Maschinenschriftliches Schreiben von Prinz Eduard, Gesandter in Wien, an die Regierung [1]
11.7.1920, Wien
Anmeldung Liechtensteins zum Völkerbund
Der fürstliche Geschäftsträger in Bern [Emil Beck] hat mir unter Zahl 774 vom 5. Juli, [2] hier eingelangt am 7. d.M., mitgeteilt, dass das Politische Departement ihn soeben dahin verständigt habe, dass am 27. d.M. in San Sebastian eine Sitzung des Völkerbundsrates stattfinden werde und dass bis 15. d.M. beim Sekretariat des Völkerbundes in London die Anmeldungen zum Beitritt eingereicht werden müssten, welche bei dieser Sitzung zur Behandlung gelangen sollen. Das Politische Departement sei sehr gerne bereit, die Anmeldung des Fürstentumes durch seinen Gesandten in London [Charles Rudolph Paravicini] vornehmen zu lassen. Die Eidgenössische Regierung sei geneigt, hiebei das Ansuchen zu stellen, dass dem Fürstentume jede Verpflichtung zu militärischer Dienstleistung erlassen werde, hege jedoch Bedenken, für das Fürstentum die Anerkennung der militärischen Neutralität zu fordern. Diese wurde nämlich, laut der Londoner Erklärung des Rates des Völkerbundes vom 13. Februar 1920, [3] der Schweiz als einzigem aller neutralen Staaten lediglich wegen der einzigartigen Lage, in welche sie sich auf Grund einer Jahrhunderte alten Überlieferung, die im Völkerrecht ausdrücklich Aufnahme gefunden hat, befindet, zugestanden, und nimmt daher das Politische Departement, nachdem dieser Wunsch allen anderen Staaten verweigert wurde, an, dass ein bezüglicher Schritt des Fürstentumes aussichtslos wäre; des weiteren glaubt aber der Bundesrat, dass nachdem der Schweiz diese Konzession lediglich wegen der einzigartigen Lage, auf welche sie sich berufen hatte, zugestanden wurde, sie nun nicht wohl dasselbe für noch einen anderen Staat verlangen könne, da ihr dies als illoyaler Akt ausgelegt werden könnte.
Falls das Fürstentum auf die Anerkennung seiner militärischen Neutralität bestehen und sich mit der Erlassung der Verpflichtung zu militärischer Dienstleistung nicht begnügen würde, würde sich daher wohl eine direkte Anmeldung des Fürstentumes, ohne Inanspruchnahme der Vermittlung der Schweiz, empfehlen. Dr. Beck erbat sich telegraphische Weisung vor dem 15. d.M.
Ich habe seiner Durchlaucht dem Fürsten [Johann II.] sofort Bericht erstattet und in Hochdessen Auftrage mit dem französischen Gesandten in Wien, Herrn [Pierre] Lefèvre-Pontalis, Rücksprache gepflogen. Derselbe teilt ebenfalls den Standpunkt des Schweizerischen Bundesrates, dass nämlich die Erlassung von jeder militärischen Dienstleistung dem Fürstentume angesichts seiner Kleinheit sowie angesichts des Umstandes, dass es seit 1866 keine bewaffnete Macht mehr besitzt, wohl zugebilligt werden dürfte, dass aber eine Anerkennung der militärischen Neutralität ausgeschlossen erscheine. Eine Unterredung mit dem Wiener Schweizerischen Gesandten [Charles-Daniel Bourcart] bewies, dass auch dieser die gleiche Ansicht habe.
In der vorerwähnten Erklärung des Rates des Völkerbundes wird grundsätzlich festgestellt, dass der Begriff der Neutralität der Mitglieder des Völkerbundes nicht vereinbar sei mit dem Grundsatz, dass alle Mitglieder gemeinsam zu handeln haben. Praktisch ist jedoch für das Fürstentum die Anerkennung der Neutralität in dem Augenblicke vollkommen überflüssig, als es von der Verpflichtung militärischer Dienstleistung enthoben erscheint; ein Angriff auf das Fürstentum kommt wegen seiner Kleinheit kaum in Betracht und hätte, sobald Liechtenstein Mitglied des Völkerbundes ist, auch ohne Anerkennung seiner Neutralität eine Hilfaktion des Völkerbundes zur Folge; als Durchzugsgebiet für Truppen oder als Gebiet zur Vorbereitung militärischer Massnahmen kommt das Fürstentum nicht in Betracht, da es im Westen und Süden durch die neutrale Schweiz geschützt wird und jeder Einmarsch über die österreichische Grenze nur wieder auf Schweizer Territorium führen könnte. Die einzige Verpflichtung, welche dem Fürstentume aus der Nichtanerkennung seiner Neutralität erwachsen kann, ist die, an einen Staat, der sich mit dem Völkerbund in Kriegszustand befindet, keine Lebensmittel und kein Kriegsmaterial zu liefern, sowie an den finanziellen und kommerziellen Massnahmen gegenüber einem bundesbrüchigen Staate teilzunehmen, eine Verpflichtung, welche das Fürstentum ohne Gefahr einer irgend ins Gewicht fallenden Schädigung seiner Interessen wohl auf sich nehmen kann.
Ich habe diese Anschauungen daher Seiner Durchlaucht dem Fürsten vorgetragen, welcher daraufhin, angesichts des Umstandes, dass die Öffentlichkeit in Liechtenstein seit jeher für den Eintritt des Fürstentumes in den Völkerbund war und dieser Wunsch durch das gegenständliche Vorbild der Schweiz [4] an Nachhaltigkeit nur gewonnen haben kann, der Anmeldung des Fürstentumes zum Beitritt in den Völkerbund durch die Schweiz unter gleichzeitiger Stellung des Verlangens, dass dem Fürstentum in Anbetracht seiner Kleinheit und des Fehlens einer bewaffneten Macht die Verpflichtung zu jedweder militärischer Dienstleistung erlassen werde, zu genehmigen geruht hat. Da die Anmeldungen bis 15. d.M. in London sein müssen und daher, falls der Termin nicht versäumt und die ganze Angelegenheit auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben werden sollte, die grösste Eile geboten war, habe ich Anbetracht der Tatsache, dass die fürstliche Regierung schon in ihrer im vorigen Jahre an die Friedenskonferenz in Paris gerichteten Note [5] die Einleitung eines Gedankenaustausches über die Aufnahme in den Völkerbund mit Zustimmung des Landtages [6] angestrebt hat, ein neuerlicher gegenständlicher Schritt also nicht eine neue Aktion, sondern nur die Fortsetzung einer bereits seit langer Zeit laufenden bedeutet, am 9. d.M. den fürstlichen Geschäftsträger in Bern telegraphisch beauftragt, die Anmeldung des Fürstentumes in der oben geschilderten Weise durch die Schweiz vornehmen zu lassen. [7] Ich werde sowohl mit dem französischen wie mit dem englischen Gesandten in Wien [Francis Oswald Lindley] Fühlung nehmen und dieselben ersuchen, auf ihre resp. Regierungen in einem für die Erfüllung des Ansuchens des Fürstentumes betreffend die Erlassung militärischer Dienstleistung günstigem Sinne einzuwirken, und glaube mich der Hoffnung hingeben zu können, dass die Aufnahme Liechtensteins in der gewünschten Art keinen Hindernissen begegnen werde.
Das Konzept eines gegenständlichen halbamtlichen Kommuniqués für die liechtensteinische Presse folgt mit dem nächsten Kurier. [8]
Eine Abschrift dieses Berichts ergeht an die fürstliche Gesandtschaft in Bern.
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[1] LI LA RE 1920/3159 ad 141. Aktenzeichen: 541/2. Eingangsstempel der Regierung vom 13.7.1920. Auf der Rückseite des Bogens handschriftlicher Vermerk von Josef Ospelt: "In der verstärkten Regierungssitzung von heute zur Kenntnis gebracht. a.a. 21.VII.1920." Ein weiteres Exemplar unter LI LA V 002/0160/07; ein handschriftlicher Entwurf unter LI LA V 003/0113.
[2] LI LA V 002/0160/05.
[3] DDS, Bd. 7b, Nr. 247.
[4] Die Schweizer Stimmberechtigten hatten am 16.5.1920 dem Beitritt zum Völkerbund mit 416'870 Ja zu 323'719 Nein zugestimmt.
[5] Wohl LI LA RE 1919/4654 ad 589, Memorandum zuhanden der Pariser Friedenskonferenz, o.D. (Anfang September 1919).
[6] Der Landtag hatte am 28.8.1919 beschlossen, es solle ein Beitrittsgesuch an den Völkerbund gerichtet werden (LI LA LTA 1919/S04).
[7] LI LA V 002/0160/06.
[8] Vgl. LI LA RE 1920/3209 ad 141, Prinz Eduard an Prinz Karl, 15.8.1920. Das Communiqué erschien in L.Vo., Nr. 63, 7.8.1920, S. 1 ("Die Aufnahme Liechtensteins in den Völkerbund").