Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Vaduz, an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]
04.03.1905, Vaduz
Lieber Herr Vetter!
Eben habe ich Ihren
lieben, uns so wertvollen Brief vom November
wieder gelesen. Er enthält so viel Liebes u. Inte-
ressantes, dass er bei jedmaligen Lesen neue, herz-
liche Freude bereitet. – Lieber, guter Herr Vetter, wie
soll ich Ihnen für diese Freude, die Sie uns so grossmü-
tig geschenkt, nur danken? – Dieses dicke, lange
liebe, liebe Brieflein, ach – der Khalif von Bagdad
kann sich nicht glücklicher schätzen, als ich mich
schätzte beim Öffnen desselben. – Der Briefbot –
dieser Glücksvogel – käme er nur alle Tage so
reich u. lieb beladen! Haben Sie Dank, Dank
von ganzem Herzen, lieber Herr Vetter! – Verzeihen
Sie nur, ich bitte herzlich, mein langes Ausbleiben
u. Säumen mit Beantworten Ihres lieben, wertvol-
len Briefes, der noch lange nicht fertig gelesen, - gar
viele, Vetter u. Basen, wollen sich eben daran er-
freuen, – da darf man nicht engherzig sein, nicht
wahr, sondern auch Andern Freude gönnen u. bereiten [2]
wenn immer man es kann.
Diese Woche kam Berta Schauer [Bertha Schauer] von ihren noch tief
eingeschneiten Bergen herunter. [3] Natürlich frug ich gleich
nach Ihnen u. Ihrem lb. armen, kranken Sohne Hans.
Tief betrübt hat mich Bertas Antwort, dass Ihr armer,
schwergeprüfter Sohn immer noch so viel zu leiden habe
u. – Sie mit ihm, Sie armer, armer Vater! Anderer Trost,
ich weiss es, ist uns eine Gehalt- und wertlose Gabe,
aber das, lieber Vetter, nicht wahr, ist uns doch ein
Trost, der auch dem verwundesten Herzen bleibt, der
Gedanke nämlich, dass Gott uns immer nahe [4]. Ja nahe
mit seiner ganzen Liebe nahe wolle er Ihnen sein, wenn Ihre
Seele tief bekümmert u. vor Weh keinen Trost mehr
sieht. – Er, der Herr vergilt’s Ihnen wieder, was Sie
leiden, er sieht’s ja u. hat Sie lieb u. muss Ihnen
nur weh tun, um Sie glückseliger zu machen.
Gel, liebes Vetterchen, einem so lieben Gott wollen
wir vertrauen? – Dr. Hemmi von Churwalden wie-
derholte während seines langjährigen Schmerzens-
Lagers im Spitale, mit seinem tief frommen Sinne,
immer wieder: „Das ist mein Trost, dass Gott mich
schlaget mit Schmerzen, ohne Ende u. ich nicht
widerstehe den Worten des Heiligsten. – War dieser [5]
arme Dulder nicht noch ein Verwandter Ihrer lb.
Frau [Margarethe Rheinberger [-Brasser]]? – Ach wie mag es indess‘ Ihrem lb. Hans gehen?
Wie viel mal fragen wir uns dies u. mit welch‘
innigem Bedauern. – Sagen Sie ihm, dass wir ihm
viele, viele gute, treuliche Wünsche u. Grüsse sen-
den. Wie vieles vermag mit dem Allmächtigen
Gott oft d. lb. warme Frühling mit seinem Son-
nenschein, stärken, beseelen lässt er uns. – Uns
lässt er zwar dies Jahr empfindlich lange warten, kaum
erinnere ich mich eines so langen, schneeigen Winters,
heut als am 4. März, haben wir einen neuen Schnee, wäh-
rend sonst die frühen Spalier Ende Februar schon zu
Knospen, ja blühen begannen. – Und Tage von ausser-
gewöhnlicher Kälte bis zu 17-18° Reom. [Réaumur] brachte uns
dieser Winter, so dass man für d. Weinreben stark
zu fürchten anfing. – Der Schnitt soll in den niederen
Lagen bedenklich trocken u. das Holz schwarzfleckig
sein, aber das wird von d. letztjährigen Staubkrank-
heit, die so viel „Vaduzer“ verheerte, kommen.
Ihr liebes Brieflein machte uns so riesig interes-
sante [6] Mitteilungen von Ihrem dortigen Weinbau,
dass wir’s immer wieder lesen u. vergleichen gegen
d. unsern. – Wir haben geradezu gestaunt, wie gross [7]
Ihre Rebenbesitzungen, so viel besitzt bei uns nur [8]
der Fürst [Johann II.] in seinem sogenannten Heerra- od. Bock-
wingert [9], wessen Sie sich vielleicht noch erinnern? / Fast
direct neben d. Löwen ist er. / – Nicht genug staunen
können wir auch über [10] Ihre Arbeitslöhne. So besol-
det ist bei uns ein Beamter. Herrlich müssen sich da
diese Leute bei Ihnen stehen u. sehr bald reich werden.
Freilich muss dabei bedacht werden, dass Ihr Weinbau
nicht so viel Arbeitskraft bedarf od. per Maschie-
ne bestellt werden kann, was bei uns ja leider ausge-
schlossen, bei den engen Reihen, dicht besetzt mit Holz-
stöcken, od. Stickel [11]. Unser lb. Vater [Peter Rheinberger] wollte es ein-
mal mit Gewalt mittelst Drat versuchen. – Er kaufte
ein grosses Stück Land (bei der Marrée [12]) pflanzte Wein-
reben in Spalier ähnlicher Dratanlage an, liess den
Pflanzen eine geradezu liebevolle Pflege angedeihen,
(es wird so ungefähr Ihre [13] amerikanische Art ge-
wesen sein) aber mit welch vergebener Mühe von Jahr,
zu Jahr, bis er sich endlich entschliessen musste das
ganze Stück, jede Pflanze [14] auszureissen. – Mütterchen [Theresia Rheinberger [-Rheinberger]]
tat das Herz später noch weh, wenn sie an die enorme
Menge Dünger dachte, die Väterchen dazu bedurft hatte.
Ganz ungeheuerlich erscheint uns auch d. Erträgniss
Ihres Weinstockes. – Unsre Ernte vom letzten Jahr
von unsern Weinbergen, / die ungefähr 4800 Klafter [15]
betragen / belief sich auf 7433 Ltr. Roten u.
4500 Ltr. Weissen u. es war dies kein schlechtes,
ein recht gutes Jahr. – So bekam ganz Vaduz [16] an
Wein letztes Jahr 141‘476 [17] Ltr., vorletztes Jahr
sogar 159‘561 [18] Ltr., im Jahre 1901 [19] dagegen nur
72‘370 [20] Ltr. Die denkbarst beste Weinernte war für
uns anno 1900. – Fast nur lachende, strahlende
Gesichter begegnete man in jenem Herbst, die Leute
hatten Mangel an Gefässen u. Gebinden den saftigen
Tropfen zu bergen, “Krautständili“ [21] u. Alles mögliche
benützten die glückseligen Weinbäuerlein um den
Humpen Wein nur unter Dach bringen zu können. –
Für uns ist eine gute, warme Herbstwitterung von
viel grösserem Werte, als ein guter Sommer. – Der letzte
Sommer brachte eine noch selten bei uns gewesene
Hitze, die Trauben waren den ganzen Sommer 3 Wo-
chen voraus u. – fast unerhört, an Jakobi [22] gab
es vollkommen ausgewachsene, am letzten Juli
schon gefärbte. – Die Fäulniss war eine grosse,
wir hatten noch nie so umständlich gewimmelt u.
sortirt / d. Faulen v. d. Guten /. Die Weissen in
Vaduz waren gut 1/3 faul, stellenweise auch die
Roten, namentlich im s’Abtswingert [23], sonst
wäre die Ernte ungewöhnlich gross gewesen. [24]
Der letztjähr. Mehltau hatte sich erschreckend ver-
breitet, besonders in d. geschützten, warmen Stellen, od.
Lagen. Man lief, wer Füsse hatte, mit d. Schwefel-
maschiene, aber fast ganz nutzlos, weil jedenfalls
auch zu spät. – Bisher durfte man in Vaduz nur 2 X
mit d. Kupfervitriollösung spritzen, von nun an
aber wahrscheinlich 3 X. – Unser Weinpreis dürfte Ihnen
bekannt sein? Den Roten zu 30-32 Xr. [Kreuzer] per Litr,
d. Weissen zu 18-20 Xr pr. Ltr. – Fast sämmtlicher
Vaduzer wird jetzt nach Zürich verkauft, aber die
Schweizer wollen uns plötzlich gefährlichen Anstand
machen mit dem Einfuhrszoll, wodurch sie gegen
30 Centim pro Ltr. verlangen. Das wäre ein uner-
messlicher Schaden für Liechtenstein, wo sollen wir
den sonst hinaus über welche Grenze? Österreich be-
sitzt (seit d. Arlbergbahn [25] gar) mehr als genug eige-
nen, Deutschland hat denselben unerschwinglichen
Zoll, somit bliebe dann nur noch der lästige Mai-
sche-Transport, dem man hier bisher nicht gewogen.
Sie sind zu bewundern, lieber Herr Vetter, wie Sie die
Aufsicht über Ihre grossen, grossen Rebenbesitzun-
gen bewältigen. – Wir tun uns mit unserm Bischen
schwer, die Leute dazu sind kaum mehr zu erreichen, [26]
Alles / u. noch eine grosse Menge eingewanderter Italie-
ner / läuft der Fabrik zu. – Unser lb. unvergesslich Väter-
chen hatte trotz Allem eine solche Freude an seinen
Weinbergen, dass er sich einmal [27]
äusserte: u. wenn mir die Reben auch
nichts, od. nicht viel tragen – sie freuen mich
halt doch!! – – ! – Möge denn Gott Ihre Arbeit u.
Ihre Ernte im Sommer 1905 reichlich segnen, vor
Allem aber Sie recht gesund dabei erhalten! –
Ist Ihre lb. Tochter Anna noch bei Ihnen? – Wolle
sie die Zeit ihrem so lieben, lieben Väterchen doch
noch ein Weilchen vertreiben. Ach wenn ich [28] es noch
besässe! Ich darf gar nicht daran denken Waise zu
sein, nicht zurückdenken an die Leidensjahre welche
dem Tode des geliebten Väterchens folgte, Schlag
auf Schlag brach über unser sonst so glücklich
Heim herein, Tot, Krankheit, ohne Ende u. welche
Krankheit? die schlimmer ist als der Tot. Ja lieber
Vetter, fast tröstlich könnte es lauten wenigstens für die armen
Kranken: „es giebt ein Leid im Leben das schlimmer,
schmerzlicher ist als der Tot“: – jene Krankheit;
u. davon sein Liebstes auf Erden „Mütterchen“ [29] ergriffen [30]
zu sehen u. das nicht genug, auch noch seine liebe,
intelligente Schwester [Hermine Rheinberger] – giebt es ein bitterer
Weh? – 6 Jahre schon ist diese edle, liebe, grossmütige
Schwester umnachtet, – sagen Sie mir, lieber Herr
Vetter, würden Sie nicht jedes, jedes [31] andre Leid
vorziehen? – Doch nein, Ihr Herz, Ihre Seele ist
grösser, tapferer, nicht wahr; verzeihen Sie einem
schwachen, armen Kinde, geschwächt vielleicht durch
all zu grosses Leid, das stärker war als ich. –
Ich habe sonst keine Worte, keine Klage mehr
darüber – nur mehr Thränen – , wenn ich heute
diese Wunde wieder berührte, so geschah es teils,
um Ihrer [32] Herzenswunde, dem Schmerze um Ihrem teuren
Sohn ein ganz klein wenig Linderung zu verschaffen.
Bruder Egon [Rheinberger] ist den ganzen Winter wie ange-
klebt an seinen Plänen, Scizzen u. Studien für
d. Ruine Gutenberg, die er diesen Frühling
in Angriff nehmen wird. – Die Balzner mit
ihrem bekannten Phlegma scheinen sich darauf
zu freuen, man sagt ihnen sonst nach, dass sie
die phlegmatisten, langsamsten Leutchen von
ganz Liechtenstein, die sich um Arbeit u. Ver-
dienst nicht gerade streiten, weil nun dieser
Gutenberger-Ruinenbau im Dorfe selbst, dürfte
ihnen das etwas bequemer sein u. so kommen sie [33]
denn gar lobenswert um Arbeit zu diesem Zwecke herun-
tergelaufen; neulich stellte sich sogar einer ein mit
Arbeitsempfehlungen, der, nachdem ihn Egon nach
seinen Berufe fragte, antwortete: Ja früher war
ich ein ausgezeichneter [34] Mauer, jetzt bin ich
auch niergends mehr was, wo man mich hin-
stellt!!! … Olga [Rheinberger] meine andere Schwester beginnt
auseinander zu gehen wie ein Butterfässchen, womit
sie gar nicht einverstanden, während dem ich mich
ungeheurlich freue, wenn sie recht gesund dabei wird. –
Im übrigen hat sie ein unbeschreiblich Interesse
an den Weinreben von Väterchen geerbt. – Morgens
in d. hl. Messe, nehmen wir meist einen kl. abge-
kürzten Fussweg durch Weinberge, – da muss ich sehen,
dass ich bei diesem Weglein allemal voraus komme,
sonst wäre d. Herr Pfarrer [Johannes Fidelis De Florin] fertig, bis Olga jedes
lb. Reblein betrachtet u. untersucht, ob es richtig be-
handelt u. auch gewiss gesund? – Siehst Du, ruft
sie dann, dieser Zweig hätte sollen aufgebunden u.
dieser abgeschnitten werden!“ Ich immer: ja, ja, komm
nur, geh nur! –
Jetzt müssen Sie mir aber noch sagen, wie es Ihren
andern lb. Kindern geht? – Doch ja gut, wie [35]
wäre das bei so vorzüglicher Stellung u. Versorgung
auch anders möglich! Ein selten grosses Glück hat
Ihnen der liebe Gott in Ihren Kindern geschenkt; jedes
Einzelne so brav u. so geschickt. Freilich selten
gross dürfte dann auch d. Schmerz um d. Verlust
eines solchen [36] Kindes sein, wie Sie ihn schon wie-
derholt erlitten. – Gott, stärke, Gott segne Sie immer
wieder, dass Sie grossmütig u. opferwillig bleiben,
um doppelten Lohn dann ja auch zu empfangen.
Und Ihre lb. g. Frau im Himmel, die Sie so rührend
gepflegt, Sie wird auch jetzt noch bei Ihnen sein,
mit mehr Macht nur. –
Ich schäme mich förmlich so lange nicht nach Ihrem
lieben armen Sohne Hans gefragt zu haben, lassen Sie
mich’s wieder gut machen, mehr danach erkundigen von
jetzt an, aber nicht wahr, man tut einem nur weh mit
den beständigen Fragen, wenn man dann nicht sagen kann,
dass es besser gehe. – Aber nun möge Gott eine kl. Besse-
rung nur, nicht wahr, senden!
Könnte ich Ihnen jetzt ein kleines Stückchen Ihrer alten Heimat
beilegen! – Würden Sie ihm Einlass gestatten? Ja, nicht
wahr, ja, – Heimat [37], mir kommt es fast vor wie ein Stückchen
des eigenen Ichs [38]. – Letzten Sommer u. Herbst hatten wir bestimmt einen
Ihrer Söhne erwartet. – Die Reise ist ja jetzt ganz leicht, fast
mühelos auszuführen u. freuen täten wir uns dessen nicht wenig.
Jede Einzelne Ihrer lb. Kinder u. Enkelchen müssen Sie von uns
grüssen, herzlich grüssen. – Für Sie aber, lieber Herr Vetter senden
wir noch ein extra Packet Grüsse ab von Ihren getreuen
Olga, Egon u. Emma Rheinberger