Wilhelm Beck berichtet über seine Verhandlungen mit der Schweiz über Grenzschutz und Lebensmittelversorgung


Maschinenschriftlicher Bericht vom Mitglied des provisorischen Vollzugsausschusses Wilhelm Beck, gez. ders. [1]

11.11.1918

Bericht

von Dr. W. Beck, Mitglied der Landesregierung, über seine Mission betr. Grenzschutz und Lebensmittelversorgung beim schweiz. Bundesrate in Bern (9. November 1918).

Wie ich bereits den Herrn Regierungsvorsitzenden [Martin Ritter] verständigte, habe ich Herrn Nationalrat [Emil] Grünenfelder in Flums eingeladen, mir in Bern bei den verschiedenen Amtsstellen behilflich zu sein. Ich ging dabei von der Voraussetzung aus, dass dieser angesehene Herr mit seiner persönlichen Bekanntschaft in Bern den Wünschen unseres Landes einen möglichst wirkungsvollen Nachdruck zu verleihen im Stande sei.

Zuerst sprachen wir bei Herr Bundespräsident [Felix] Calonder vor, teilten ihm den Zweck der Mission mit, darauf liess er Herrn Minister Lardi [Charles Louis Etienne Lardy], Chef für auswärtige Angelegenheiten, kommen und legte ihm das Gesuch betr. Gewährung eines Grenzschutzes gegen Vorarlberg durch schweiz. Mannschaft, eventuell von Lieferung von Waffen und Munition [2] und andererseits betr. die Lebensmittelversorgung vor.

Präsident und Minister äussern Bedenken völkerrechtlicher Natur gegen Abgabe von Mannschaft. Der Bundespräsident will die Frage wegen Abgabe von Waffen wohlwollend prüfen, empfiehlt, diese Frage auch mit dem Vorsteher des Justizdepartementes [Eduard] Müller und des Militärdepartementes [Camille] Decoppet zu besprechen.

Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung verwies er auf das Gesuch der Vertreter von Vorarlberg und Tirol und machte Mitteilung, dass der französische Botschafter [Paul Dutasta] heute nachmittags 2 Uhr mitgeteilt habe, dass mit Rücksicht auf die Besetzung Nordtirols durch bayrische Truppen von der Ausfuhr von Lebensmitteln aus der Schweiz nicht die Rede sein könne. Wir machten darauf aufmerksam, dass Liechtenstein ein selbständiger, neutraler Staat sei, der Landesverweser von österr. Herkunft [Leopold von Imhof] demissioniert habe und durch eine Regierung [3] des vom Volke gewählten Landtages ersetzt worden sei. Alle drei Mitglieder [4] seien liechtenst. Staatsangehörige. Im weitern klären wir dahin auf, dass die Zeitungsmeldungen, wornach Liechtenstein den Anschluss an Deutsch-Österreich nachgesucht habe, vollständig unbegründet seien. [5] Für die vollständige Neutralität Liechtensteins dürfte auch der Umstand sprechen, dass die Regierung Liechtensteins nun von der Schweiz Schutz der Grenzen gegen Vorarlberg zu erhalten wünsche, wobei es sich allerdings nicht um einen feindseligen Akt gegen Vorarlberg, sondern einzig und allein um polizeilichen Grenzschutz handelt.

Herrn Bundesrat Müller, Vorsteher des Justizdepartementes, werden die beiden Fragen ebenfalls unterbreitet, er glaubt, dass die Abgabe von Militär für die Grenzbewachung Liechtensteins gegen Vorarlberg kaum angehen werde; dagegen ist er der Meinung, dass rechtlich gegen die Verabfolgung (Verkauf oder Leihe) von Waffen und Munition an Liechtenstein kaum Einwendungen erhoben werden könnten, da es sich nicht um eine feindselige Handlung gegen irgend einen andern Staat, sondern nur um Schutz des eigenen Gebietes und um polizeiliche Massnahmen handle. Er glaubt im Übrigen, dass die Gefahr der Invasion aus Tirol nach den ihm bekannten Meldungen nicht sehr gross sei, indem die Gefangenen, in der Hauptsache Italiener, mit der Eisenbahn aus Österreich durch die Schweiz direkt nach Chiasso raschest befördert werden und sodann scheine die Welle der zurückflutenden österr. Rechtsarmee sich bereits auf der Richtung nach Innsbruck nach Osten verzogen zu haben, er gibt auch Kenntnis von der heute nachmittags eingegangenen obenerwähnten Note des französischen Botschafters hinsichtlich der Lebensmittelversorgung Vorarlbergs und Tirols. Er empfiehlt ebenfalls, über die militärische Frage mit dem Militärdepartement eine Unterhandlung zu pflegen.

Dem Vorsteher des Militärdepartementes, Bundesrat Decoppet, wird die Frage des Grenzschutzes, wie oben erwähnt, ebenfalls auseinandergesetzt. Er teilt die Auffassung der früher erwähnten Mitglieder des Bundesrates in dieser Frage, will sich aber vorerst noch mit dem Generalstabschef von Sprecher [Theophil Sprecher von Bernegg] besprechen und dann definitiven Bescheid erteilen. Am Schlusse machte er die Mitteilung, dass der deutsche Kaiser [Wilhelm II.] nach eben eingelangten Meldungen abgedankt habe.

Auf Empfehlung des Bundespräsidenten und Herrn Minister Lardi wird die Frage der Lebensmittellieferung auch noch mit Herrn Ernährungsdirektor [Eduard] von Goumoëns unterbreitet, er erklärte in erster Linie, dass im gegenwärtigen Zeitpunkte von Abgabe von Lebensmitteln aus der Schweiz aufgrund der Note des französischen Botschafters, die er verliest, nicht die Rede sein könne. Es wird darauf erwidert, dass Liechtenstein mit Vorarlberg und Tirol in keiner Weise in politischer Abhängigkeit oder Angehörigkeit stehe, sondern ein selbständiger Staat sei. Es wird ferner auseinandergesetzt, dass der Bezug einzelner wichtiger Artikel (z.B. Getreide) nicht schon im gegenwärtigen Zeitpunkte, aber doch spätestens anfangs 1919 notwendig sei, während allerdings andere möglichst bald erhältlich gemacht werden sollten. Man werde ein Verzeichnis der verschiedenen Artikel, deren Lieferung man nötig habe, nächstens einreichen und zw. [zwar] deren Quantität und der Zeitpunkt deren Lieferung und Bedarfes darin angeben. Als selbstverständlich wurde angesehen, dass die Lieferung sich höchstens bis zur Quantität der Rationierung in der Schweiz zu gehen habe und dass andererseits Liechtenstein in der Lage wäre, einige Tausend m³ Holz und eine gewisse Anzahl Vieh, beides in näher zu bestimmenden Quantitäten, an die Schweiz kompensationsweise abgeben könnte. [6] Der Herr Direktor bezeichnet diese Mitteilung als begrüssenswert und wünscht die Abgabe des überschüssigen Viehes in möglichst kurzer Zeit, was wegen des Heuverbrauches auch im Interesse Liechtensteins liege. Er gibt auch die Bestimmungen bekannt, welche für die Lebensmittellieferung an Vorarlberg aufgestellt worden sind und die sehr entgegenkommend gehalten erscheinen. Daraus ist zu entnehmen, dass die Schweiz die Artikel abliefern würde an die Grenze ohne Verlust und ohne Gewinn und mit der Bestimmung, dass ein dem schweiz. Ernährungsamt unterstehender Inspektor die Bevölkerungszahl und die im Lande schon vorhandenen Quantitäten festzustellen hätte, da die Versorgung nicht reichlicher sein dürfe, als sie sich in der Schweiz selbst gestalte.

Bei der hierauf folgenden zweiten Verhandlung mit dem Vorsteher des Militärdepartements erklärt dieser, dass er nach Rücksprache mit dem Generalstabschef hinsichtlich der Abgabe von Waffen und Munition entschieden habe, dass [durch] die eidgenössische Kriegsmaterialverwaltung 100 Gewehre, Modell 1889/90, samt Bajonett und einer Dotation Munition verabfolgt werden könnte.

Hierauf wird beim Inspektor der Kriegsmaterialverwaltung Major [Adolf] Kunz in erster Linie Erkundigung eingezogen über die Erwerbspreise der Gewehre und Zubehör und Munition, wobei sich folgende Preise ergeben: das Gewehr zu 100 Fr. (einschliesslich Bajonett), Gewehrriemen 1.60, Leibgurt 1.70, Bajonettscheidentasche 1.60, Patronentasche 3.70 Frs., Totalkosten für ein Gewehr 108.60. Munition pro Gewehr 100 Patronen à 9.5 Rappen. Ferner wurden angeboten alte Manlicher Gewehre, [7], ungefähr 90 Frs. pro Stück, diese haben aber den Nachteil eines komplizierten Verschlusses und seien nicht zu empfehlen. Weitere Mitteilungen über die Waffenfrage sind an Herrn Nationalrat Grünenfelder in Flums mitzuteilen.

Dr. Beck behält sich vor, diese Offerte der Landesregierung vorzulegen und dann durch Vermittlung des vorgenannten Herrn weitere Mitteilung an die Kriegsmaterialverwaltung gelangen zu lassen.

Bei allen Departementen wird erklärt, dass die Landesregierung sich hinkünftig auch der Vermittlung für allfällige weitere Unterhandlungen des Herrn Nationalrates Grünenfelder bedienen werde.

Bei allen Departementen wird darauf hingewiesen, dass die Frage des Grenzschutzes dringendster Natur sei mit Rücksicht auf die Verhältnisse in Vorarlberg, die noch unsicherer geworden seien infolge der neuesten Ereignisse in Deutschland.

Der Herr Ernährungsdirektor gibt der sichern Überzeugung Ausdruck, dass infolge des Waffenstillstandes mit Deutschland die Lebensmittelversorgung Liechtensteins durch die Schweiz möglich sei. Inbezug auf Petroleum sei gar keine Aussicht vorhanden, da die Schweiz mit Rücksicht auf die Transportschwierigkeiten aus Rumänien her kein Petrol erhalte.

Die von der Landesregierung an ihr Mitglied Dr. Beck ausgestellte Vollmacht wird an Herrn Minister Lardi übergeben.

Es wird dem Bundespräsidenten, Minister Lardi und dem Direktor des Ernährungsamtes mitgeteilt, dass die Zeitungsmeldungen über Liechtenstein zum grössten Teil falsch seien und es wird ihnen der Vorgang den Tatsachen entsprechend auseinandergesetzt. Beim Bundespräsidenten wird noch auf das Schreiben, welches Herr Fabrikant [Fritz] Jenny in Ziegelbrücke auf Anregung des Direktors [Armin] Arbenz in Triesen an ihn eingesandt habe, aufmerksam gemacht. Der Bundespräsident erklärte, dass er ein solches Schreiben noch nicht erhalten habe. Im weiteren sagte er, dass wir den schweiz. Soldaten für ihren allfälligen Dienst in Liechtenstein mehr als nur den Sold bezahlen müssten.

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[1] LI LA SF 13/1918/4987 ad 1. Eingangsstempel der Regierung vom 19.11.1918. Auf der Rückseite des Hefts handschriftlicher Vermerk von Wilhelm Beck: "Verfügungen im Zuge. 20.XI.18". Zur Mission Becks vgl. auch seinen Bericht in O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 2 ("Zur Lebensmittel-Versorgung").
[2] Hintergrund dieses Anliegens waren Befürchtungen, dass es in Vorarlberg zu Kämpfen zwischen italienischen und bayrischen Truppen kommen könnte. Zudem befürchtete Liechtenstein, von heimkehrenden Kriegsgefangenen überflutet zu werden.
[3] Gemeint ist der provisorische Vollzugsausschuss unter Führung von Martin Ritter, der im "Novemberputsch" vom 7.11.1918 an die Macht gelangt war.
[4] Drittes Mitglied des provisorischen Vollzugsausschusses nebst Ritter und Beck war Franz Josef Marxer.
[5] Vgl. z.B. "St. Galler Tagblatt", Nr. 263, 8.11.1918, Abendblatt, S. 3 ("Der liechtensteinische Landesverweser abgesetzt").
[6] Liechtenstein ersuchte in der Folge das deutsch-österreichische Staatsamt der Finanzen, der Ausfuhr von "Kompensationswaren wie Holz, Rindvieh, Streue u.s.w. [...] keine Schwierigkeiten zu bereiten" (LI LA SF 13/1918/5442 ad 1, Regierung an deutsch-österreichisches Staatsamt der Finanzen, 23.12.1918). Die Besichtigung des zur Ausfuhr vorgesehenen Viehs durch einen schweizerischen Viehexperten ergab allerdings das Resultat, dass nur wenig erstklassiges Vieh vorhanden sei und Vieh deshalb nicht in grösserem Umfang für Kompensationsgeschäfte in Frage komme (LI LA SF 13/19185501 ad 1, Regierung an eidgenössisches Ernährungsamt, 28.12.1918).
[7] Gewehr auf der Basis des 1886 von Ferdinand von Mannlicher patentierten Verschlusssystems.