Artikel in den "Oberrheinischen Nachrichten" [1]
22.9.1920
Zur Entwirrung der Landeskrise
Anlässlich der jüngsten Anwesenheit des Landesfürsten [Johann II.] wurde auch der Versuch unternommen, die politische Krise im Lande zu lösen und damit für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes die Grundlagen zu schaffen. [2] Die Unterhändler gingen dabei von der richtigen Erkenntnis aus, dass die Lösung der Verfassungskrise Grundvoraussetzung zu einem weiteren friedlichen und gedeihlichen Zusammenarbeiten sei. Dieser Auffassung hat sich nach den gewonnenen Eindrücken auch der Landesfürst angeschlossen. Nach langen Bemühungen mit Persönlichkeiten aus beiden Parteien ist es den fürstlichen Unterhändlern gelungen, gemeinsame Richtlinien für die sofort in Angriff zu nehmende Total-Verfassungsrevision zu schaffen. [3]
Bei den Verhandlungen konnten die Mitglieder der Volkspartei nach und nach den Eindruck gewinnen, dass das Hindernis zu einer freiheitlichen, modernen Verfassungsrevision weniger beim Landesfürsten als anderswo zu suchen ist. Es fand eine offene, männliche Aussprache über gar manche traurige Erscheinung der Vergangenheit statt, wurden so manche bedauerliche Missverständnisse, wie es in der Ansprache des Fürsten an die Mitglieder der Volkspartei heisst, [4] geklärt. Auf Einzelheiten einzutreten, enthalten wir uns mit dem Wunsche nach friedlicher, versöhnlicher Arbeit beider Parteien, bei aller Wahrung des Standpunktes.
Unglaubliche Gerüchte werden im Lande herumgeboten, wie: Die Führer der Volkspartei seien von ihren Standpunkte abgefallen, sie hätten die Beschlüsse der Volksversammlungen in Triesen, Triesenberg, Balzers, Vaduz usw. missachtet und das sei zum mindestem unbegreiflich. [5] Weil diese Verstimmung in manchen Kreisen zu herrschen scheint, und weil manche nur misstrauisch nach all dem Vorausgegangenen dem Erscheinen des Herrn Dr. [Josef] Peer im Lande begegnen werden, so erachten wir es als unsere Pflicht, in friedlichem Sinne beruhigend und aufklärend zu wirken. Getreu dem Sinne der Entwirrungsbestrebung. Die sogen. Führer der Volkspartei und die Vertrauensmännerversammlung haben das Vorgehen nach eingehender Kenntnisnahme der ganzen Tragweite der vom Fürsten getroffenen Entschliessung im Einverständnis mit beiden Parteien gut geheissen.
I.
Auf Grund der Abmachungen hoffen wir, dass es dem zur Lösung der Verfassungskrise vom Fürsten beigezogenen Herrn Dr. Peer gelingen möge, fruchtbringend im Lande zu arbeiten. Herr Dr. Peer wird nur für die Dauer von 6 Monaten, also bis spätestens Mitte März 1921 im Lande als Regierungschef provisorisch tätig sein. Spätestens von diesem Zeitpunkte an wird auf Grund der neuen Verfassung eine aus gebürtigen Liechtensteinern bestehende Regierung eingesetzt werden. Wir bitten unsere Anhänger, keine Angst zu haben, dass Herr Dr. Peer, der nach seinen eigenen Äusserungen gar nicht länger bleiben will und in Österreich eine viel angenehmere und schönere Stelle als Richter am Verwaltungsgerichtshof usw. inne hat, aus einem provisorischen Regierungschef zu einem dauernden werde. Herr Dr. Peer hat dies auch uns sonst ehrenwörtlich zugesichert. Das will ja der Landesfürst laut der Kundmachung und wollen andere auch nicht. Eine Verlängerung dieser Frist über sechs Monate hinaus kommt unter keinen Umständen in Betracht. – Wenn etwa das Gegenteil ausgestreut wird, so ist das Unwahrheit und im Interesse des Friedens zu bedauern. Aber auf Grund der erhaltenen Aufklärungen, die manches unglaubliche Missverständnis, manche falsche Ausstreuungen ja bewusste Unwahrheiten aufhellten, und auf Grund des Entgegenkommens des Landesfürsten in den Verfassungs- und andern Fragen konnten sich die Unterhändler aus der Volkspartei beruhigen mit der Tatsache, dass noch vorübergehend und provisorisch ein Ausländer und gerade der von uns so sehr bekämpfte Herr Dr. Peer die Regierung leite, abfinden. Das öffentliche Leben ist ein Leben des Ausgleichs, und deshalb haben beide Parteien nachgegeben. Starrsinnigkeit allein tuts nicht. Und in dieser Erkenntnis hat die Volkspartei, so ungern sie es tat, schliesslich in der Peerfrage nachgegeben. Nach spätestens 6 Monaten werden wir nach dem festen Willen vieler Faktoren eine einheimische Regierung erhalten. Das Nachgeben in dieser grundsätzlichen Sache nach all dem Vorgefallenen fiel schwer, ist aber in dem Entgegenkommen gegenüber unsern Forderungen in der Verfassungsrevision und anderem begründet. Manche unserer Anhänger, die der Sache noch entrüstend und abwartend, ja zweifelnd gegenüber stehen, ersuchen wir bei aller Wahrung des Standpunktes die Zeit von 6 Monaten ruhig abzuwarten. Wir wollen nun friedlich zusammenarbeiten und dann das Werk dieser Arbeit betrachten. Sehen wir der Entwicklung der Dinge entgegen.
Was eintreten würde, wenn die Abmachungen nicht genau eingehalten werden wollten und man sie in irgend einem Teile zu umgehen versuchte, darüber sind mündlich unzweideutige Erklärungen gegeben worden. – Die Liechtensteiner in der Schweiz, wie manche im Lande, stehen der Sache sehr misstrauisch gegenüber. Es wird Sache des Herrn Dr. Peer sein, dieses Misstrauen zu zerstreuen. Wir aber wollen jetzt vertrauensvoll in gemeinsamer Arbeit einer demokratischen Verfassung entgegen sehen.
II.
Vielfach laufen sowohl aus dem Inlande wie auch aus dem Auslande Proteste dagegen bei uns ein, dass nun Herr Dr. Peer dennoch als Regierungschef ins Land komme. Herr Dr. Peer wird nicht, wie es in verschiedenen auswärtigen Blättern heisst, als Landesverweser kommen. Das kommt ja in den Kundmachungen deutlich zum Ausdruck. In einem andern Blatte, das in der sogen. Landesverweserfrage gegen die Volkspartei Stellung genommen hat, heisst es unrichtig, Herr Dr. Peer wird nun doch den Posten eines Landesverwesers antreten "und wenn auch vorerst nur vorläufig". [6] In dieser Sache wollen wir nicht mehr lange rechten. Es gibt aber kein vorläufig, denn Herr Dr. Peer ist nur provisorisch mit der Leitung der Regierung für 6 Monate betraut. Das "provisorisch" besagt nach den unzweideutig abgegebenen Erklärungen nichts anderes, als dass die definitive Besetzung aller Regierungsmitgliederstellen spätestens nach 6 Monaten durch gebürtige, d.h. durch Liechtensteiner, die bei ihrer Geburt schon liechtensteinische Staatsbürger waren, zu erfolgen hat. Das ist fürstlicher Wille und eine der Grundbedingungen d. Ausgleichsfriedens. Wenn die Aufregung unter manchen Bürgern im Lande und im Auslande gross ist und viele nur den Kopf schütteln, so begreifen wir diese in Anbetracht dessen, was alles vorausgegangen ist.
Zur Aufklärung bringen wir auszugsweise Einiges aus dem, was nach der fürstl. Entschliessung als Richtlinie bei der ehestens dem Landtage vorzulegenden revidierten Verfassung und auch sonst zu berücksichtigen ist. Nämlich:
Das Fürstentum hat eine konstitutionelle Monarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage zu sein. Verankerung der Staatsgewalt in Fürst und Volk und Ausübung durch beide. Aufgeben des Landesverwesertitels und Ersetzung dieses Postens einerseits durch einen die fstl. Hoheitsrechte ausübenden Statthalter (Prinzen) und anderseits durch einen Landammann (gebürtiger Liechtensteiner, nicht eingekauften!), der vom Fürsten auf Vorschlag des Landtages ernannt wird; Wahl der Regierungsräte und ihrer Stellvertreter durch den Landtag (ohne fstl. Bestätigung); Aufteilung der Geschäfte unter die Regierungsmitglieder (Ressortregierung); parlamentarische Regierung, Landtag kann Misstrauensvoten ausstellen und Enthebung beantragen, allenfalls Anklage vor dem Staatsgerichtshofe stellen; kollegiale Staatsregierung.
Einrichtung der Staatsverwaltung nach den Grundsätzen des Rechtsstaates und Einführung eines geordneten (Vertrauen erweckenden) Verwaltungsrechtspflegeverfahren; Verlegung des Sitzes aller Verwaltungs- und Justizbehörden mit Ausnahme des obersten Gerichtshofes ins Land; alle kollegialen Behörden sind mehrheitlich mit Liechtensteinern zu besetzen; Errichtung eines Staatsgerichtshofes zum Schutz d. staatsbürgerlichen Rechte, zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten und als Disziplinargerichtshof für öffentliche Angestellte, zur Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen, Entscheidung über Haftung des Staates für die Beamten und über Klagen gegen Regierung und andere nichtrichterliche Beamte; Anstellung von Ausländern nur mit Zustimmung des Landtages; Recht des Landtages zur Antragstellung auf Enthebung öffentlicher Funktionäre, die durch die Amtsführung das Vertrauen verloren haben; Abschaffung der fürstl. Abgeordneten; Einberufung des Landtages auf Verlangen von 300 Stimmberechtigten oder von drei Gemeinden; Einführung der Verhältniswahl usw.;
Kontrolle der gesamten Staatsverwaltung durch den Landtag und eine von ihm zu wählende Geschäftsprüfungskommission.
Sehr weitgehende und zeitgemässe Ausgestaltung der Grundrechte (Vereins- und Verfassungsfreiheit usw.) der Bürger; Verfassungsreferendum und Verfassungsinitiative von 500 Stimmberechtigten oder 4 Gemeinden; Referendum und Initiative über Gesetze und Finanzangelegenheiten von 300 Stimmberechtigten oder 3 Gemeinden;
eingehendste Umschreibung der Staatsaufgaben in der Verfassung (als eines Kultur- und Wohlfahrtsstaates);
Regelung der zoll- und handelspolitischen Beziehungen, die vom Berner Gesandten [Emil Beck] zu besorgen sind; Ordnung des Geldwesens und Überleitung in eine gesunde Währung; Ordnung der Landesfinanzen usw.;
Neuordnung des Jagdwesens im Interesse der Gemeindefinanzen und der Landwirtschaft.
Schaffung von Arbeitsgelegenheit im Lande; Prüfung der Einführung der Kranken-, Unfall- und Altersversicherung.
Heranziehung eines katholischen Schweizer Fachmannes zu beratender Mitarbeit.
Nun mögen Freund und Feind den hier nur auszugsweise mitgeteilten Inhalt dieser historischen Entschliessungen studieren. Wir hoffen auf die loyale Zusammenarbeit in Ausführung dieser Grundsätze auf demokratischer Basis. Denn es soll nicht ein fauler Friede sein, der die Krisis nur aufschiebt. In diesem Falle würden die Folgen nicht ausbleiben. Auf einzelnes werden wir noch zurückkommen. Die Hauptsache ist, dass ehestens eine auf diesen Richtlinien aufgebaute Verfassung im Landtage eingebracht und möglichst rasch verabschiedet wird. Erst dann hat das Friedenswerk seine Grundlage und der neu gewählte Landtag und die neue, aus gebürtigen Liechtensteinern bestehende Regierung mag dann die weitern nötigen Gesetze verabschieden. Es ist uns heute nach Kenntnis der Stimmung in der Bevölkerung klar, dass Herr Dr. Peer keine angenehme Stelle hat. Vereinen wir uns, damit er in den wenigen Monaten seines Hierseins gemeinsam mit dem noch kurzlebigen Landtage der neuen Regierung die Bahn ebne!