die Arlberglinie [2] gebaut wurde, kam man nach langem Studium dazu, den Anschluss an die Schweizerbahnen in Buchs zu suchen, obwohl schon damals einsichtige Männer vorgeschlagen hatten, die Linie auf dem rechten Rheinufer mit Anschluss in Sargans zu führen. Heute ist man im Fürstentum Liechtenstein darüber einig, dass der Anschluss in Sargans für eine gedeihliche Entwicklung des souveränen Fürstentums von grossem Werte gewesen wäre. Alle nennenswerten Ortschaften des Ländchens hätten die Vorteile eines direkten Bahnanschlusses erhalten. – Doch nun ist es zu spät und an eine Änderung der Anschlussstation ist gar nicht zu denken. [3]

Herr [Willem Jan] Holsboer, der Schöpfer der Landquart-Davos-Linie (Stammlinie der jetzigen Rhätischen Bahnen) hatte ursprünglich beabsichtigt, diese Linie in Ragaz beginnen zu lassen, da es in seinen Intensionen lag, nach und nach alle grossen ostschweizerischen Kurorte direkt durch ein Schmalspurbahnnetz zu verbinden. Aus verschiedenen Gründen kam aber der Anschluss an die Normalbahn in Landquart zu Stande. Jetzt und insbesondere seit dem Ausbau der Rhätischen Bahnen empfindet man es in Ragaz sehr als Nachteil, nicht direkt an die bündnerischen Fremdenzentren angeschlossen zu sein. Wer in Chur oder Landquart schon die Bahn gewechselt hat, verlässt diese wenige Stationen später nicht so leicht wieder, wenn er auch an sich gar nicht abgeneigt gewesen wäre, als Übergangsstation einen Aufenthalt in dem altbekannten Ragaz zu machen

Das Bedürfnis nach den angedeuteten neuen Verbindungen machte sich immer mehr und mehr geltend und so entstanden denn, ursprünglich vollständig unabhängig von einander, zwei Lokalbahnprojekte, von denen das eine das Fürstentum Liechtenstein bedienen, das andere Ragaz an die Rhätische Bahn anschliessen sollte. Es haben dann auch im Jahre 1903 die Herren Gebr. Simon [u.a. Fridolin Simon] in Ragaz, die Inhaber der altberühmten Badetablissemente, das Gesuch um Konzessionierung einer Linie Landquart-Ragaz über Tardisbrücke und linkes Rheinufer eingereicht. Von seiten Graubündens wurde nun mit Recht darauf hingewiesen, dass, wenn doch einmal gebaut werden solle, es gewiss zweckmässiger wäre, über Maienfeld (rechtes Rheinufer) zu fahren, anstatt das Trace dem völlig unbewohnten linken Rheinufer nach zu legen. Es musste jedem, der die Gegend kennt oder der einen Blick auf die Karte wirft, die ganz kleine Lücke, die zwischen Ragaz und Balzers offen geblieben wäre, auffallen und zwar umso mehr, als diese Linie die nicht unbedeutende, aber sehr abgelegene Gemeinde Fläsch berühren würde. Der Gedanke lag also äusserst nahe, dieses Zwischenstück auszubauen, um so an Stelle zweier Sackbähnchen eine durchgehende Schmalspurlinie zu besitzen, die allen lokalen Interessen auf das Vortrefflichste dienen könnte. Nachdem man das Eisenbahndepartement von zuständiger Seite auf diese Verhältnisse aufmerksam gemacht hatte, forderte dieses, die Richtigkeit der vorgebrachten Gründe anerkennend, die Herren Gebr. Simon auf, ihr Konzessionsgesuch zurückzuziehen und zu berichten, ob sie geneigt seien, mit den Interessenten einer rechtsufrigen durchgehenden Linie in Unterhandlung zu treten. Dies geschah, es bildete sich ein Initiativkomitee, das um die Konzession für eine Linie Landquart, Maienfeld-Ragaz, Fläsch, Landesgrenze nachsuchte. [4] Die Linie soll genau nach den Normalien der Rhätischen Bahn gebaut werden, und auf Grund vorläufiger Besprechungen ist vorauszusehen, dass die Rhätische Bahn den Betrieb der ganzen 28 Kilometer langen Bahn übernimmt. Die Baukosten stellen sich auf rund 3,7 Millionen Franken (Rollmaterial usw. inbegriffen) oder 134'000 Fr. auf den Kilometer, wovon 1,7 Millionen Franken auf das schweizerische Teilstück fallen würden. Studien haben ergeben, dass sich der ganze Bau leicht und ohne besondere Schwierigkeiten ausführen lässt. Es ist elektrischer Betrieb vorgesehen; die Linie eignet sich vorzüglich hierzu und die Rhätische Bahn hätte die beste Gelegenheit, die wertvollsten Erfahrungen zu sammeln, um zur Zeit diese Betriebsart auf ihrem ganzen Netze oder doch den tunnelreichen Strecken einzuführen.

Ein mehr als zweitausend Jahre alter Verkehr (also wohl der älteste in unserem Lande) über die St. Luziensteig ist im Jahre 1858 [5] durch den Bahnbau plötzlich abgeschnitten worden und damit haben auch die damals recht lebhaften Handelsbeziehungen zwischen der bündnerischen Herrschaft und dem Fürstentum Liechtenstein, Feldkirch usw. aufgehört. Die geplante durchgehende Bahn hätte, nachdem vorzüglich die beiden eingangs erwähnten Hauptzwecke besser als durch Sacklinien erreicht worden wären, auch dazu gedient, diese alten, wenn auch nur lokalen Beziehungen wieder aufleben zu lassen.

Nun hat aber die Generaldirektion der Schweizerischen Bundesbahnen mit allem Nachdruck Stellung gegen das Projekt genommen. Sie will zwar gegen die Entziehung an Lokalverkehr nichts einwenden – und dies gewiss mit Recht, denn indirekt würde ihr der Verlust des Lokalverkehrs durch die allgemeine Verkehrszunahme gewiss reichlich wieder eingebracht. Auch wäre es, nachdem die Rhätische Bahn doch ganz zweifellos durch ihr Dasein dem Verkehr auf den Schweizer. Bundesbahn-Linien der Ostschweiz ganz wesentlich gesteigert hat, recht auffallend, wenn man ihr nun nicht etwas Zufuhr an Lokalverkehr gönnen wollte. In dieser Beziehung wollten die Schweizerischen Bundesbahnen also keine Einwendungen machen, aber ihre Rheintallinie und wesentliche allgemeine schweizerische Landesinteressen erscheinen ihr ernstlich gefährdet. Nun – es ist ja wahr, bis jetzt hat man, um von Süddeutschland und Österreich nach Graubünden zu kommen, unter allen Umständen die Rheintallinie benutzen müssen. Aber es erscheint uns als ganz ausser Frage zu stehen, dass auch später der Durchgangsreisende diese Linie weiter benutzen wird, wenn die Schweizer. Bundesbahnen ihren Fahrplan zweckmässig gestalten. Es kann ja gar nicht in Zweifel gezogen werden, dass die bereits bestehende, durchgehend normalspurige Bahn mit ihren hervorragend günstigen Gefälls- und ihren günstigen Richtungsverhältnissen eine der günstigsten Linien im ganzen Lande, wenn sie sich nur ganz wenig anstrengt, im Durchgangsverkehr sehr leicht die Konkurrenz mit der geplanten Schmalspur- und Lokalbahn aufnehmen könnte. Fürchtet man für den Durchgangsverkehr Süddeutschland-Graubünden wirklich eine Linie, bei der zwischen Bregenz und Chur zwei Spitzkehren, ein Wechsel von Normal- auf Schmalspur vorkommt, und die auf dieser Strecke dreissig Stationen zu bedienen hat, während an der zu allem noch kürzeren Schweizer. Bundesbahn-Linie nur achtzehn Stationen liegen? Bequemer ist es allerdings, wenn man überhaupt gar keine Konkurrenz hat und gar keine Anstrengungen für Fahrplanverbesserungen machen muss. Es existieren denn auch, wie allgemein bekannt, prächtige Verbindungen durch das St. Galler Rheintal. Völlig unverständlich ist es, wenn die Generaldirektion zum Schlusse kommt, die Folge der Konzessionierung der Konkurrenzlinie müsste eine Reduktion der Zugszahl auf der eigenen Linie sein. Eine eigentümliche Auffassung, in der Tat! So könnte es allerdings zuletzt noch möglich werden, dass man die Konkurrenz einer minderwertigen Lokallinie fürchten müsste. Ebenso unerfindlich ist, in welcher Beziehung denn die andern „allgemeinen schweizerischen Landesinteressen" und Interessen des schweizerischen Rheintales geschädigt werden. Es wird der „aus dem Touristenverkehr resultierende Erwerb" genannt und gerade hierin glauben wir mit Sicherheit annehmen zu dürfen, dass eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und Vermehrung der Verkehrsgelegenheiten für beide Ufer des Rheins bloss Vorteile bringen kann. Auch im übrigen wird das ganze Rheintal durch die Hebung und Belebung des Verkehrs auf der einen oder andern Seite gewiss nur gewinnen. Wenn durch die Schaffung einer, von den Schweizerischen Bundesbahnen ganz unabhängigen Zufahrt nach Graubünden die Konkurrenzstellung der Schweizer. Bundesbahnen erschwert wird, so mag das wohl insofern zutreffen, als bis jetzt nur eine unwesentliche Konkurrenz möglich und vorhanden war (Bregenz-Feldkirch-Buchs). Dass es aber auch für diese prinzipielle Seite „ganz gleichgültig sei, ob es sich um Normalspur oder eine Schmalspur handle", wie der Bericht der Generaldirektion sagt, und dass es ferner auf die Steigungs- und Richtungsverhältnisse sowie auf die Distanzen gar nicht ankommt und dass Fahrplanverbesserungen die drohende Gefahr nicht beseitigen, ist gewiss viel behauptet. Wir sind überzeugt davon, dass sich die Schweizerischen Bundesbahnen, wenn sie sich auch nur etwas anstrengen, den ganzen Durchgangsverkehr erhalten können und dass die geplante Lokallinie wirklich nur ihrem Zwecke, der Schaffung und Bewältigung eines Lokalverkehrs dienen wird.

Und nun zum Schlusse noch eine andere Seite der Angelegenheit. Mit dem kleinen, seit alten Zeiten mit der Schweiz befreundeten Fürstentum Liechtenstein hat man immer freundnachbarschaftlich verkehrt; die gegenseitigen Beziehungen waren stets vorzüglich und man war auch jenseits des Rheines immer sehr loyal. Es fragt sich nun, ob wir, selbst ein kleines Land, nun einmal die Gelegenheit benutzen wollen, um dem noch viel kleineren Liechtenstein gegenüber unsere Grossmachtstellung zu zeigen und ob wir ihm den Bau seiner eigenen kleinen Lokalbahn, die ohne Anschluss eben eine wertlose Sacklinie bliebe, verhindern wollen, weil sich dann unsere ganz zweifelsohne stark überlegenen Bundesbahnen etwas Mühe geben müsste, um sich den Durchgangsverkehr ganz zu erhalten. Von einer Privatbahn würde man es wohl begreifen, dass sie sich gegen jede, auch unbedeutende Konkurrenz so lange als möglich wehrt; aber haben wir dazu unsere Bahnen verstaatlicht? Wir glauben nein und wir sind verwundert darüber, dass unser h. Eisenbahndepartement die Ansichten und Ausführungen der Generaldirektion der Schweizer. Bundesbahnen als zutreffend erklärt. (N.Z.Z.) [6]

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[1] L.Vo., Nr. 49, 8.12.1905, S. 1-2. Vgl. NZZ, Nr. 333, 1.12.1905, 1. Beilage („Die Stellung der Bundesbahnen zum Schmalspurbahnprojekt Landquart-Ragaz-Vaduz-Schaan“). Neuerlich abgedruckt in: L.Va., Nr. 52, 28.6.1944, S. 1 ("Warum das liechtensteinische Oberland im Jahre 1907 die Eisenbahn nicht erhielt"). – In der genannten Ausgabe des „Liechtensteiner Volksblattes“ wurde auch vermerkt, dass sich in Angelegenheit der projektierten Eisenbahn Schaan-Landquart vor kurzem Landesverweser Karl von In der Maur und Landtagspräsident Albert Schädler zur Einziehung von Informationen nach Bern begeben hätten (ebd. („Eisenbahn“)). Zum Schmalspurbahnprojekt vgl. auch besonders LI LA SF 02/1905/0188. Vgl. ferner L.Va., Nr. 51, 24.6.1944, S. 1 ("Warum das liechtensteinische Oberland im Jahre 1907 die Eisenbah nicht erhielt I."); darin die Resolution der Abgeordneten des Oberlandes, der Vorsteher und Vorsteher-Stellvertreter der interessierten Gemeinden sowie der Fabrikbesitzer des Oberlandes vom 27.3.1905 für den Anschluss Liechtensteins an die Rhätische Bahn. 
[2] Die Arlbergbahn war 1884 eröffnet worden.
[3] Österreich und Liechtenstein hatten sich im Einvernehmen mit der Schweiz darauf geeinigt, die Strecke von Feldkirch über Schaan nach Buchs zu führen. Diese Eisenbahnlinie wurde am 14.1.1870 bewilligt und am 24.10.1872 als Teilstrecke der k.k. privilegierten Vorarlberger Bahn eröffnet.
[4] Eine Abschrift des Konzessionsgesuches vom 26.4.1905 findet sich unter LI LA SF 02/1905/0255 ad 0188.
[5] Am 1.7.1858 hatte die Eisenbahnlinie durch das schweizerische Rheintal ihren Betrieb aufgenommen.
[6] Vgl. weiters: L.Vo., Nr. 51, 22.12.1905, S. 1 („Schmalspurbahn Landquart-Maienfeld-Vaduz-Schaan“); L.Vo., Nr. 4, 26.1.1906, S. 1 („Das Fürstentum Liechtenstein und die rätischen Eisenbahnen“) und L.Vo., Nr. 22, 31.5.1907, S. 1-2 („Eisenbahnprojekt Landquart-Maienfeld-Ragaz-Schaan“).