Das Oltener nimmt die mit "fürstlicher Vollmacht" erfolgte Landtagsauflösung mit ironischem Unterton zur Kenntnis und versichert, dass sich die Schweiz nicht einmisschen werde, weil sie die Unabhängigkeit des Landes respektiere


Zeitungsbericht, nicht. gez. [1]

23.03.1926

Mit fürstlicher Vollmacht.

Mit „fürstlicher Vollmacht“ wurde der Landtag unserer Liechtensteiner Nachbarn aufgelöst. Die Namen „Fürst“ und „Vollmacht“ und „Landtag“ klingen ungefähr alle gleich grossartig für dieses ehrsame Gemeinwesen von etwa 11‘000 wackern Einwohnern. In der immer noch kleinen Grossmacht Schweiz kann auf 11‘000 mit Not gerade ein Nationalrat gewählt werden, in unsern grossen Nachbarstaaten langt es mit 4 und 5 mal mehr Seelen noch kaum zu einem Volksvertreter, unsere „Über-Rheiner“ bringen einen ganzen Landtag fertig aus dieser Bevölkerungszahl. Und dieser Landtag hat jetzt seine Krise; er wurde fürstlich aufgelöst, fürstliche Neuwahlen werden ausgeschrieben. Es mutet alles ein wenig an wie die Sprache, mit der man im Märchen von Zwergen und Heinzelmännchen erzählt.

Aber wir werden mit nachbarlichem Respekt die Überrheiner ihre parlamentarischen Kämpfe ausfechten lassen. Das Ländchen gleicht einer vergessenen Insel im Ozean, die wie ein letzter Zahn aus ferner Vergangenheit übrig blieb. Man vergass vor hundert und mehr Jahren, das Überbleibsel abzubrechen. Als 1918 ringsum Fürsten von ihren Thronen stürzten, erhielt sich in Liechtenstein sogar die fürstliche Hoheit unversehrt. Die 11‘000 Liechtensteiner repetieren heute nochmals im kleinen die politischen Kämpfe, die über Europa seit 1 ½ Jahrhunderten im grossen hingingen. Das Inselchen war vor 6 Jahren noch sozusagen eine absolute Monarchie, nur ohne Steuern und Militär! Seither führte man mit Macht Verfassung und Gesetze ein, wie ganz Europa im letzten Jahrhundert und hat sogar mehr Zeit gefunden als die Herren Türken in Angora, um Schweizergesetze etwas umzumodeln für eigenen Gebrauch. Die Mehrheit in Liechtenstein gleicht heute jenen Verfassungsparteien, wie sie bei uns in den 48er und andern Zeiten den Staat aufgerichtet haben. Das hat aber auch Widerstände und Gegner auf den Plan gerufen, die eine andere Entwicklung in Sach- und Personenfragen vorziehen würden. Es gehen unblutige und doch lebhafte Kämpfe durchs Land; das hat auch zur Krise, zu Neuwahlen geführt.

Mit „fürstlicher Vollmacht“ wird also Liechtenstein seinen Wahlkampf ausfechten. Er wird Europa wenig bewegen. Uns aber kann er insofern sympathisch sein, weil er eine unvermeidliche Begleiterscheinung der politischen Unabhängigkeit eines Gemeinwesens ist. An dieser Selbständigkeit wird gerade die Schweiz nicht rütteln und nichts abbröckeln lassen. Sie ist uns wichtig, weil wir bei „Revisionen der Karte Europas“ in nichts beteiligt sein wollen.

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[1] Oltener Tagblatt 23.3.1926 (LI LA SgZs 1926).