Bericht in der National-Zeitung Basel[1]
Ende April 1925
Liechtensteiner Industrie
Zum erstenmal hatten sich dieses Jahr einige Firmen aus dem Fürstentum Liechtenstein an der Schweizer Mustermesse in Basel beteiligt. Sie haben damit das Interesse weiter Kreise auf die Liechtensteiner Industrie gelenkt, deren Produktion durch den Zollanschluss an die Schweiz unseren einheimischen Erzeugnissen gleichzustellen ist. Der Sekretär der Liechtensteiner Handelskammer [2], Herr Guido Veger [!] in Vaduz, welcher sich während der ganzen Schweizer Mustermesse in Basel aufhielt, skizzierte uns die Liechtensteiner Industrieverhältnisse wie folgt:
Liechtenstein hat in der Nachkriegszeit seine wirtschaftliche Neuorientierung im engen wirtschaftlichen Anschluss an die Schweiz gefunden; eine politische Anschlussfrage besteht aber nicht und hat nie bestanden, ebensowenig wie seinerzeit im Anschlussverhältnis mit Österreich. Die Ereignisse der Jahre 1919/20 brachten die Post- und Zollverträge mit Österreich zur Auflösung. Der Plan einer selbständigen Wirtschaftseinheit konnte für Liechtenstein nicht in Erwägung gezogen werden. Ein Staatswesen mit solchen Miniaturverhältnissen (10‘000 Einwohner, 157 Quadratkilometer) kann auf die Dauer wichtige wirtschaftliche Verhältnisse nicht mit Vorteil selbständig lösen. Die Schweiz als Anschlussland lag sowohl räumlich als auch den Sympathien und stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen nach am nächsten.
Die Schweiz übernahm zuerst die Verwaltung von Post, Telegraph und Telephon. Das Land hat heute neben der 1920 eingeführten Schweizerfrankenwährung auch eigenes Silbergeld, das in Feinheit und Gewicht dem Franken der lateinischen Münzunion entspricht. Die Prägung eigenen Geldes (in der schweizerischen Münzstätte in Bern) entsprang weniger einer Notwendigkeit, als dem Wunsche, der Souveränität Liechtensteins neuerlich Ausdruck zu geben.
Die Eisenbahn in Liechtenstein gehört Österreich und hat österreichische Verwaltung. Österreich erhebt auf dieser Strecke einen separaten Verwaltungszuschlag in Franken, den irreführend bezeichneten „liechtensteinischen Grenzzuschlag“, der ausschliesslich Österreich zufällt. Liechtenstein ist bemüht, eine Änderung des Titels für den Zuschlag zu erreichen und setzt sich für eine Reduktion des Zuschlages ein, der wegen seiner Höhe die abfällige Kritik des internationalen Publikums erfährt.
Seit 1. Januar besteht die Zoll-Union mit der Schweiz. Der wechselseitige Waren- und Personenverkehr ist voll freigegeben. Die Erwartungen, die an diesen wichtigen Vertrag von grosser Tragweite geknüpft wurden, haben sich erfüllt. Die Belebung des liechtensteinischen Arbeitsmarktes, die fast ungehindert Freizügigkeit liechtensteinischer Arbeiter in der Schweiz, erhöhte Absatzmöglichkeiten zu guten Preisen für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse, Belebung der Fremdenindustrie und Einflüsse auf den Geldmarkt sind einige der wichtigsten vorteilhaften Auswirkungen.
Dies Aufnahmsfähigkeit der Landwirtschaft, die die erste Erwerbsquelle Liechtenstein darstellt, und der Industrie kann mit dem natürlichen Bevölkerungszuwachs nicht Schritt halten. Es besteht eine beträchtliche Auswanderung an Saisonarbeitern (zirka 4 Prozent der Bevölkerung), die als gesuchte Gipser und Maurer in der Schweiz das Brot verdienen und alle Jahre schöne Ersparnisse nach Hause bringen.
Mit dem Zollanschluss hat Liechtenstein unter anderen Gesetzen auch das Gesetz betreffend Arbeit und Arbeitszeit in den Fabriken übernommen. Die wichtigsten liechtensteinischen Industrien sind die Baumwollweberei, die Baumwollspinnerei, die Tonwarenindustrie, die Lederwaren-Industrien, die Trocken-Elemente-Erzeugung und die Marmor-Industrie. Der Krieg hat eine einst blühende Heimindustrie, die Stickerei, vernichtet. Die Versuche einer Wiederbelebung haben langsam Erfolg.
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