Landesverweser Leopold von Imhof versucht, Frankreich von der Neutralität Liechtensteins zu überzeugen


Maschinenschriftliches Schreiben von Landesverweser Leopold von Imhof an Paul Beau, französischer Gesandter in Bern [1]

September 1916 (15.9.1916)

Excellenz!

Bezugnehmend auf die Unterredung, welche ich kürzlich mit Herrn Botschaftsrat [André] Gilbert zu führen die Ehre hatte, nehme ich mir die Freiheit, Euerer Excellenz in Zusammenfassung meiner damaligen Ausführungen noch die schriftliche Bitte zu unterbreiten, bei der französischen und den ihr verbündeten Regierungen geneigtest dahin wirken zu wollen, dass der Regierung des Fürstentums Liechtenstein gestattet werde, die notwendigsten Approvisionierungsartikel aus oder durch die Schweiz zu beziehen.

Da nach meinen Informationen diesem Warenbezug der Umstand entgegensteht, dass das Fürstentum Liechtenstein von der Entete nicht als neutral anerkannt wird, [2] so sei es mir vorerst gestattet, die staatsrechtliche Stellung des Fürstentums und dessen Verhältnis zu Österreich in Kürze darzustellen.

Das Fürstentum Liechtenstein ist 1719 aus der Vereinigung zweier reichsunmittelbarer Herrschaften entstanden, [3] erlangte als Mitglied des von Napoleon I. 1806 gegründeten Rheinbundes volle Souverainität und trat nach Auflösung dieses Bundes dem "Deutschen Bunde" bei, welchem es bis zum Jahre 1866 angehörte. Seither ist das Fürstentum mit anderen Staaten nicht mehr in ein Bündnisverhältnis getreten und hat das bis dahin bestandene Militärkontingent aufgelassen.

Im Jahre 1852 schloss das Fürstentum mit Österreich einen Zoll- und Steuervertrag ab, [4] welcher im Jahre 1876 erneuert wurde [5] und seither ununterbrochen fortbesteht. Dieser jeweils nach Ablauf von 12 Jahren kündbare und seither stets stillschweigend erneuerte Vertag räumt – mit kurzen Worten gesagt – Österreich eine nasse Zollgrenze von etwa 28 km längs des Rheins ein. Er sichert dagegen dem Fürstentume neben anderen Vorteilen namhafte Einnahmen aus dem österreichischen Zollerträgnis, die derzeit jährlich zirka 200'000 K betragen und es der fürstlichen Regierung ermöglichen, mit Zuhilfenahme nur sehr geringfügiger Steuern den Aufwand für den Staatshaushalt zu bestreiten.

Dieser Zollvertrag bietet demnach dem Fürstentume sehr namhafte Vorteile; dieser Umstand hat das österreichische Finanzministerium vor Beginn der gegenwärtig laufenden 12jährigen Frist veranlasst, der Frage einer Revision des Vertrages näher zu treten, welche jedoch damals nicht zum Austrage kam.

Der Postbetrieb im Fürstentume wird auf Grund eines im Jahre 1911 abgeschlossenen Übereinkommens durch österreichische Postorgane besorgt. [6] Die bezüglichen Kosten werden von Österreich zur Gänze bestritten. Für die im Fürstentum erzielten, nach dem Geschäftsumfang wohl nur geringen Gebühreneinnahmen leistet Österreich ein jährliches Pauschale von 10'000 K an das Land. Ich möchte hiebei ausdrücklich betonen, dass die österreichischen Zensurvorschriften auf den Postverkehr gleichwie auf den Telegraphen- und Telephonverkehr im Inlande keine Anwendung finden. [7]

Beide Abkommen betonen ausdrücklich die Souverainität Liechtensteins und tun wohl seiner Neutralität keinen Eintrag. Die Lage und geringe Ausdehnung des Fürstentums bietet demselben allerdings wenig Gelegenheit, seine Neutralität praktisch zu dokumentieren. Immerhin aber kann darauf hingewiesen werden, dass das Fürstentum in mehrfachen Fällen Angehörigen der Entete-Staaten Asyl bot, [8] die von Österreich begehrte Auslieferung von Deserteuren unter Berufung auf seine Neutralität abgelehnt hat [9] und endlich auch generelle Verbote der Ausfuhr von Vieh, Fleisch, Tierhäuten, Heu, Butter, Milch, Käse, Kartoffeln und sämtlichen aus der Schweiz bezogenen Lebensmitteln nach Österreich erlassen hat, [10] von denen fallweise Ausnahmen nur insofern gestattet werden, als es sich im Interesse der Bewohner Liechtensteins um die Verwertung überschüssiger inländischer Produkte handelt.

Die Einhaltung der erwähnten Ausfuhrsverbote wird durch eine hinreichende Zahl an der österreichischen Grenze postierter Überwachungsorgane sichergestellt.

Der regierende Fürst hat seit jeher seine Residenz in Wien. Sein dortiges Palais sowie seine Hauptbesitzung in Mähren sind als exterritoriales Gebiet anerkannt.

Das Fürstentum ist eine konstitutionelle Monarchie mit eigener Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz und gehört zum schweizerischen Bistum Chur.

Es hat eine Ausdehnung von zirka 3 Quadratmeilen, wovon ungefähr 2/3 auf Gebirgsland entfallen. Wald- und Wiesenkultur überwiegt, zum Anbau eignet sich nur ein kleiner Teil der Rheinebene. Mais, Kartoffeln und in begünstigten Lagen Wein bilden die hauptsächlichsten Bodenprodukte, Viehzucht den Haupterwerbszweig der Bewohner, Getreide wird nur vereinzelt gebaut.

Die Bevölkerungszahl beträgt etwas über 11'100.

Zu deren Approvisionierung wurden monatlich rund 5 Wagen Weizen und 3 Wagen Mais angekauft; daneben traten gelegentlich in längeren Zeitabschnitten kleinere Bezüge an Reis, Teigwaren und Fett. Zur Ergänzung der heimischen Viehfuttermittel wurden monatlich einige Wagen Futtermais beschafft.

Die jeweils durch die fürstliche Regierung zur Verteilung gebrachten Mengen wurden nach dem unmittelbaren Bedarf und zwar derart knapp bemessen, dass eine Weiterbegebung nicht in Frage kommen konnte.

Seit diesem Jahre wurden monatlich 3 Wagen Essmais aus Österreich bezogen. Dasselbe würde auch die Versorgung Liechtensteins mit Brotgetreide übernehmen, doch dürften nach den bezüglichen Vorbesprechungen diese Getreidelieferungen österreichischerseits voraussichtlich von der Aufhebung der Ausfuhrsverbote für hiesige Landesprodukte [11] und vielleicht auch noch von der Auslieferung seiner Deserteure und entwichenen Kriegsgefangen abhängig gemacht werden.

Ehe die fürstliche Regierung zu der Frage Stellung nimmt, ob etwa unter dem Zwang der Verhältnisse auf diese zu gewärtigenden Bedingungen einzugehen wäre, gestatte ich mir, Euere Excellenz um sehr gefällige Mitteilung darüber zu ersuchen, ob respektive unter welchen Bedingungen die Entete der fürstlichen Regierung den Bezug der nötigen Approvisionierungsmittel im Wege der Schweiz gestatten würde, wobei ich die Bestimmung der der Bevölkerungszahl angemessenen Menge vollkommen dem billigen Ermessen freistelle.

Ich füge bei, dass ich mich gerne jeder gewünschten Kontrolle über die Verwendung dieser Waren, sowie der Feststellung der Tatsache unterwerfe, dass entgegen vereinzelten, von schlecht informierter Seite aufgestellten Behauptungen im Fürstentume keine den militärischen Interessen der Entete abträglichen Einrichtungen bestehen.

Indem ich der Hoffnung Ausdruck gebe, dass meine vorstehenden Ausführungen dazu beitragen, die hinsichtlich der neutralen Haltung des Fürstentums bestehenden Bedenken zu beseitigen, bitte ich Euere Excellenz, einer wohlgeneigten Prüfung der Frage der Approvisionierung Liechtensteins, welche schon vermöge der ganz geringen Zahl der in Betracht kommenden Bevölkerung die Interessen der kriegführenden Staaten gewiss in keiner Weise berührt, Ihre gütige Unterstützung nicht versagen zu wollen.

Eine deutsche Originalausfertigung gestatte ich mir beizuschliessen.

Genehmigen Euere Excellenz den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung und tiefsten Verehrung,

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[1] LI LA SF 13/1916/3342 ad 31. Am Kopf des Schreibens handschriftlicher Vermerk: "Konzept Zl. 2307 17 beigefügt!" Unter LI LA SF 13/1916/3342 ad 31 ein weiteres Exemplar des Texts sowie eine handschriftliche französische Übersetzung, angefertigt wohl von Eugen Nipp (vgl. dazu den Vermerk von Imhof auf LI LA SF 13/1916/3717 ad 31/3442, Imhof an Beau, 17.10.1916).
[2] Vgl. dazu LI LA SF 13/1916/0961 ad 31, Beau an Bundesrat Arthur Hoffmann, 16.2.1916.
[3] 1719 erhob Kaiser Karl VI. die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellenberg zum Reichsfürstentum Liechtenstein.
[4] "Vertrag zwischen Sr. Majestät dem Kaiser von Österreich etc. etc. etc. und Sr. Durchlaucht dem souverainen Fürsten von Liechtenstein den Beitritt Sr. Durchlaucht zu dem österreichischen Zoll- und Steuergebiete betreffend", abgeschlossen zu Wien am 5.6.1852, die Ratifikationen ausgewechselt am 5.7.1852 (LI LA SgRV 1852).
[5] "Vertrag zwischen Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich und apostolischen Könige von Ungarn und Seiner Durchlaucht dem souverainen Fürsten von Liechtenstein über die Fortsetzung des durch den Vertrag vom 5. Juni 1852 gegründeten Österreichisch-Liechtenstein'schen Zoll- und Steuervereines" vom 2.12.1876 (LGBl. 1876 Nr. 3).
[6] Übereinkommen zwischen der österreichischen und der liechtensteinischen Regierung betreffend die Verwaltung des Post-, Telegraphen- und Telephondienstes im Fürstentume Liechtenstein, LGBl. 1911 Nr. 4.
[7] Der österreichischen Zensur unterlag jedoch der gesamte Postverkehr mit dem Ausland, auch die Post von und nach der Schweiz, vgl. L.Vo., Nr. 51, 19.12.1914, Beilage (Protokoll der Landtagssitzung vom 7.12.1914).
[8] Liechtenstein bot 1915 mehreren aus Österreich ausgewiesenen englischen und französischen Lehrschwestern und 1916 drei französischen Staatsangehörigen Asyl (LI LA V 003/0040/3, Imhof an Hermann von Hampe, 4.3.1916).
[9] Auf eine Anfrage des k.u.k. Gerichts des Militärkommandos Innsbruck (LI LA RE 1916/0407 ad 207, k.u.k. Gericht des Militärkommandos Innsbruck an Regierung, 27.1.1916) teilte die Regierung mit, dass Liechtenstein weder der Auslieferung von Deserteuren, noch der Verfolgung eines solchen auf liechtensteinischem Territorium zustimmen könne (LI LA RE 1916/0407 ad 207, Regierung an Militärkommando Innsbruck, 29.1.1916).
[10] Vgl. die Verordnung vom 9.4.1915 womit Bestimmungen hinsichtlich des Verbrauches von Mehl und Brot sowie bezüglich des kleinen Grenzverkehrs getroffen werden, LGBl. 1915 Nr. 4, die Verordnung vom 26.5.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Vieh und Fleisch, LGBl. 1915 Nr. 9 und die Verordnung vom 9.8.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Fettheu, Emd und Magerheu, LGBl. 1915 Nr. 12.
[11] Tatsächlich drängte Österreich angesichts der angespannten Versorgungslage in Vorarlberg auf eine Aufhebung v.a. der Viehausfuhrverbote, die in Widerspruch zum Zollvertrag stünden. Vgl. LI LA SF 13/1915/ad 3851/304, k.k. Finanzministerium an Hofkanzlei, 2.11.1915.