Beitrag in den „Oberrheinischen Nachrichten", verfasst von Wilhelm Beck [1]
26.6.1920
Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein
(Schluss) [2]
c) Rechtspflege und Rechtspflegebehörden.
Art. 71. Die Gerichtsbarkeit wird im Auftrage des Landesfürsten durch verpflichtete Richter ausgeübt. [3]
Die Gerichte sind innerhalb der Grenzen ihrer gesetzlichen Wirksamkeit und im gerichtlichen Verfahren unabhängig von aller Einwirkung der Regierung. [4]
Sämtliche Gerichte haben ihren Entscheiden und Urteilen Gründe beizufügen. [5]
Der Fiskus und die fürstlichen Domänenbehörden haben vor den ordentlichen Gerichten Recht zu nehmen und zu geben. [6]
Art. 72. Neben den ordentlichen Gerichten sind auch Schiedsgerichte zur Ausübung richterlicher Funktionen in Zivilsachen nach Massgabe der Zivilprozessordnung zulässig. [7]
Nach Massgabe der gesetzlichen Bestimmungen sind bürgerliche Rechtsstreite und Ehrenbeleidigungssachen vor der gerichtlichen Anhängigmachung beim zuständigen Vermittleramte zwecks Vergleich oder Sühne zu verhandeln.
Art. 73. Alle Gerichte müssen ihren Amtssitz in Vaduz haben.
Eine Ausnahme ist nur mit Zustimmung des Landtages hinsichtl. des Obersten Gerichtshofes zulässig.
Art. 74. Die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen wird durch das Landgericht, das Berufungsgericht und den Obersten Gerichtshof ausgeübt.
In erster Instanz ist zur Ausübung dieser Gerichtsbarkeit das Landgericht berufen.
Der Rechtszug gegen Urteile und Beschlüsse das Landgerichts (Berufung und Rekurs) geht in zweiter Instanz an das Berufungsgericht.
In dritter Instanz hat über das Rechtsmittel gegen Urteile und Beschlüsse das Landgerichtes (Revision und Rekurs) der Oberste Gerichtshof zu entscheiden.
Art. 75. Beim Landgerichte wird die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen durch einen oder mehrere Einzelrichter ausgeübt; beim Berufungsgericht durch ein Kollegium, das aus einem auf Vorschlag der Regierung vom Landesfürsten ernannten rechtskundigen Vorsitzenden und zwei aus der wahlfähigen Bevölkerung vom Landtage auf die Dauer von vier Jahren gewählten Berufungsrichtern nebst vier Ersatzmännern besteht.
Beim Obersten Gerichthof wird die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen durch einen Senat von fünf Richtern ausgeübt.
Art. 76. Die Gerichtsbarkeit in Strafsachen beruht auf dem Anklageprinzip und wird nach näheren gesetzlichen Bestimmungen in erster Instanz vom Landgerichte, vom Schöffengerichte und vom Kriminalgerichte ausgeübt.
Über Urteile und Beschlüsse der Strafgerichte erster Instanz geht der Rechtszug an das Berufungsgericht in Vaduz, das in gleicher Weise, wie das Berufungsgericht in bürgerlichen Rechtssachen zusammengesetzt ist.
Der Oberste Gerichtshof beurteilt angefochtene Urteile und Beschlüsse der Gerichte erster Instanz und [!] dritter und letzter Instanz.
Art. 77. Die Gesetzgebung regelt im übrigen die Organisation der Gerichte, die Ausstandspflicht der Richter, deren Entschädigung, das Verfahren, die Aufgaben der Gerichte und die von den Parteien zu bezahlenden Gebühren.
Wenn die Parteien es verlangen oder das Gericht es für angezeigt erachtet, hat vor den Berufungsgerichten über angefochtene Urteile eine mündliche Verhandlung stattzufinden.
Art. 78. Das Berufungsgericht führt die Oberaufsicht über die Justizpflege, übt dem Landrichter gegenüber die Disziplinargewalt aus und erteilt diesem Urlaub.
d) Der Staatsgerichtshof.
Art. 79. Der Staatsgerichtshof beurteilt positive und negative Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden.
Er beurteilt ferner staatsrechtliche Beschwerden über Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte der Bürger (Art. 14 bis 28), Gemeinden und Korporationen, die Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder und Beamten; allenfalls Anklagen des Landtagsvertreters gegen die Regierung.
Der Staatsgerichtshof besteht aus dem Berufungsgerichte und den zwei Rekursrichtern der Beschwerdeinstanz.
Die Ersatzrichter des Berufungsgerichtes und der Beschwerdeinstanz sind zugleich Ersatzrichter des Staatsgerichtshofes. Den Vorsitz führt der Vorsitzende des Berufungsgerichtes.
Die Gesetzgebung trifft die erforderlichen Ausführungsbestimmungen, insbesondere auch über die richterliche Unabhängigkeit.
e) Allgemeine Bestimmungen.
Art. 80. Für die Anstellung im liechtensteinischen Staatsdienste ist das Staatsbürgerrecht erforderlich.
Ausnahmen sind nur mit Zustimmung des Landtages zulässig.
Die näheren Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Beamten und Angestellten, über ihre Verantwortlichkeit, über das Disziplinarverfahren trifft die Gesetzgebung.
Die Organisation der Behörden kann gemäss der Verfassung nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen.
Art. 81. Dem Landtage bleibt ausser den bereits angeführten Befugnissen auch jederzeit unbenommen in Beziehung auf Mängel und Missbräuche, die sich in der Landesverwaltung oder Rechtspflege ergeben, oder die aus an ihn gerichteten Vorstellungen, Petitionen und Beschwerden von Einzelnen oder Korporationen hervorgehen, Vorstellungen und Beschwerden direkt an den Landesfürsten zu bringen und auch deren Abstellung anzutragen.
Dahin gehören auch die Beschwerden gegen Staatsdiener wegen Verletzung der Verfassung, Veruntreuung öffentlicher Gelder, Erpressung, Bestechung oder gröbliche Hintansetzung ihrer Amtspflichten, die der Landtag unmittelbar an den Landesfürsten bringen kann.
In diesem Falle wird die erfolgte Abstellung der Beschwerden, oder das Ergebnis der Untersuchung dem Landtage oder dem Ausschuss eröffnet werden.
Vorbehalten bleiben die zivile, strafrechtliche und staatsrechtliche Verantwortlichkeit und ihre Geltendmachung nach der Verfassung und den Gesetzen.
VII. Hauptstück.
Vom Gemeindewesen.
Art. 82. Über Bestand, Organisation und Aufgaben der Gemeinden im eigenen und übertragenen Wirkungskreis bestimmen die Gemeindegesetze.
Die Gemeindegesetze beruhen insbesondere auf folgender Grundlage:
a) freie Wahl der Ortsvorsteher und anderer Gemeindeorgane durch die Gemeindeversammlung;
b) selbständige Verwaltung des Gemeindevermögens und der Ortspolizei unter Aufsicht der Landesregierung;
c) Behandlung und Ordnung des Armenwesens;
d) Recht der Gemeinde zur Bürgeraufnahme und Freiheit der Niederlassung der Landesangehörigen in jeder Gemeinde. [8]
VIII. Hauptstück.
Verfassungsgewähr und Schlussbestimmungen.
Art. 83. Die gegenwärtige Verfassungsurkunde ist nach ihrer Verkündigung als Landesgrundgesetz für alle Einwohner verbindlich. [9]
Anträge auf Abänderungen oder Erläuterungen dieses Grundgesetzes, welche sowohl von der Regierung, als auch vom Landtage gestellt werden können, erfordern auf Seite des Letztern Stimmeneinhelligkeit der auf dem Landtage anwesenden Mitglieder, oder eine auf zwei nacheinander folgenden Landtagssitzungen sich aussprechende Stimmenmehrheit von drei Vierteln derselben. [10]