Maschinenschriftliches Schreiben von Landesverweser Leopold von Imhof, gez. ders., an Hermann von Hampe, den Leiter der fürstlichen Hofkanzlei [1]
4.3.1916
Euer Hochwohlgeboren,
Hochverehrtester Herr Hofrat!
In Beantwortung des sehr geschätzten Schreibens vom 27. Februar l.J., Nr. 2773, [2] beehre ich mich, zunächst meiner Auffassung dahin Ausdruck zu geben, dass der vom französischen Gesandten [Paul Beau] in Bern hinsichtlich des staatsrechtlichen Verhältnisses des Fürstentums vertretene Standpunkt keinen Anlass zu ernsten Besorgnissen bietet. Angezettelt ist die Sache durch den unverständigen Übereifer des Sohnes des Direktors der Weberei Rosenthal in Vaduz (Bruno Wenzel), der sich in Bern gerne die Lorbeeren geholt hätte, für diese Fabrik die Ausfuhr von Garn zu erwirken, und zu diesem Zwecke in Bern überall herumlief, wobei er aber nur Unsinn machte. Er war dann noch naiv genug, mir beweisen zu wollen, dass er nichts unversucht gelassen habe, wofür er sich allerdings nicht mein Lob, sondern eine scharfe Zurechtweisung holte. Der Vorstand der Abteilung für die einschlägigen Ausfuhrsangelegenheiten, der gewechselt hatte, hat sich durch das Gerede des Obgedachten veranlasst gesehen, beim französischen Gesandten in Bern wegen unserer Neutralität nochmals anzufragen und das Ergebnis ist wohl die französische Note [3] an den Chef des betreffenden Departements.
Die feine Unterscheidung, dass Liechtenstein nur in kommerzieller Hinsicht nicht als neutral angesehen werden könne, scheint mir schon dafür zu sprechen, dass der französische Gesandte uns gegenüber keine direkt feindselige Haltung einnimmt, und unserer Approvisionierung [4] nichts in den Weg legen will. Es ist ihm anscheinend nur darum zu tun, den Übertritt von Baumwolle und Garnen zu hindern, was ihm von seinem Standpunkte aus niemand verübeln kann. Ich habe auch seit Einlangen seiner Note beim Politischen Departement, dessen Chef, Bundesrat [Arthur] Hoffmann, uns sehr freundlich gesinnt ist, 7 Wagen Weizen, 3 Wagen Mais und 3 Wagen Hafer bekommen. [5] Dies vorausgeschickt, glaube ich, dass die Note des schweizerischen Gesandten in Wien [Charles-Daniel Bourcart] am besten gleich meritorisch seitens der fürstl. Hofkanzlei zu beantworten wäre. Hiebei dürfte meines unmassgeblichen Dafürhaltens etwa nachstehend skizzierte Form zu wählen sein:
Die fürstl. Hofkanzlei habe aus dem sehr geschätzten Schreiben vom 26. Februar l.J. ersehen, dass Seine Exzellenz der Herr französische Gesandte in Bern dem zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und Österreich-Ungarn bestehenden Zollvertrage [6] die Wirkung beimesse, dass das Fürstentum der Kontrolle und Macht Österreich-Ungarns unterworfen und somit ausser Stande sei, seine Rechte zu wahren und die Neutralitätspflichten zu erfüllen. [7]
Dem gegenüber glaube man [8] geltend machen zu können, [9] dass die Vereinbarungen, welche dem Fürstentume einen Anteil an den im österreichischen Kronlande Vorarlberg eingehenden Zöllen und Gefällen sichern, die politische Selbständigkeit des Landes in allen anderen Betreffen unberührt lassen und daher durchaus nicht von dem vorerwähnten weitgehenden Einflusse sind. Bei den Verhältnissen dieses Gebirgslandes sei allerdings wenig Gelegenheit gegeben gewesen, die Selbständigkeit und Neutralität des Fürstentums praktisch zu dokumentieren - immerhin könne aber darauf hingewiesen werden, dass das Fürstentum im Vorjahre mehreren aus Österreich ausgewiesenen englischen und französischen Lehrschwestern Asyl bot und erst kürzlich wieder 3 Franzosen beherbergte. [10]
Die Kriegslage habe in kommerzieller Hinsicht für Liechtenstein insoferne eine bedeutende Änderung gebracht, als der bis dahin vertragsmässig bestandene freie Verkehr nach Vorarlberg unterbrochen wurde. [11]
Eines der wichtigsten Produkte des Landes, das Holz, sei bereits früher (auf Grund des § 26 des Gesetzes vom 8. Oktober 1865) [12] vom freien Verkehr ausgenommen gewesen und heuer in grossen Quantitäten nach der Schweiz exportiert worden. Ausserdem habe die fürstl. Regierung seit Beginn des Krieges Vorschriften erlassen, wonach die Ausfuhr von Vieh und Fleisch, Heu, Butter, Milch, Käse und Kartoffeln sowie von sämtlichen aus der Schweiz bezogenen Lebensmitteln untersagt wurde, [13] welche Verbote allerdings alle in erster Linie den Zweck verfolgten, dem Lande die nötigen Nahrungsmittel vorzubehalten, immerhin aber nicht möglich gewesen wären, wenn die vorbezeichnete Annahme Seiner Exzellenz des Herrn französischen Botschafters in Bern [14] zuträfe. - Auch wurde das österreichischerseits gestellte Ansuchen um Auslieferung von Deserteuren unter Hinweis auf die Neutralität des Fürstentums abgelehnt. [15]
Die fürstl. Hofkanzlei gebe sich bei dieser Sachlage der Erwartung hin, dass der gedachte Vertreter der bisherigen grossmütigen Unterstützung des kleinen Fürstentums seitens der Schweiz kein Hindernis in den Weg legen werde. [16]
Indem ich hoffe, Euer Hochwohlgeboren mit dieser Darstellung, der ich allerdings mit Leichtigkeit eine wesentlich anders gefärbte entgegensetzen könnte, einigermassen zu dienen, zeichne ich mit dem Ausdrucke meiner vorzüglichsten Hochachtung und tiefster Verehrung als
Euer Hochwohlgeboren
ergebenster
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[1] LI LA V 003/0040/3 (Aktenzeichen 961/Reg; 3231). Unvollständiger handschriftlicher Entwurf des Antwortschreibens unter LI LA SF 13/1916/0961 ad 0031.
[2] Mit Schreiben vom 27.2.1916 an Landesverweser Leopold von Imhof hatte Hofkanzleileiter Hermann von Hampe mitgeteilt, dass die französische Regierung das Fürstentum Liechtenstein, solange es in der österreichisch-ungarischen Zollgrenze eingeschlossen sei, hinsichtlich des Handelsverkehrs als Feindesland betrachte. Die diesbezügliche Note des französischen Botschafters in Bern an den Schweizer Bundesrat Hoffmann war der fürstlichen Hofkanzlei durch den schweizerischen Gesandten in Wien, Charles-Daniel Bourcart, am 26.2. übermittelt worden. Die Hofkanzlei ersuchte nun Landesverweser Imhof um Mitteilung, ob und in welcher Weise die Beantwortung der Zuschrift der Schweizer Gesandtschaft erfolgen solle bzw. ob die diesfälligen Aufklärungen von Seite der liechtensteinischen Regierung unmittelbar an das Eidgenössische Politische Departement abgegeben werden wolle (LI LA SF 13/1916/0961 ad 0031).
[3] Note des französischen Botschafters in Bern Paul Beau an den Schweizer Bundesrat Arthur Hoffmann, Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements, vom 16.2.1916, in welcher Hoffmann ersucht wurde, die geänderte Auffassung der französischen Regierung zur liechtensteinischen Neutralität der "Sociéte suisse de surveillance économique (SSS)" zur Kenntnis zu bringen (LI LA SF 13/1916/0961 ad 0031). Die Aufgabe der im Oktober 1915 gegründeten SSS war es, Lieferungen von Waren der Ententestaaten über schweizerische Firmen an die Zentralmächte zu verhindern.
[4] Approvisionierung: Lebensmittelversorgung.
[5] Vgl. in diesem Zusammenhang das Schreiben von Landesverweser Imhof an Hofkanzleileiter Hampe vom 7.2.1916, in dem Imhof über die mündlichen Zusagen der Schweizer Bundesräte Camille Decoppet und Arthur Hoffmann berichtete, Liechtenstein weiterhin mit Weizen und anderen Lebensmitteln zu beliefern (LI LA SF 13/1916/0567 ad 0031).
[6] Vgl. den österreichisch-liechtensteinischen Staatsvertrag vom 2.12.1876 über die Fortsetzung des am 5.6.1852 gegründeten Zoll- und Steuervereines, LGBl. 1876 Nr. 3. In Art. 1 des Vertrages hatte sich der souveräne Fürst von Liechtenstein ausdrücklich die landesherrlichen Hoheitsrechte für das Fürstentum vorbehalten.
[7] So heisst es im besagten Schreiben des französischen Gesandten in Bern über die aktuelle Auffassung der französischen Regierung zur liechtensteinischen Neutralität im Originalwortlaut: "Il considère en effet que la Principauté de Liechtenstein soumise au contrôle et à l’autorité de l’ennemi se trouve dans l’incapacité de défendre ses droits ou de remplir les obligations d’un état neutre."
[8] Durchgestrichen: "die fürstliche Hofkanzlei".
[9] Durchgestrichen: "dürfen".
[10] Es kam während des Ersten Weltkrieges wiederholt vor, dass aus österreichischen Kriegsgefangenenlagern geflüchtete Soldaten über Liechtenstein in die Schweiz zu entkommen suchten.
[11] Trotz des in Art. 23 des österreichisch-liechtensteinischen Zollvertrages von 1876 (LGBl. 1876 Nr. 3) garantierten freien Warenverkehrs zwischen Vorarlberg und Liechtenstein kam es infolge der von Österreich nach Kriegsausbruch verfügten Ausfuhrsperre für Getreide zunächst zu einem Lieferungsunterbruch für Liechtenstein.
[12] Nach § 26 der Waldordnung vom 8.10.1865 war der Verkauf von Holz und Holzkohle aus den Gemeinde- und Genossenschaftswaldungen in das Ausland an die Bewilligung der Regierung gebunden (LGBl. 1866 Nr. 2). Vgl. in diesem Zusammenhang das Ersuchen von Landesverweser Imhof an die fürstliche Hofkanzlei vom 23.1.1916 um Intervention beim österreichischen Finanzministerium zwecks Erleichterung der Holzausfuhr aus Liechtenstein in die Schweiz, um im Gegenzug nicht die Lebensmittelversorgung des Fürstentums durch die Schweiz zu gefährden (LI LA RE 1916/0341 ad 0274).
[13] Vgl. die Verordnung vom 9.4.1915, womit Bestimmungen hinsichtlich des Verbrauches von Mehl und Brot sowie bezüglich des kleinen Grenzverkehrs getroffen werden (LGBl. 1915 Nr. 4): § 4 bestimmte, dass das dem Land unter der Bedingung des Verbrauchs im Inland überlassene Getreide, die daraus gewonnenen Mahlprodukte sowie das daraus erzeugte Brot unter keinen Umständen ausser Landes gebracht werden durften. Vgl. auch die Verordnung vom 26.5.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Vieh und Fleisch (LGBl. 1915 Nr. 9). Vgl. ferner die Verordnung vom 9.8.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Fettheu, Emd und Magerheu (LGBl. 1915 Nr. 12).
[14] Durchgestrichen: "voll".
[15] Vgl. etwa das diesbezügliche Schreiben der liechtensteinischen Regierung an das Militärkommando Innsbruck vom 29.1.1916 (LI LA RE1916/0407 ad 0207). Begründet wurde die liechtensteinische Haltung, keine Deserteure an Österreich-Ungarn auszuliefen, mit der hauptsächlich auf der Neutralität basierenden Lebensmittelversorgung des Landes.
[16] Die fürstliche Hofkanzlei teilte in diesem Sinne der schweizerischen Gesandtschaft in Wien mit Schreiben vom 9.3.1916 mit, dass nach Auffassung der liechtensteinischen Regierung der französische Gesandte in Bern der weiteren Unterstützung Liechtensteins durch die Schweiz kein Hindernis in den Weg legen werde (LI LA V 003/0040/3).