Artikel eines Korrespondenten in den "Oberrheinischen Nachrichten" [1]
19.2.1919
Mehr Volksabgeordnete!
I.
In unserer demokratischen Zeit sollte man es nicht für möglich halten, dass noch ein solcher Kampf um eine zweckmässige und gerechte Vertretung des Volkes entbrennen könne. In unserem, mit vielem alten Ballast beschwerten, durch Herrenmenschentum zum Teil noch regierten und verwalteten Lande ist aber im Zeitalter der Demokratie dieser Kampf noch möglich.
Die Führer der Herrenpartei [2] wollen demokratisch sein – und dem Volke möglichst wenig Rechte, ja noch weniger als früher lassen. Dies lehrt uns vor allem die Landesgeschichte.
Die Vertretung des Volkes in der Spätgrafenzeit und dann bis 1809, also während der Landammann-Verfassungszeit bestand im Oberland aus dem Landammann und zwölf Geschworenen (Richtern), ebenso hatte die Herrschaft Schellenberg eine Vertretung von zusammen 13 Personen. Früher vertraten demnach, wenn man Vaduz und Schellenberg zusammenrechnet, 26 Männer das Volk. Unser Peter Kaiser sagt: "Alle 2 Jahre fand eine Wahl (des Landammanns) statt. Zu derselben versammelten sich alle, welche nicht ehr- und wehrlos waren und das sechzehnte Altersjahr erreicht hatten." Bis 1809 konnten also sogar die 16-Jährigen wählen – und seither soll ihnen nach Ansicht unserer fortschrittlichen Herren die nötige Einsicht und Reife fehlen!
In der ständischen Verfassungszeit seit 1818 [3] bestand die Vertretung der Volksstände mindestens aus 3 Geistlichen, allen Vorstehern (Richtern) und Seckelmeistern der Gemeinde, das macht schon mehr als 20 Vertreter aus. Dazu konnten aber noch grössere Steuerzahler kommen. Diese Zeit dauerte bis 1862.
In einem Verfassungsentwurfe von 1848 [4] werden 24 Abgeordnete, 12 für das Oberland, 9 für das Unterland und 3 fürstliche vorgesehen.
Lieber Leser! Ist es nun nicht eigentümlich, dass unsere Vorfahren so sehr auf eine grössere Zahl der Volksvertreter Gewicht legten? Sie müssen doch gedacht haben, eine breitere Volksvertretung sei gerade zur Verfechtung der verschiedenen Interessen, zur Vertretung der einzelnen Stände notwendig. Haben wir es denn heute nicht mehr notwendig?
Die Bevölkerung hat gegenüber früher unbestreitbar zugenommen. Wir wollen nur einige Zahlen anführen:
Zur Zeit der Landammanns-Verfassung waren in beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg zusammen nur 563 schutzzahlende (haushabliche) Bürger. Rechnen wir hierzu noch die Jungen über 16 Jahre, so dürften es nicht mehr als 1000 gewesen sein und die Gesamtbevölkerung schätzungsweise 2300 Köpfe betragen haben. Diese vertraten im ganzen – selbstredend für Schellenberg und Vaduz getrennt – 26 Männer. 1613 betrug die Seelenzahl 2654. 1718 waren in der Grafschaft Vaduz 570 und in der Herrschaft Schellenberg 287 haushäbliche Männer. Heute beträgt die Seelenzahl bei normalem Stande ca. 10'000, und diese sollen nun eine kleinere Vertretung haben, als unsere weniger zahlreichen Altvorderen. Schon die Geschichte lehrt uns, dass wir mehr Volksvertreter haben sollten.
Für die ausgleichende Erhöhung spricht auch das Volksverhältnis zwischen Unterland und Oberland. Das Oberland weist gegenwärtig rund 5500, in Friedenszeiten aber mit der Industriebevölkerung mindestens 6000, das Unterland aber nicht mehr als 3100 aus. Die Zahlen sind natürlich schwankend und es können im ganzen vorübergehend, wenn auch selten 10'000 Menschen im Land wohnen (Wohnbevölkerung). Es trifft im Oberland auf 6000 Einwohner 7, im Unterland auf 3100 5 Abgeordnete, oder es entfällt im Oberland auf 875 Bewohner ein Abgeordneter, im Unterlande auf 620 Einwohner ein Abgeordneter. Folglich sind im Oberlande gegenüber dem Unterlande (875-620) = 255 Einwohner nicht oder schlechter vertreten! Nach dem Vorschlage 10 Volksabgeordnete im Oberlande und 7 im Unterlande, träfe es auf 600 Oberländer und 445 Unterländer einen Abgeordneten. Das Verhältnis wäre immer noch für die Unterländer günstiger, indem der Unterschied in der vertretenen Bevölkerung immer noch 155 Personen macht! Aber schon aus diesem einfachen Vergleich erhellt die schlagendste Rechtfertigung für die Erhöhung, wie nicht minder, dass sie eine Forderung der Gerechtigkeit ist. Das Oberland weist rund 1000, das Unterland rund 620 Wählerstimmen nach den letzten Landtagswahlen aus. Es trifft demnach im Oberland jetzt auf 143 Wähler und im Unterland auf 124 Wähler einen Abgeordneten. (Unterschied 19 Wählerstimmen). Eine Oberländer Wählerstimme ist demnach heute politisch weniger wert als eine Unterländer. In Prozenten ausgedrückt ist eine Oberländer Wählerstimme nur (124/143) 84% wert. Von vielen wird deshalb gewünscht, dass entsprechend der Bevölkerungszahl Volksvertreter gewählt werden. Die Volkspartei erklärt sich aber mit einer Erhöhung der Zahl der Volksabgeordneten auf 10 resp. 7 einverstanden. In diesem Falle würden bei dem gleichen Wahlalter (24) im Oberlande auf einen Abgeordneten 100, im Unterlande aber rund 90 Wähler entfallen. Der Wert einer Oberländer Wählerstimme würde also 6% mehr betragen als beim alten, ungerechten System! Aus dieser ziffernmässigen Aufstellung erhellt die Gerechtigkeit des Antrages auf Vermehrung der Volksabgeordneten.
II.
Für die Erhöhung der Zahl der Volksvertreter spricht weiter die Einrichtung der fürstl. Abgeordneten. Dieses Institut entspricht unserer volkstümlichen Zeit absolut nicht mehr und es hätte eigentlich verschwinden sollen, weil es ein Zwitterding für die Vergangenheit und in Zukunft ist. Die ständische Verfassung hat keine solche gekannt. Gemäss der Landammanns-Verfassung hatte die Herrschaft das Recht der Auswahl des Landammanns aus den drei durch die Gemeindeversammlungen Vorgeschlagenen.
Erst die sogen. "freiheitliche" Verfassung von 1862 [5] hat die Einrichtung aufgestellt. – Man wendet ein, die fürstl. Abgeordneten seien ein Ersatz für das bei uns fehlende Herren- oder Oberhaus. Allein, dann müssten diese Abgeordneten selbständig tagen und nicht im Landtag das Zünglein an der Wage spielen. Politisch haben manche fstl. Abgeordneten ja früher eine bekannte Rolle gespielt, die wenig zu jener eines Herrenhaus-Mitgliedes passte. Wir haben bei uns keine Geburtsstände – und keine so grossen Herren, als dass man einen Herrenhausersatz suchen müsste. Die Einrichtung passt gar nicht in unsere Bevölkerung hinein und daher auch nicht in den Landtag. Eigentümlich ist es, dass diese Herren an allen Wahlen und Abstimmungen des Landtages teilnehmen. Noch eigentümlicher ist es, dass sie als Vertreter des Fürsten – denn Volksvertreter sind sie nicht – in Zukunft mithelfen sollen die Regierung bestimmen, dann nachher bestätigt der Landesfürst diese Regierung. Folgerichtig sollten doch nur die Volksabgeordneten die Regierungsräte wählen und den Regierungspräsidenten vorschlagen. Also wieder diese Zwitterstellung.
Ein fürstl. Abgeordneter hat gegenwärtig im Landtag soviel zu sagen wie ein Volksabgeordneter, der 143 resp. 124 Wählerstimmen vertritt. Das ist doch politisch nicht angängig. Es darf nicht mehr vorkommen, dass die fstl. Abgeordneten 1/5 aller Stimmen des Landtages ausmachen. Das wäre ja eine aristokratische, eine herrische und keine demokratische Verfassung. Liechtensteiner Volk, bedenke dies am Abstimmungstage und stimme Ja! Denke weiter an die recht sonderbare Praxis der fremden Landesverweser, dass sie nur ihnen genehme Leute dem Fürsten zur Ernennung vorschlugen, ganz gleich, ob die Vorgeschlagenen überhaupt beim Volke beliebt waren oder nicht. Inskünftig müssen d. fstl. Abgeordneten den Landtagswahlen vorgängig ernannt werden, wenn wirklich noch einigermassen demokratisch verwaltet werden will.
Aus diesen Gründen, lieber Leser, wollen wir den Einfluss der Volksabgeordneten erhöhen und jenen der fürstlichen vermindern. Hilf uns dazu, indem Du Ja stimmst.
III.
In den grösseren Gemeinden, die zu 1000 Einwohner zählen, amtieren neben dem Gemeinderate von 7 Mitgliedern noch der Vorsteher und Kassier, also 9. Über das ganze Land mit 9-10'000 Einwohnern hingegen nur 15 Räte, wovon noch drei Nicht-Volksabgeordnete. So etwas entspricht doch nicht mehr unserem demokratischen Empfinden und Denken, denn wir wollen doch eine auf breiter Grundlage beruhende Vertretung der Volksinteressen, ähnlich wie es unsere Vorfahren hatten oder 1848 anstrebten.
Es besteht sonst bei öffentlichen und zum Teil auch bei privaten Körperschaften geradezu eine gesetzmässige Erscheinung, dass je kleiner die Körperschaft, desto grösser verhältnismässig die Zahl der Ratsmitglieder. So entfällt im Kanton Zug auf je 250, in Obwalden auf je 200 und in Appenzell I.-Rh. auf je 250 Einwohner ein Kantons- bezw. Landratsmitglied.
So sagt Art. 54 der Verfassung des Halbkantons Unterwalden nid dem Wald: "Auf je 250 Seelen, bezw. einen Bruchteil von 125 Seelen ist ein Mitglied (des Landrates) zu wählen." [6] Dieser Halbkanton ist ein Gebirgsland wie wir.
Darnach müssten bei uns nicht nur 17 Abgeordnete, sondern sogar mindestens 33-34 gewählt werden. Warum diese Erscheinung? In kleinen Ländern sind die Volksinteressen viel mächtiger, daher sucht man diese Interessen durch möglichst breite Grundlage der Vertretung zum Ausdruck, aber auch in Einklang zu bringen. Wir wünschen und verlangen entsprechend dieser Erscheinung und der neuzeitlichen Forderung, dass die Volksvertretung eine Vertretung der verschiedenen Interessentengruppen, der Gemeinden, der Bauern, Handwerker, Arbeiter und der Gebildeten sei. Erst dann kommt die wahre Volksstimmung zum Ausdruck, und das ist wieder nur möglich, wenn die Zahl der Volksabgeordneten entsprechend erhöht wird. Verstehst du nun, lieber Leser, weshalb wir eine Erhöhung der Zahl der Volksabgeordneten anstreben? Wenn man Dir die Verhältnisse im Vorarlberg anführt, so bedenke, dass es dort noch nicht endgiltig geregelt ist. Jenes Land aber wollen wir uns nicht zum Muster nehmen!
Ein recht fauler Einwand ist es gegen die Erhöhung, wenn die Mehrkosten von fünf Abgeordneten ins Feld geführt werden. Die fünf Abgeordneten würden uns jährlich an Taggeldern im schlimmsten Falle etwa 800 Kronen mehr kosten. Das ist doch ein Betrag, der bei unserem Voranschlag von ½ Million Kronen nicht ins Gewicht fällt. Wie leicht liessen sich diese 800 Kronen in den übrigen Verwaltungszweigen einsparen. Wir haben noch Stellen, die uns Tausende Kronen kosten, die leicht billiger besetzt und ebenso gut besorgt werden könnten. Kann sich denn, so fragen wir, ein ehrlicher Demokrat, der dem Volke Rechte geben will, dieser kleinen Ausgabe wegen abhalten lassen, für deren Erhöhung zu stimmen? Das ist wohl nicht möglich.
Nichtssagend ist ferner der Einwand, es seien genug Leute im Landtage, wenn noch mehr hineinkommen, gehen die Sachen noch langsamer von statten. Gerade für diesen Fall wollen wir die richtigen Männer auswählen. Es soll keine Erbschaft im Landessessel und auch kein Ersitzungsrecht mehr geben. Der Tüchtige soll die Interessen des Volkes vertreten. Andere sollen keinen Ratssessel einnehmen.
Lass Dich, Wähler, durch so faule und lächerliche Einwände nicht abwendig machen!
IV.
Wähler! Es geht ein demokratischer Zug durch die Welt, der nicht so leicht, wie manche Herren glauben, verschwinden wird. Dafür sorgt der Völkerbund. Wähler, es handelt sich nicht etwa darum, dass das Oberland gegenüber dem Unterland zu kurz komme oder umgekehrt. Aber es handelt sich darum, dass im Landtage die Volksabgeordneten als Vertreter der Volksinteressen den Ausschlag geben und nicht einige Herren. Erst recht wollen wir demokratisch werden und deshalb beginnen wir im Landtag, der in Zukunft einen entscheidenden Einfluss auf die Regierungsmänner haben soll. Wenn aber dies eintreten soll, dann muss auch wieder der Volkswille im Landtage zum Ausdruck kommen.
Wähler! Fragen von ungeheurer Tragweite werden sich in der nächsten Zeit für unser Land zur Lösung aufwerfen. Verträge mit fremden Staaten u.a. und dazu brauchen wir den Einfluss des Volkes. Es sind Aufgaben, deren Lösung für Deine Kinder noch ausschlaggebend ist – wenn Du längst schon im Grabe ruhst! Es sollen nicht mehr Fremdlinge für uns die wichtigsten wirtschaftlichen Verträge abschliessen: nein, mindestens die Volksvertreter, ja alle Interessengruppen durch ihre Abgeordneten müssen einen entscheidenden Einfluss ausüben können.
Ja, für Dich, aufrechter Wähler, musst Du im Wahllokale nur ein Wort schreiben:
"Volksvertretung, nicht Herrenvertretung!"
Ja!