Maschinenschriftliches Schreiben von Emil Beck an die Gesandtschaft in Wien [1]
29.11.1920, Bern
Völkerbund
Anmeldung
Von Genf zurückgekehrt, wo ich vom 23.–27. dieses Monats zur Verfügung der Subkommission des Völkerbundes, welche unser Aufnahmegesuch vorzuberaten hat, sein musste, beehre ich mich, Ihnen über diese Frage folgendes mitzuteilen.
Leider hat das Fürstentum recht schlechte Aussichten, als gleichberechtigtes Mitglied in den Völkerbund aufgenommen zu werden, sodass man uns möglicherweise vor das Dilemma stellen wird, entweder als Mitglied mit bloss konsultativer Stimme aufgenommen zu werden oder ausserhalb des Völkerbundes zu bleiben. Das einzige Argument, auf das sich der Völkerbund dabei heute noch stützt, ist die Kleinheit des Landes und namentlich die geringe Bevölkerungszahl.
Dies vorausgeschickt, will ich Sie im folgenden über den Gang der Verhandlungen kurz orientieren.
Gleich bei meiner Ankunft in Genf erfuhr ich von der schweizerischen Delegation (bestehend aus den Herren Bundespräsident [Giuseppe] Motta, alt Bundesrat [Gustave] Ador und Ständerat [Paul Emil] Usteri als Delegierten und Prof. [Max] Huber und Dr. [Paul] Ruegger als Experten), an welche das Generalsekretariat sich wandte, da es von meiner Delegierung nicht Kenntnis hatte, dass sich unserer Aufnahme ziemliche Schwierigkeiten entgegenstellen. Dass unsere Situation nicht sehr aussichtsvoll war, ergab sich schon daraus, dass alle andern Kleinstaaten von ungefähr der gleichen Grösse bereits ausgeschaltet waren. Das Gesuch San Marinos war wegen eines Formfehlers zurückgewiesen worden, während andere Kleinstaaten, z.B. Monaco, ihr Gesuch zurückgezogen hatten, was ihnen offenbar nahe gelegt worden war durch die ihnen nahestehenden Grosstaaten. Die grundsätzliche Frage der Aufnahme von Kleinstaaten musste daher bei unserem Gesuch aufgerollt werden, wenn wir dasselbe aufrecht erhalten. Herr Motta, der ein Refus befürchtete, riet mir daher, je nach der Stimmung in der Subkommission, einer Verschiebung der Behandlung unseres Anmeldegesuches auf die nächste Versammlung zuzustimmen.
Ich versuchte dann sofort, mit dem Generalsekretär des Völkerbundes [Eric Drummond], dem ich 10 Tage vorher einige Auskünfte hatte geben müssen, zu sprechen. Ich konnte jedoch nur mit Herrn Major [Gerald] Abraham dem Sekretär der zweiten Subkommission der fünften Kommission des Völkerbundes sprechen, welcher mit ein Schreiben mit 4 Fragen überreichte, [2] das ich in Abschrift hier beilege. Dabei betonte er, dass ich die Antworten nur in ganz wenigen kurzen Sätzen fassen müsse, weil sie sonst nicht gelesen würden. Meine Antworten ersehen Sie aus der ebenfalls beiliegenden Abschrift meiner Note. [3]
Donnerstag, den 25. November, um 11 Uhr wurde ich vor die Subkommission geladen, deren Mitglieder Sie in der zitierten Note erwähnt finden. [René] Viviani hatte sich durch [Jean] Hennessy vertreten lassen. [Tommaso] Tittoni, der damals bettlägerig war, durch [Emilio] Pagliano. Nach einigen einleitenden Worten des Vorsitzenden, Lord Robert Cecil, wurden vom Vorsitzenden und von den Mitgliedern [4] (teils französisch, teils englisch) einige Fragen an mich gerichtet, die ich (französisch) beantwortete, ohne mich aber auf längere Ausführungen einlassen zu dürfen.
In erster Linie wurde die Frage der Souveränität des Fürstentumes aufgeworfen. Diesbezüglich verwies ich daraufhin, dass das Fürstentum schon von Napoleon I. als souverän anerkannt worden war, dass selbst die meisten Mitglieder des Völkerbundes unsere Selbständigkeit noch letztes Jahr bei der Übernahme der Interessenvertretung durch die Schweiz ausdrücklich anerkannt hatten, [5] und dass sogar die Friedenskonferenz diese Anerkennung im Frieden von St. Germain festgelegt habe. [6] Auch Österreich habe mehrfach ausdrückliche Erklärungen in diesem Sinne abgegeben. Dem Einwand, dass der österreichische Zollvertrag [7] die Souveränität einschränke, begegnete ich mit dem Hinweis darauf, 1. dass dieser Zollvertrag seit einem Jahr gar nicht mehr besteht, [8] 2. dass er unsererseits frei kündbar war und 3. dass er die Souveränitätsrechte ausdrücklich vorbehielt.
Dem gegenüber behauptete Hennessy, eine Abhängigkeit von Österreich sei doch gegeben gewesen durch die österreichische Staatsangehörigkeit des Fürsten [Johann II.], welche sich aus seiner Mitgliedschaft im Herrenhaus notwendig ergebe. [9]
Diese Abhängigkeit und die österreichische Nationalität des Fürsten bestritt ich aber. Dafür, dass das österreichische Verfassungsrecht die österreichische Staatsbürgerschaft nicht zur notwendigen Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Herrenhaus machte, verwies ich auf andere ähnliche Fälle (Coburg). [10] Dass aber dieses Verhältnis in Bezug auf den regierenden Fürsten auch tatsächlich gegeben war, dafür sei die Exterritorialität seiner Person, der Mitglieder seiner Familie und seiner Residenz genügender Beweis. Hier wäre es mir allerdings wertvoll gewesen, eine Abschrift des Dokumentes zu haben, durch welches dem Fürsten Sitz und Stimme im Herrenhaus gewährt wurde, wodurch der Beweis für meine Behauptung sich vielleicht wesentlich erleichtert hätte. [11]
Dem Einwand Lord Cecils, dass der im Pakt [12] aufgestellte Begriff self governing states mehr verlange, als einen bloss rechtlich souveränen, nämlich einen auch tatsächlich unabhängigen Staat, konnte ich die Frage entgegenhalten, ob überhaupt ein Staat denkbar wäre, der von allen andern Staaten tatsächlich ganz unabhängig sei.
Bei der Frage der demokratischen Ausgestaltung der Verfassung machte ich aufmerksam, dass dieselbe aus dem Jahre 1862 stammt, [13] und dass eine Revision bereits im Gange sei, wobei ich auf die zwischen dem regierenden Fürsten und den beiden politischen Parteien getroffenen Vereinbarungen hinweisen konnte (Initiative und Referendum).
Schwierig war sodann die Frage, in welcher Weise wir Art. 10 des Paktes zu erfüllen gedächten, welcher die Mitglieder zur Aufrechterhaltung der territorialen Unversehrtheit gegen jeden äussern Angriff verpflichtet. Ich musste zugeben, dass an die Schaffung einer Armee nicht gedacht werden könne. Dagegen würde das Volk im Falle der Not die Grenzen des Landes doch zweifellos nach Kräften verteidigen, wie § 21 unserer Verfassung dies verlange. Schliesslich sei doch zu hoffen, dass die weitgehende Abrüstung nicht ein Hindernis bilden könne für die Aufnahme in den Völkerbund.
Es blieb somit nur noch die Möglichkeit sich auf die Kleinheit unseres Staates zu berufen. Der Vertreter Frankreichs liess durchblicken, es wäre offenbar ungerecht, wenn ein so kleiner Staat in der Versammlung genau das gleiche Stimmrecht hätte, wie ein Grosstaat. Frankreich müsste daher im Falle der Aufnahme Liechtensteins verlangen, dass durch einer Revision des Paktes den Grosstaaten im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung mehrere Stimmen gegeben würden. Das begegnete aber dem Widerstand der andern Staaten, da hiedurch der ganze Völkerbundpakt umgestürzt würde. Auch wurde hervorgehoben, dass in einzelnen Fragen Einstimmigkeit erforderlich sei, wodurch das Gewicht der kleinen Staaten in der Versammlung noch wesentlich erhöht würde.
Hier nahm nun Herr Motta, der zur Verhandlung auch zugelassen worden war, Veranlassung, seine Auffassung darzulegen.
Er unterstützte nachdrücklich meinen Standpunkt, machte aber, für den Fall, dass dieser nicht akzeptiert würde, den Vorschlag, dass das Fürstentum nur mit beratender Stimme aufgenommen würde. Der Staat, der jeweils seine Interessen im allgemeinen vertritt, könnte dieselben dann auch in der Völkerbundsversammlung vertreten, ohne dafür aber ein besondere Stimme zu bekommen. Auch dieser Vorschlag begegnete noch gewissen Bedenken.
Den weiteren Gang der Verhandlungen kenne ich leider nicht, da ich in diesem Moment (mit Herrn Motta) entlassen wurde.
Am Nachmittag des gleichen Tages gelang es mir dann, den italienischen Vertreter, Herrn Pagliano, für unsern Standpunkt zu gewinnen, indem durch die Aufnahme Liechtensteins ein Präjudiz geschaffen würde für die Aufnahme von San Marino, welche wahrscheinlich einen italienischen Vertreter delegieren würde, sodass Italien auf diese Weise seine Stellung in gewissem Sinne verstärken könnte. Ich konnte Herrn Pagliano noch einige Angaben machen, die er mir in der grossen Kommission zur Geltung zu bringen versprach. Wie ich später erfuhr, scheint aber Herr Tittoni seine Auffassung nicht ganz zu teilen.
Am 26. erlangte ich bei Lord Cecil eine kurze Audienz, um ihm für meinen Standpunkt noch weitere Unterlagen zu bringen, und ihn in allen wünschenswerten Punkten aufzuklären. Dabei flocht ich die Bemerkung ein, dass die Tschecho- Slowakei, die in dieser Kommission auch vertreten war, gegenteilige Interessen habe und so gewissermassen Richter in eigener Sache sei.
Lord Cecil antwortete, es scheine ihm, die ganze Kommission sei dem Fürstentum sehr sympathisch gestimmt. Die Schwierigkeiten, die sich unserer Aufnahme entgegenstellen, ergeben sich nicht aus der Frage der Souveränität und Unabhängigkeit, sondern lediglich aus der Kleinheit des Staates in Verbindung mit der Tatsache, dass im Völkerbund das Prinzip der Gleichberechtigung gelte. Dies werde wohl dazu führen, dass das Fürstentum auf sein Stimmrecht werde verzichten müssen. Wenn diesem die Unverletzlichkeit des Gebietes und die Lebensmittelzufuhr garantiert werden, so hätte es wohl erreicht, was es billigerweise verlangen könne. [14]
Es wird nun zunächst Sache der grossen Kommission sein, in welcher alle 41 Staaten vertreten sind, zu unserer Aufnahme Stellung zu nehmen. Unsere Aufgabe ist es nun, zu überlegen, welchen Standpunkt wir einnehmen wollen. Ich werde wahrscheinlich nächster Tage wieder nach Genf reisen müssen und wäre daher für baldigste weitere Instruktionen sehr dankbar.
Nach meiner Auffassung wird es richtiger sein, dass das Fürstentum sich ohne Stimme aufnehmen lässt, als dass es ausserhalb des Völkerbundes bleibt. [15] Allerdings müssten wir uns dabei alle nötigen Kautelen geben lassen.
- Vor allem wäre zu verlangen, dass die Souveränität und Unabhängigkeit des Fürstentums ausdrücklich anerkannt wird, damit nicht aus dem Vorenthalten des Stimmrechtes der Schluss gezogen werden kann, dass die Souveränität unseres Staates dadurch eingeschränkt worden sei.
- Sodann würden wir uns die Integrität des Gebietes, die Lebensmittelzufuhr und den Schutz des Völkerbundes garantieren lassen.
- Von allen militärischen Verpflichtungen müsste das Fürstentum gänzlich befreit werden.
- Ebenso würde ich versuchen – was für uns ziemlich wichtig ist – die Befreiung von den finanziellen Beitragsleistungen durchzusetzen, die für das Fürstentum im laufenden Jahr etwa 70'000.– Fr. betragen dürften, gemessen am schweizerischen Beitrag, welcher mehr als eine Million Schweizerfranken betragen soll. In Zukunft wird sich dieser Beitrag wohl noch erhöhen.
- Demgegenüber müsste dann wohl auf das Stimmrecht verzichtet werden. Jedoch sollte dies nicht endgültig geschehen, sondern nur unter Vorbehalt einer spätern Revision des Paktes oder der Zuerkennung des Stimmrechtes an andere Kleinstaaten. Vielleicht wäre es auch möglich, von Anfang an wenigstens beratende [16] Stimme zu haben.
Auch über die Art und Weise, in welcher einer solche Regelung erfolgen könnte, sollten wir uns Rechnung geben, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Notwenigkeit einer Revision des Paktes nach Möglichkeit vermieden werden muss.
Von diesem letztern Gesichtspunkt aus wäre es vielleicht notwendig, dass wir unsere Anmeldung – sobald die Frage einmal so weit sein wird – in dem Sinne modifizieren, dass wir auf das Stimmrecht verzichten, während die Völkerbundsversammlung dann durch einen Beschluss die Aufnahme des Fürstentumes unter besonderen Bedingungen erklären würde. Eine Formulierung in diesem Sinne habe ich bereits versucht. Ich wäre aber auch in dieser Beziehung für positive Weisungen oder Vorschläge sehr dankbar. Denn es ist praktisch ein ziemlicher Vorteil, wenn man mit einer fertigen Redaktion vor die Kommission treten kann.
Die Aufnahme Österreichs scheint nicht grossen Schwierigkeiten zu begegnen. Auch Bulgarien hat Aussichten, aufgenommen zu werden, während hingegen eine Reihe russischer Randstaaten, wie ich Ihnen bereits telegrafisch mitteilte, wohl nicht aufgenommen werden, weil sie noch nicht genügend konsolidiert erscheinen.
Ich gewärtige in Anbetracht dieser Sachlage baldmöglichst einen eingehenden Bericht. [17] Die Verhältnisse verlangen meistens ein rasches Handeln. Ich vermisse daher sehr die Möglichkeit, chiffrierte Telegramme verwenden zu können, da sich diese Fragen für offene Telegramme meistens nicht gut eignen.
Eine Abschrift dieses Schreibens geht gleichzeitig an die fürstliche Regierung in Vaduz.