Liechtenstein stellt der österreichischen Bahnverwaltung als 50%igen Beitrag zu den Frankenzuschüssen für die im Fürstentum beschäftigten Eisenbahner darlehensweise 6000 Franken zur Verfügung


Maschinenschriftliches Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien, gez. Gesandter Prinz Eduard von Liechtenstein, an die liechtensteinische Regierung [1]

29.4.1920, Wien

An die fürstliche Regierung in Vaduz

In obiger Angelegenheit habe ich gestern allein und heute in Anwesenheit des Herrn Landesverwesers [Karl von Liechtenstein] Verhandlungen im Staatsamte für Verkehr und im Beisein von Vertretern des Staatsamtes des Äussern und der Finanzen gehabt. Das Ergebnis derselben ist, dass die österreichische Staatsbahnverwaltung den Eisenbahnern im Lande einen Frankenzuschuss im Betrage von zirka 4000 Frcs. monatlich und zwar analog den derzeit für die Landesbeamten üblichen Zulagen zu gewähren beabsichtigt: ledige 50 Frc., verheiratete 70 Frc., Kinder 8 Frc., soferne die Eisenbahner darauf eingehen, welche gegenwärtig noch 10 Frc. per Kind verlangen. Um dieses Resultat zu ermöglichen, habe ich namens Seiner Durchlaucht des Fürsten [Johann II.] erklärt, 50 % des Erfordernisses der österreichischen Staatsverwaltung als Darlehen, unpräjudizierlich und ohne Anerkennung eines Rechtstitels der österreichischen Staatsverwaltung zu diesen Auslagen einen Beitrag zu verlangen, für die Monate Mai, Juni und Juli zur Verfügung zu stellen. [2] Ich habe hiezu die Zustimmung Seiner Durchlaucht aus der Erwägung erbeten, weil ich überzeugt bin, dass die Einstellung des Eisenbahnverkehrs, insbesonders der Frachtzufuhren, selbst wenn heute die an der Bahn gelegenen Gemeinden sich an der Aufrechterhaltung des Bahnverkehres für nicht besonders interessiert erachten, in der kürzesten Zeit im ganzen Lande die tiefste Missstimmung und wahrscheinlich auch schwerste wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen würde. Der Termin bis 1. August wurde aus dem Grunde in Aussicht genommen, weil bis dahin – theoretisch wenigstens – die Möglichkeit besteht, dass der Zollvertrag mit der Schweiz perfekt wird, und die Schweizerische Bundesbahn den Eisenbahnbetrieb Feldkirch-Buchs von Österreich definitiv übernehmen und vielleicht auch die Frankenwährung in Liechtenstein gesetzlich sein wird. In letzterem Falle würde Österreich die Bezahlung der Gehälter in Franken für die in Liechtenstein exponierten Angestellten ebenso übernehmen, wie dies für andere Eisenbahner, die im Auslande stationiert sind, der Fall ist. Gegenwärtig kann Österreich dies grundsätzlich nicht tun, weil sonst sehr leicht durch Streiks und ähnliche Bewegungen auch in Tirol und Vorarlberg Frankenzuschüsse erzwungen werden könnten. Die Aufrechterhaltung eines blossen Durchgangsverkehres ohne Mitwirkung der beruflichen Eisenbahner würde wegen der Verminderung der Sicherheit und der Fahrgeschwindigkeit den internationalen Verkehr berühren und müsste in der Schweiz, in Paris und London Stimmungen auslösen, welche für die Staatliche Stellung Liechtensteins nichts weniger als wünschenswert zu bezeichnen wären. Liechtenstein würde in der ganzen Welt in den Ruf eines Staates kommen, der nicht die Kraft hat, seinen Verpflichtungen der Allgemeinheit gegenüber gerecht zu werden, und eines kulturell tiefstehenden Balkanstaates. Da könnten sich sehr leicht Tendenzen entwickeln, die in den internationalen Zentren den Gedanken auslösen, dass die weitere Existenz dieses Staates nicht mehr im allgemeinen Interesse des europäischen Verkehres liege.

Vom Standpunkt der Aussenpolitik des Landes muss daher jede Einschränkung des Bahnverkehres, die nicht durch die in Österreich ohnehin denselben schwer schädigenden Kohlenmangel hervorgerufen wird, selbst unter gewissen finanziellen Opfern vermieden werden. Die Regierung wird angewiesen die Redaktionen des Volksblattes und eventuell auch der Oberrheinischen Nachrichten im Gegenstande entsprechend aufzuklären und ihnen nahe zu legen, in diesem Sinne aufklärend zu schreiben.

Was nun das Projekt der Einhebung eines Frankenzuschusses zu den Fahrkarten und den Frachtgebühren betrifft, so steht die österreichische Eisenbahnverwaltung, und wie ich glaube mit Recht, auf dem Standpunkt, dass in Liechtenstein im allgemeinen jener Tarif gilt, der nach den für Österreich geltenden Normen in Österreich eingehoben werden kann. Eine Erhöhung des Tarifes ist nach den letzten Beschlüssen der Nationalversammlung an die Genehmigung derselben geknüpft und war auch früher eine Genehmigung der gesamten Regierung notwendig. Es steht selbstredend der liechtensteinischen Regierung frei, im Wege eines Gesetzes oder einer Regierungsverordnung die österreichische Eisenbahnverwaltung zu ermächtigen, zu den geltenden Tarifen Zuschüsse in Franken in den drei liechtensteinischen Stationen einzuheben, und erklärt sich die österreichische Eisenbahnverwaltung bereit dies zu tun, falls eine diesbezügliche Norm mit Gesetzeskraft in Liechtenstein publiziert erscheint. Ob eine solche Norm aber geschaffen werden soll, ist eine Frage, die sich meiner Ingerenz entzieht. Jedenfalls habe ich die Eisenbahnverwaltung ersucht, statistisches Material zu liefern, welches den finanziellen Effekt einer solchen Verordnung einigermassen zu beurteilen die Möglichkeit gibt. Die Einhebung des Zuschusses in Buchs ist ohne Einvernehmen mit der Schweizer Regierung ausgeschlossen und wahrscheinlich überhaupt nicht möglich. Eine Einhebung in Feldkirch wäre unter Umständen zu erreichen, aber auch nur nach langwierigen Verhandlungen und würde wohl zur Folge haben, dass die Ausgabe direkter Karten österreichischerseits über Feldkirch hinaus allgemein eingestellt werden müsste. Die österreichische Eisenbahnverwaltung meint daher, dass Liechtenstein sich begnügen sollte, diese Zuschläge nur in Liechtenstein selbst einzuheben, also nur bei der Ausreise, und meine Anregung eventuell durch die Kondukteure auf der Strecke den Zuschlag wie auf der Tramway einzuheben, wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Kondukteur gar nicht in der Lage wäre, dies auf der kurzen Strecke effektiv zu tun. Natürlich liesse sich noch der Gedanke durchführen, den in den Stationen Aussteigenden, vor Verlassen des Bahnhofes den Frankenzuschlag abzunehmen. Es ist aber die Frage, ob hier nicht wieder neues Personal und gewisse technische Vorkehrungen für Absperrung des Perrons notwendig wären, deren Kosten den Ertrag noch in Frage stellen würden. [3]

Ich ersuche die Regierung mich über die diesbezüglichen dortigen Beschlüsse und Absichten im Laufenden zu erhalten.

Der fürstliche Gesandte:

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[1] LI LA V 003/0914 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 302/5 1920). Handschriftliche Bemerkung: „sehr interess. [interessant].“ Verweis auf das Schreiben des Landesverwesers Prinz Karl von Liechtenstein an die Gesandtschaft vom 27.4.1920 mit der Geschäftszahl 1922/reg (ebd.). – Vgl. das Schreiben der österreichischen Staatsbahndirektion Innsbruck an die liechtensteinische Regierung vom 7.11.1919 betreffend die Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung für die Eisenbahnbediensteten in Liechtenstein infolge der Inflation der österreichischen Kronenwährung (LI LA RE 1919/5560 (Aktenzeichen der Staatsbahndirektion: Z. 365/1/W)); das Schreiben der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien an die liechtensteinische Regierung vom 30.1.1920 betreffend die Drohung des österreichischen Staatsamtes für Verkehrswesen, das Eisenbahnpersonal aus Liechtenstein abzuziehen, falls nicht die Lebensmittelversorgung durch Gewährung von Frankenzuschüssen oder durch Warenabgabe in Kronenwährung zu marktüblichen Preisen sichergestellt werde (LI LA V 003/0873 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 99/1 1920)) und die Note der liechtensteinischen Gesandtschaft an das Staatsamt für Verkehrswesen vom 18.2.1920, in welcher die liechtensteinische Regierung die erwähnte Drohung mit einer Verkehrssperre nachdrücklich zurückwies (LI LA V 003/0873 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 99/3 – 20)). – Weil die Bahnverwaltung den Bediensteten in Liechtenstein nicht jene Frankenzuschüsse gewähren wollte, wie sie den liechtensteinischen Landesbeamten zugebilligt wurden, traten die Eisenbahner im Fürstentum am 19.4.1920 in den Streik, sodass auf der Strecke Feldkirch-Buchs keine Züge verkehrten (L.Vo., Nr. 32, 21.4.1920, S. 2 („Bahnstreik“); O.N., Nr. 34, 23.4.1920, S. 2 („Landesverweserfrage und Eisenbahnerstreik“)). Die österreichischen Staatsbahnen erhöhten daraufhin am 22.4.1920 die bisher gewährte Beihilfe in Liechtenstein von insgesamt 400 auf 1200 Franken. Dieses Angebot nahm ein Streikkomitee in Nendeln am 23.4.1920 grundsätzlich an, wobei der Betrag so verteilt werden sollte, dass an jeden Bediensteten zwischen 50 und 70 Franken und zusätzlich 10 Franken für minderjährige Kinder ausgeschüttet werden sollten.
[2] Vgl. in weiterer Folge die neuerlichen finanziellen Forderungen an Liechtenstein in der Note des österreichischen Bundesministeriums für Verkehrswesen an die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien vom 29.12.1920 (LI LA V 003/0917 (Aktenzeichen des Ministeriums: Z. 33782/Büro a. Aktenzeichen der Gesandtschaft: 33/1)). 
[3] Diese Zuschläge wurden auf den 1.2.1921 im Verkehr der Stationen Buchs, Schaan, Nendeln und Schaanwald eingeführt (Öst. Verordnungs-Blatt für Eisenbahnen, Schiff- und Luftfahrt, Veröffentlichungen in Tarif- und Transport-Angelegenheiten, Nr. 4, 14.1.1921). Die Betriebskostenzuschläge auf der liechtensteinischen Strecke wurden von den Österreichischen Bundesbahnen mit 1.1.1926 wieder aufgehoben.