Maschinenschriftliches Memorandum der Regierung, verfasst von Prinz Eduard von Liechtenstein, an die Pariser Friedenskonferenz [1]
20.5.1919, Vaduz
Aide-Mémoire
Das souveräne Fürstentum Liechtenstein besteht seit dem Jahre 1719 und erlangte als Mitglied des von Kaiser Napoleon I. gegründeten Rheinbundes durch die Rheinbunds-Akte vom 12. Juli 1806 [2] volle Souveränität, welche durch die Wiener Kongress-Akte vom 9. Juni 1815 [3] eine weitere Bestätigung fand. Es bildet seit 1862 [4] eine konstitutionelle Monarchie mit eigener gesetzgebender Versammlung, Verwaltung und Justiz. Nach Auflösung des Rheinbundes trat das Fürstentum dem "Deutschen Bunde" (Confédération Germanique) bei, welchem es bis zu dessen Auflösung im Jahre 1866 angehörte. Seither ist das Fürstentum, welches das bis dahin bestandene geringe Militär-Kontingent aufgelassen hat, [5] mit anderen Staaten nicht mehr in ein Bündnisverhältnis getreten.
Demgemäss hat sich das Fürstentum als vollkommen neutral betrachtet und auch während des Weltkrieges stets diese Haltung beobachtet. Der Neutralität des Fürstentumes wurde durch eine Reihe konkreter Akte Ausdruck gegeben und wurde dieselbe auch von den kriegführenden Mächten mehrfach anerkannt. Die fürstliche Regierung gibt sich die Ehre, nachstehend die wichtigsten Akte, durch die das Fürstentum seine strikte Neutralität bewiesen hat, hier zusammenfassend anzuführen:
Die fürstliche Regierung hat
- den zu Kriegsbeginn aus Österreich ausgewiesenen französischen und englischen Lehrschwestern im Fürstentume bereitwillig Asyl geboten und auch wiederholt Angehörige der Ententestaaten aufgenommen.
- den in wiederholten Fällen aus dem Gebiete der Mittelmächte entwichenen Kriegsgefangenen freien Durchgang gewährt.
- gegen das Ansuchen des österreichisch-ungarischen Kriegsministeriums um Überstellung der sich im Fürstentume aufhaltenden Stellungsflüchtigen eine ablehnende Haltung eingenommen und das grundsätzliche Begehren des Gerichtes des Militärkommandos in Innsbruck vom 27. Jänner 1916 um Auslieferung österreichischer Deserteure unter Berufung auf die Neutralität abgelehnt. [6]
- dem Ansuchen der Spinnweberei Rankweil-Hohenems in Vorarlberg um Gestattung der Ausfuhr in Liechtenstein lagernder Rohbaumwolle nach Österreich keine Folge gegeben. [7]
- der Firma Jenny Spörry & Co. in Vaduz die Weiterbegebung der für ihre Spinnerei aus England bezogenen Maschinenteile an kriegsführende Staaten untersagt.
Auch in sonstiger Hinsicht hat die fürstliche Regierung den Warenverkehr nach Österreich den durch die Neutralitätspflichten bedingten Beschränkungen unterworfen, indem sie dem bereits vor dem Kriege bestandenen Ausfuhrverbote für Holz eine Reihe weiterer Ausfuhrverbote folgen liess, welche sich nicht bloss auf das in den ersten Kriegsjahren aus der Schweiz bezogene Mehl und die von dort im kleinen Grenzverkehr eingeführten Waren, sondern in der Folge auch auf alle wichtigeren Lebens- und Futtermittel, sowie sonstigen Bedarfsartikel wie besonders Wolle und Baumwollwaren aller Art erstreckte.
Diesen Verboten hat die fürstliche Regierung durch Aufstellung und successive Verstärkung einer eigenen Grenzwache gegen Österreich sowie durch wiederholte Verschärfung der Strafsätze für etwaige Übertretungen vermehrten Nachdruck gegeben.
Die fürstliche Regierung hat weiters einer Reihe im Auslande wohnhafter Liechtensteinscher Staatsbürger über deren Ansuchen amtliche Bestätigungen über die Neutralität des Fürstentumes ausgefertigt und es auch nicht unterlassen, dieselbe bei gegebenen Anlässen den Ententestaaten und der Schweiz gegenüber gleichfalls zu betonen, so in ihrer Note an das amerikanische Konsulat in St. Gallen vom 18. August 1914, Zahl 2243, [8] worin dessen Intervention zu Gunsten der Freigabe mehrerer in Frankreich irrigerweise internierter Liechtensteiner erbeten wurde, weiters in jener an den Herrn Präsidenten des Ministerrates der ägyptischen Regierung [Hussein Rushdi] in Cairo vom 12. Dezember 1914, Zahl 3262, [9] welche das Ansuchen der Firma Jenny Spörry & Co. in Liechtenstein um Gestattung des Bezuges von Rohbaumwolle zum Gegenstande hatte, sowie in der Note an das schweizerische Oberkriegskommissariat in Bern vom 28. Jänner 1915, Zahl 304 worin um die Überlassung von Brotmehl für Liechtenstein angesucht wurde. [10]
Weiters hat die fürstliche Hofkanzlei auf eine im Wege des k.u.k. Ministeriums des Äussern in Wien an sie gelangte Anfrage der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Wien durch die Verbalnote des genannten Ministeriums vom 25. September 1914, Zahl 76617/1914, mitteilen lassen, dass sich das Fürstentum Liechtenstein im gegenwärtigen Kriege als neutral betrachtet. [11]
Mittels Verbalnote vom 20. August 1915, Zahl 77284/7, hat das k.u.k. Ministerium des Äussern der amerikanischen Botschaft in Petrograd weiters das Ersuchen der fürstlichen Hofkanzlei vermittelt, dass die Liechtensteinischen Staatsbürger im Allgemeinen und Josef [richtig: Johann] Beck in Ekaderinodar [12] im Besonderen als Angehörige eines neutralen Staates erklärt und behandelt werden. [13]
Diese Schritte hatten auch Erfolg; die anfänglich in Frankreich internierten Liechtensteiner wurden wieder in ihre Heimat entlassen, die Besitzungen des in Paris wohnhaften Liechtensteiners Franz Paul Fischer dortselbst wie in Saigon und Cochinchina [14] der für die Besitzungen von Angehörigen Frankreich bekriegender Staaten verfügten Sequestrierung nicht unterzogen [15] und der Firma Jenny Spörry & Co in Vaduz der Bezug ägyptischer Baumwolle auf Grund der Erklärung der fürstlichen Regierung, den Wiederexport zu verhindern, bis zu der im Mai 1915 auch für Italien und die Schweiz erfolgten Einstellung des Baumwolleinfuhr aus Ägypten gestattet. [16]
Weiters hat das schweizerische Oberkriegs-Kommissariat mit Note 6. Februar 1915 [17] mitgeteilt, dass es ihm mit Rücksicht auf die Neutralität des Fürstentumes und die freundnachbarlichen Beziehungen zu der Schweiz gestattet sei, das Fürstentum unter der Bedingung mit Weizen zu versehen, dass dieser im Lande konsumiert werde. Für die strikte Einhaltung dieser Bedingung hat die fürstliche Regierung nicht bloss durch entsprechende Grenzabsperrung und Strafbestimmung, sondern auch besonders dadurch Vorsorge getroffen, dass jeweils nur die dem dringendsten Bedarfe entsprechenden Mengen zur Verteilung gebracht wurden, sodass eine Weiterbegebung praktisch nicht in Frage kommen konnte.
Auch die Ententemächte haben die Neutralität des Fürstentumes anerkannt. In dieser Hinsicht wird zunächst auf die Notiz der "The Times" in ihrer Nummer 40'700 vom 18. November 1914, Seite 12, Spalte 2 hingewiesen, laut welcher Sir Edward Grey namens der englischen Regierung im Parlamente eine ausdrückliche bezügliche Erklärung abgegeben hat. [18]
Gelegentlich eines Ansuchens der fürstlichen Regierung um Entlassung des in England internierten liechtensteinischen Staatsbürgers Robert Hämmerle [richtig: Albert Hemmerle] hat das Foreign Office laut an die amerikanische Botschaft in London gerichteter Note vom 27. Oktober 1915, Zahl 153724/15, ausgesprochen, dass der Genannte nicht als feindlicher Staatsbürger, sondern lediglich wegen seiner "feindlichen Verbindungen" (hostiles associations) im Haft genommen worden sei. [19] Ein weiterer Beweis, dass die englische Regierung das Fürstentum auch in der Folge als neutral anerkannte, ist darin zu erblicken, dass das königlich grossbritanische Auswärtige Amt laut Note an die königlich schwedische Gesandtschaft in London vom 13. Dezember 1918 Nr. 117945/1203/P, die Freilassung des Genannten unter der Voraussetzung in Aussicht stellte, dass die fürstliche Regierung für dessen Verbleiben im Lande bürge; [20] auf Grund der bezüglichen im Wege der grossbritanischen Gesandtschaft in Bern übermittelten Erklärungen der fürstlichen Regierung vom 11. Dezember 1918, Zahl 5293, [21] wurde Hämmerle auch tatsächlich in seine Heimat entlassen.
Die kaiserlich russische Regierung hat nach einer Mitteilung des k.u.k. Ministeriums des Äussern vom 14. Dezember 1915, Zahl 116293/7 an die fürstliche Hofkanzlei, einer Verbalnote der amerikanischen Botschaft in Wien vom 27. November 1915, Z. 3982, zufolge, den in Ekaterinodar wohnhaften liechtensteinischen Staatsangehörigen Johann Beck eine Bestätigung über die ihrerseits erfolgte Anerkennung der Neutralität Liechtensteins zukommen lassen. [22]
Nach einer an die fürstliche Hofkanzlei gerichteten Note der schweizerischen Gesandtschaft in Wien vom 26. Februar 1916, C.19, 15, 243, [23] hat die französische Regierung jedoch durch ihren Botschafter in Bern [Paul Beau] der schweizerischen Regierung allerdings mitgeteilt, dass das Fürstentum Liechtenstein nach ihrer Auffassung durch seine Zugehörigkeit zum österreichischen Zollgebiet ausserstande sei, seine Rechte zu verteidigen und die Pflichten eines neutralen Staates zu erfüllen, weshalb dasselbe in kommerzieller Hinsicht als Feindesland betrachtet werde.
Gegen diese inhaltlich der zitierten Note auch von der Anschauung der schweizerischen Regierung abweichende, die Neutralität des Fürstentumes nachträglich, jedoch einzig nach der angegebenen Richtung hin bestreitende Auffassung, hat die fürstlich Regierung bei der französischen Botschaft in Bern Vorstellungen erhoben, wobei zugleich um Bekanntgabe jener Bedingungen angesucht wurde, unter welchen die weitere Approvisionierung des Fürstentumes im Wege der Schweiz gestattet werden würde. Gleichzeitig wurde der Bereitwilligkeit Ausdruck gegeben, jede gewünschte Kontrolle über die Verwendung der eingeführten Waren einzuräumen. [24] Diese Vorstellungen stützten sich im Wesentlichen darauf, dass das Fürstentum trotz seiner Zugehörigkeit zum österreichischen Zollgebiet seine wirtschaftliche Selbständigkeit gewahrt und durch die bereits im vorstehenden angeführten Verbote des Warenverkehres nach Österreich auch in kommerzieller Hinsicht seine Pflichten als neutraler Staat korrekt erfüllt habe. Diese wirtschaftliche Selbständigkeit hat die fürstliche Regierung trotz des gegen die erwähnten Ausfuhrverbote von der österreichischen Regierung erhobenen Einspruches nachdrücklichst bestätigt, indem sie gegenüber dem Standpunkte der österreichischen Regierung, welche diese Ausfuhrverbote als dem bestehenden Zollvertrage [25] zuwiderlaufend erklärte, sich auf die Bestimmung des Artikels 23 dieses Vertrages stützte, nach welchem der freie Verkehr zwischen Liechtenstein und Vorarlberg nur in jenem Masse stattzuhaben hat, als der freie Verkehr zwischen letzterem Lande und den übrigen Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie gestattet sei. Durch die infolge des Krieges eingetretene Wirtschaftsgrenze zwischen beiden Teilen der Monarchie sei auch für Liechtenstein die Möglichkeit gegeben worden, seine Grenze gegen Vorarlberg und damit gegen Österreich abzuschliessen. [26]
Auch der Bestand eines Postübereinkommens mit Österreich [27] vermochte diesen Pflichten keinen Eintrag zu tun, da der Post- und Telefonverkehr im Lande von jeder Zensur freigeblieben ist und lediglich Österreich die Post nach und aus Liechtenstein in gleicher Weise auf österreichischem Gebiet der Zensur unterwarf, wie dies bei allen kriegsführenden Staaten neutralen Ländern gegenüber der Fall war. Die Unterbrechung des telefonischen Verkehres zwischen Liechtenstein und Österreich wurde seitens der Obertelegraphen-Direktion in Bern einvernehmlich mit der schweizerischen Militär-Behörde laut Zuschrift vom 23. Juli 1915, Zahl 581.8, zur Bedingung der Wiederzulassung des vorher seitens der Schweiz abgeschnittenen Telefon-Verkehrs zwischen Liechtenstein und der Schweiz gemacht, [28] und wurde letzterer Verkehr auf dieser Basis auch tatsächlich wieder aufgenommen.
Die französische Regierung hat gegenüber den Ausführungen der fürstlichen Regierung im Gegenstande nicht neuerlich Stellung genommen und das Ersuchen um weitere Belieferung des Landes mit Lebensmitteln aus der Schweiz nicht beantwortet; die fürstliche Regierung war daher in die schliessliche Zwangslage versetzt, das zu der Fleischversorgung des Landes nicht benötigte Vieh, für welches übrigens in der Schweiz keine günstige Absatzmöglichkeit bestand, nebst geringen Mengen von Bodenerzeugnissen an Österreich abzugeben, um von dort im Kompensationswege jene Lebensnotwendigkeiten wie Mehl, Zucker, Petroleum zu erlangen, deren Weiterbezug aus der Schweiz dem Lande verwehrt war. Dessungeachtet hat jedoch das Fürstentum auch nach Einstellung der Lebensmittelzuschübe aus der Schweiz diesem Lande seine sonstigen Überschüsse an Landesprodukten wie Holz, Torf, Streu, etc. weiter zugänglich gemacht und von den notwendigen Kompensationsartikeln abgesehen die Absperrungsmassnahmen gegen Österreich in vollem Umfange aufrecht erhalten. Die fürstliche Regierung glaubt sohin die volle Neutralität des Landes auch in kommerzieller Hinsicht nicht in geringerem Masse wie andere in diesem Kriege neutral gebliebene Staaten wie Dänemark, Holland Schweden und die Schweiz beobachtet und gewahrt zu haben.
Unter den dargestellten Umständen glaubt die fürstliche Regierung sich der sicheren Erwartung hingeben zu dürfen, die Friedenskonferenz werde dem Fürstentume Liechtenstein als neutralem Staate durch Zulassung einer Vertretung zur Friedenskonferenz in Versailles die Möglichkeit bieten, seine staatlichen Interessen, welche durch die bevorstehende politische Neugestaltung, insbesonders durch die allfällige staatsrechtliche Stellung des dem Fürstentume benachbarten Landes Vorarlberg und die Möglichkeit der Bildung neuer Zollgebiete auf dem durch den mit Österreich-Ungarn abgeschlossenen Zollvertrag umfassten Territorium in einschneidenster Weise berührt werden, an massgebender Stelle zur Geltung zu bringen, sowie dem Fürstentume durch Aufnahme in den Völkerbund die Gewähr einer gedeihlichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung schaffen. [29]