Bericht der "Neuen Zürcher Zeitung", gez. "Gi" [1]
28.5.1922
Liechtenstein und die Schweiz
Gi. 1. Liechtenstein, dieses stattliche Zwerggebilde an der Ostmark unseres Landes, schaut bereits auf eine zweihundertjährige Geschichte als unabhängiges Fürstentum zurück. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bildete eine ständische Verfassung das Grundgesetz des kleinen Landes. Auf Grund der von den Landständen vorgebrachten Wünsche verlieh der Fürst [Johann II.] im Jahre 1861 [2] dem Lande eine neue Verfassung. Diese auf freiheitlichen Prinzipien aufgebaute Verfassung – sie führte unter anderem schon anfänglich das allgemeine Wahlrecht ein – blieb bis zum Jahre 1921 das Grundgesetz des Landes und erwies sich für Liechtenstein im grossen und ganzen als segensreich.
Die Kleinheit des Landes brachte es nun aber mit sich, dass Liechtenstein sich ausserstande sah, die ganze Fülle von Aufgaben, die an den modernen Staat gestellt werden, zu bewältigen; es musste infolgedessen und insbesondere zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen, Anlehnung an ein grösseres Gemeinwesen suchen. So übertrug denn Liechtenstein durch Staatsverträge die Besorgung seines "Post-, Eisenbahn- und Zollwesens" Österreich-Ungarn. Des weitern wurde das Oberlandesgericht in Innsbruck kraft Staatsvertrags mit der letztinstanzlichen Rechtsprechung in Zivil- und Strafsachen betraut. Ebenso errichtete der Fürst gemäss seiner verfassungsmässigen Befugnis, auf dem Verordnungswege die Organisation der Staatsbehörden durchzuführen, eine Art Verwaltungsgericht in Wien als Beschwerdeinstanz gegen Verfügungen der Regierung in Vaduz. Dazu kam, dass auch die erst- und zweitinstanzlichen Gerichte [3] im Lande selbst gewöhnlich mit österreichischen Richtern besetzt waren. Diese Zustände hatten naturgemäss auch eine gewisse politische Abhängigkeit des Ländchens von der Nachbarmonarchie zur Folge.
Während des Weltkrieges verhielt sich Liechtenstein, soweit seine engen Beziehungen zu Österreich es überhaupt zuliessen, neutral. Mit dem am Ende des Weltkrieges erfolgten Zusammenbruch der Donaumonarchie fielen die Bande, die das Ländchen mit Österreich verknüpften, dahin. Dem Beispiel seiner östlichen und nördlichen Nachbarn folgend, gab sich auch Liechtenstein im Jahre 1921 eine neue Verfassung. Das neue Grundgesetz behält die konstitutionelle Erbmonarchie bei, ist aber im übrigen auf demokratischer und parlamentarischer Basis aufgebaut, mit besonderer Betonung der Freiheitsrechte und der politischen Rechte: so führt es sogar das fakultative Verfassungs- und Gesetzesreferendum, sowie die Verfassungs- und Gesetzesinitiative ein. Die Übertragung der Rechtspflege an ausländische Gerichte, sowie die Verlegung von Behörden ausser Landes, ist nach der neuen Verfassung nicht mehr zulässig.
2. Nach dem Ausscheiden von Österreich-Ungarn musste nun Liechtenstein die Anlehnung, die ihm früher die Donaumonarchie gewährt hatte, bei einem andern Staate suchen. Es wandte sich an die Schweiz. Durch Übereinkommen vom 10. November 1920 [4] zwischen dem schweizerischen Bundesrat und der liechtensteinischen Regierung, von der Bundesversammlung ratifiziert im Februar 1921, übernahm die Schweiz die Besorgung des Postdienstes, sowie des Telegraphen- und Telephondienstes im Fürstentum Liechtenstein, auf dessen Rechnung. Die schweizerischen Gesetze und Verordnungen über das Post-, Telegraphen- und Telephonwesen finden im Fürstentum entsprechende Anwendung. Die Beamten dieser Verkehrsanstalten werden von der Schweiz angestellt, wenn auch auf Vorschlag der liechtensteinischen Regierung. Ebenso sind Verhandlungen im Gange über den Abschluss eines Zollvertrages zwischen der Schweiz und Liechtenstein.
Es scheinen nun mancherorts Zweifel zu bestehen über die juristische Tragweite dieses Übereinkommens; man hört da und dort von einem "Kanton" Liechtenstein oder von einem "zugewanderten Ort" reden. Dem ist nun nicht so. Das Übereinkommen vom 10. November 1920 stellt sich formell als einen völkerrechtlichen Vertrag dar, als Vertragskontrahent ist somit Liechtenstein ein voll handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt, und also ein souveräner Staat. Materiell bedeutet nun das Übereinkommen für das Fürstentum Liechtenstein eine Beschränkung des Kompetenzbereiches seiner Staatsgewalt; diese Beschränkung kann aber, da sie vertraglicher Natur ist, von Liechtenstein durch Kündigung des Übereinkommens jederzeit wieder aufgehoben werden; sie tangiert daher die Souveränität des Landes, die Selbstbestimmbarkeit durch den eigenen Willen, nicht. Der Umstand, dass Liechtenstein nicht in den Völkerbund aufgenommen worden ist, ist nur auf die Kleinheit des Staatsgebietes zurückzuführen, und nicht etwa auf mangelnde Souveränität des Fürstentums oder gar auf das Fehlen einer Staatsgewalt. Das wurde in der Ersten Völkerbundsversammlung ausdrücklich festgestellt. Die Stellung von Liechtenstein zur Schweiz ist somit von derjenigen eines Kantons zum Bunde grundverschieden: dort ein völkerrechtliches Vertragsverhältnis, hier hingegen eine auf der Bundesverfassung basierende staatsrechtliche Verbindung zwischen Bundesstaat und Gliedstaat auf Gedeih und Verderb; aus dieser Mitgliedschaft zum Bunde folgt ausserdem, dass der Schweizerkanton im Gegensatz zu Liechtenstein nicht souverän ist und eine sehr beschränkte völkerrechtliche Handlungsfähigkeit besitzt.
Aber auch mit einem "zugewanderten Ort" im Sinne des Staatsrechts der alten Eidgenossenschaft kann Liechtenstein nicht gut verglichen werden. Die rechtliche Stellung der einzelnen zugewandten Orte zur alten Eidgenossenschaft ist zwar nicht leicht zu definieren; soviel kann man immerhin sagen, dass die zugewandten Orte im grossen und ganzen nach innen autonom waren, nach aussen hingegen in ihrer grossen Mehrheit keine selbständige Politik treiben durften. Diese Abhängigkeit von den Eidgenossen beruhte nun auf einem ewigen Bündnis und durfte also nicht wie ein Staatsvertrag auf Kündigung hin gelöst werden. Die zugewandten Orte konnten somit wohl nicht als souveräne Staaten betrachtet werden.
Aber auch ein Protektoratsverhältnis zwischen der Schweiz und Liechtenstein, wie es beispielsweise zwischen Italien und der Miniaturrepublik San Marino vertraglich besteht, liegt nach dem oben Gesagten nicht vor.
Nach unserem Dafürhalten kommt hingegen das schweizerisch-liechtensteinische Verhältnis juristisch demjenigen zwischen Frankreich und Monaco am nächsten; Monaco hat seine Verwaltung mit Frankreich gemeinsam; trotzdem ist es ein souveräner Staat geblieben. Ein ähnliches Verhältnis bestand auch zwischen Deutschland und Luxemburg hinsichtlich der Zölle.
Liechtenstein steht also zur Schweiz in keinem staatsrechtlichen Verhältnis; die besonderen Beziehungen, die zwischen beiden Ländern bestehen, sind ausschliesslich völkerrechtlicher Natur.
Liechtenstein ist somit für die Schweiz Ausland.
3. Auch in bezug auf die Besetzung der Gerichte des Ländchens mit rechtskundigen Leuten hat die Schweiz gewissermassen die Donaumonarchie abgelöst. Wie eine Pressmeldung kürzlich berichtete, sollen einige Schweizer Juristen mit Richterstellen in Liechtenstein betraut worden sein. [5] Man hat nun in der Presse dieses in letzter Zeit häufige Annehmen von auswärtigen Stellen durch schweizerische Notabilitäten als moderne Reisläuferei bezeichnet. Es soll dahingestellt bleiben, inwieweit dieser Vergleich zutrifft, und falls er einen Vorwurf enthält, inwiefern dieser begründet ist. Unseres Wissens blieben jedoch in der alten Eidgenossenschaft, um bei dem Bilde zu bleiben, wenigstens die Staatshäupter und die Tagsatzungsabgeordneten daheim. Heute scheint es fast, dass dies nicht mehr der Fall sei. Nach der oben erwähnten Pressmeldung figuriert unter den mit liechtensteinischen Richterstellen betrauten schweizerischen Juristen auch ein Mitglied des Ständerates; ihm soll der Vorsitz der liechtensteinischen Verwaltungsbeschwerdeinstanz in Vaduz übertragen worden sein. Diese Nachricht mahnt zum Aufsehen. Gemäss Artikel 97 der liechtensteinischen Verfassung wird der Präsident dieser Verwaltungsbeschwerdeinstanz vom Landesfürsten auf Vorschlag des Landtages ernannt. Durch die Annahme dieses Verwaltungsgerichtspräsidiums würde also das betreffende Ständeratsmitglied eine öffentlichrechtliche Dienstpflicht gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein eingehen; die Tatsache, dass es seine Funktionen nur im Neben- oder Ehrenamt ausüben würde, ist dabei rechtlich irrelevant. Diese Doppelstellung verstösst nun unseres Erachtens entschieden gegen die Bundesverfassung: Der Artikel 12 der Bundesverfassung bestimmt, dass die Mitglieder der Bundesbehörden sowie die eidgenössischen Zivil- und Militärbeamten von auswärtigen Regierungen weder Pensionen oder Gehälter, noch Titel, Geschenke oder Orden annehmen dürfen. Wir wollen nun nicht etwa allein auf den Wortlaut dieser Bestimmung abstellen und untersuchen, ob im vorliegenden Fall wohl von der Ausrichtung eines Gehaltes gesprochen werden könne. Es liegt hier vielmehr ein Verstoss gegen den Sinn und Geist der erwähnten Verfassungsvorschrift vor. Die ratio constitutionis ist wohl die, dass die im Dienste des Bundes stehenden Personen nur sein Wohl im Auge zu halten haben und dass infolgedessen die Übernahme von irgend welchen Verpflichtungen gegenüber fremden Staaten Pflichtenkollisionen auslösen könne, die mit den Interessen des Bundes nicht in Einklang stehen und darum vermieden werden müssen. Wenn nun schon die Annahme von Orden oder Pensionen den Interessen des Bundes zuwiderläuft und von Bundes wegen verpönt ist, um so mehr muss dies der Fall sein bei Übernahme von auswärtigen Stellen. Dieser Sinn ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der zitierten Verfassungsbestimmung. Den Schöpfern der Bundesverfassung dienten als Vorbild bei der Abfassung des Artikels 12 im Jahre 1848 die liberalen Kantonsverfassungen der Regenerationszeit. Diese hatten durch Aufstellung einer ganzen Reihe von Vorschriften den grundsätzlichen Kampf gegen die ausländischen Einflüsse unternommen, die sich in Form von Ordensverleihungen und Pensionen je länger je mehr geltend machten. Einige von diesen Verfassungen, wie beispielsweise diejenige von Luzern, Schaffhausen, Aargau, enthielten auch ein ausdrückliches Verbot der Annahme von auswärtigen Stellen durch ihre Behörden und Beamten. Der Artikel 12 der Bundesverfassung ist nun gleichsam eine Synthese jener kantonalen Bestrebungen. Dass das Verbot der Annahme auswärtiger Stellen darin keine ausdrückliche Aufnahme fand, ist nur aus dem Umstande zu erklären, dass dieser Fall in der Praxis eine sehr geringfügige Rolle spielte im Vergleich z. B. zum grassierenden Pensionswesen. Die geltende Luzerner Kantonsverfassung kennt noch heute in ihrem Artikel 15 ein Verbot der Annahme auswärtiger Stellen durch ihre kantonalen Behörden und Beamten; sie nimmt dabei ausdrücklich Bezug auf Artikel 12 der Bundesverfassung. Dass zu den Bundesbehörden im Sinne des Artikels 12 der Bundesverfassung auch die Mitglieder des National- und Ständerates gehören, ist selbstverständlich; dies hat auch der Bundesrat in seiner Praxis zu manchen Malen festgestellt.