Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]
15.2.1918
Volkswohl – Volkswahl
Unser Volk steht vor ernsten Aufgaben. Es wird zeigen müssen, dass es das edle Fürstengeschenk des allgemeinen Wahlrechtes verdient hat. [2] Dieser Prüfstein sind die kommenden Landtagswahlen. [3] Und dass unsere Liechtensteiner gerechtfertigt aus dieser Prüfung hervorgehen und sich als politisch reif erweisen werden, das ist unser sehnlichster Wunsch. Dazu braucht es aber ein ernstes Insichgehen, eine gewissenhafte Vorbereitung.
Darum sind mehrere Männer schon zweimal zu zwangloser Aussprache zusammengekommen, um Mittel und Wege zu finden, unserm Volke seine Aufgabe zu erleichtern. Und diese Wege sind nicht verborgene Pfade, sondern jedem Liechtensteiner offenstehend: In jeder Gemeinde sollen, vorläufig im Oberlande, Wählerversammlungen abgehalten werden. Die wahlfähigen Bürger sollen sich zusammenfinden und ruhig und sachlich ihre Ansichten äussern, ohne persönliche Rücksichtnahme, ohne Menschenfurcht. Aber jeder, der etwas zu sagen hat, sollte dann reden, nicht dass einige das grosse Wort führen und ruhigere Bürger die Faust in der Tasche machen und – schweigen, um dann nachher zu sagen: "Ich hätte schon erwidern können, aber ich wollte nichts sagen, sonst könnte man meinen ..." Wir müssen imstande sein, auch gegenseitige Meinungen zu vertreten, ohne dass wir uns befehden. Nur eines ist dabei unbedingt notwendig: Ehrlichkeit! Wir wollen keinen innern Krieg haben in unserem Ländle, weder offenen noch geheimen, keinen Streit in dem Augenblicke, wo im fernen Osten die Morgenröte des Friedens leuchtet. [4]
Dieser Vorschlag ist nicht leichtsinnig ins Land hinausgeworfen, sondern reiflich überlegt und ernstlich besprochen worden.
So soll auch in der nächsten Nummer dieses Blattes eine Liste solcher Männer veröffentlicht werden, [5] von denen wir alle annehmen dürfen, dass sie vor allem das Wohl des Landes im Auge haben, von denen wir ruhig hoffen können, dass sie im Vereine mit den fürstlichen und den Abgeordneten des Unterlandes [6] die Landtagsverhandlungen so gestalten, dass dort weder nur debattiert, noch auch zu allem Vorgebrachten Ja und Amen gesagt wird.
Über diese zur Wahl fürs Oberland vorgeschlagenen Männer soll sich dann jeder Bürger selbst sein Urteil bilden und dieses bei gegebener Zeit in der Wählerversammlung ruhig aussprechen, ohne auf Schlagwörter zu achten.
Nur so wird unsere erste Wahl nach der neuen Wahlordnung keine Parteiwahl, sondern eine – Volkswahl. [7]
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[1] L.Vo., Nr. 7, 15.2.1918, S. 1-2. Das "Liechtensteiner Volksblatt" wurde von 1918 bis 1921 von Eugen Nipp redigiert.
[2] Vgl. das Gesetz vom 21.1.1918 betreffend die Abänderung der Landtagswahlordnung, LGBl. 1918 Nr. 4.
[3] Die Hauptwahlen für die 12 "Volksabgeordneten" fanden am 11.3.1918 statt, die Stichwahlen am 18.3. Im April 1918 wurden dann von Fürst Johann II. die 3 fürstlichen Abgeordneten ernannt.
[4] Vgl. dazu: L.Vo., Nr. 7, 15.2.1918, S. 3 ("Zu dem Frieden zwischen der Ukraine und den Mittelmächten"; "Friedensschluss mit der Ukraine"; "Ein Friede im Osten" und "Brest-Litowsk"). Der Separatfriede der Mittelmächte mit der Ukrainischen Volksrepublik wurde am 9.2.1918 in Brest-Litowsk unterzeichnet. Am 3.3.1918 folgte der Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland.
[5] Vgl. L.Vo., Nr. 8, 22.2.1918, S. 1 ("Unsere Oberländer Abgeordneten für den kommenden Landtag").
[6] Vgl. L.Vo., Nr. 10, 8.3.1918, S. 1 ("Unsere Unterländer Abgeordneten für den kommenden Landtag").
[7] Vgl. dazu O.N., Nr. 7, 16.2.1918, S. 1 ("Zu den Landtags-Wahlen"): "In unserem Lande bestehen glücklicherweise keine auf verschiedener Weltanschauung beruhende politische Parteien." Vgl. demgegenüber: O.N., Nr. 9, 2.3.1918, S. 1 ("Zum Programm der neuen Partei"). Die Fortschrittliche Bürgerpartei wurde erst am 22.12.1918 offiziell gegründet. Für die schon zuvor bestehende Christlich-soziale Volkspartei ist kein Gründungsdatum bekannt.