Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]
15.8.1914
Die Serie der Kriegserklärungen. Seit dem 28. Juli sind folgende Kriegserklärungen erfolgt:
Österreich-Ungarn an Serbien am 28. Juli.
Deutschland an Russland am 1. August.
Deutschland an Frankreich am 3. August.
Deutschland an Belgien am 4. August.
England an Deutschland am 4. August.
Österreich-Ungarn an Russland am 6. Aug.
Serbien an Deutschland am 6. August.
Montenegro an Österreich-Ungarn am 7. August.
Dass England an das Deutsche Reich den Krieg erklärt hat, drängt die Fülle des Geschehens zu einer unermesslichen Wucht und gigantischen Grösse an. Das Deutsche Reich findet seine leitenden Männer nun in starker Entschlossenheit an ihrem Platze. Der Reichstag hat in seiner letzten Sitzung nach Anhören einer in allen Richtungen orientierenden und klärenden Thronrede des Kaisers [Wilhelm II.] und nach dem gegenseitigen Gelübde zu treuem Zusammenhalt den Kriegskredit von fünf Milliarden ohne Beratung genehmigt. [2] Auch die Sozialdemokraten erhoben sich zum Kaiserhoch. Die Erklärung des Reichskanzlers [Theobald von Bethmann Hollweg], dass der Bruch der Neutralität Luxemburgs und Belgiens sich angesichts der bekannten Absicht Frankreichs, die nämlichen Wege zu gehen, nicht habe vermeiden lassen, gipfelte in dem Satz: Not kennt kein Gebot und in dem Versprechen an Luxemburg und Belgien, diese Rechtsverletzung gut zu machen. Der Reichstag jubelte der Entscheidung, hier dem Gebot der Not gehorchen, zu. Die Welt hat mit einem einigen Deutschland zu rechnen. Einig auch mit Österreich-Ungarn. Es ist von grosser Wichtigkeit, dass und wie die kaiserliche Thronrede auch betonte, es sich beim deutschen Krieg nicht bloss um Bundestreue, sondern auch um den Kampf für die gleichen Güter handelt. Diese zwei nun sind es, gegen die Russland, Frankreich und England losziehen. Wie dieser ungeheure Kampf auch seinen Lauf und sein Ende nehmen wird – eines ist festgestellt, und zwar durch die Veröffentlichung des Telegramm-Wechsels zwischen dem Deutschen Kaiser und dem Zaren [Nikolaus II.], [3] dass Russland für den Friedensbruch die Verantwortung trägt. Diese Publikation zeigt mit überzeugendster Klarheit, wie Kaiser Wilhelm bis zum letzten Moment mit grösster, ehrlicher und aufrichtiger Selbstverleugnung und aufrichtiger Freundschaft für Russland den Krieg hintan zu halten trachtete und wie unaufrichtig ihm mitgespielt wurde. In der herzlichsten und eindringlichsten Weise beschwört Wilhelm II. den Zar, nicht das furchtbarste Unheil über die ganze Welt zu entfesseln. Er erinnert ihn daran, wie er stets die von seinem Grossvater [Wilhelm I.] auf dem Totenbette überkommene Freundschaft mit Russland und den Zar heilig gehalten habe und wie es immer noch in der Hand des Zaren läge, der zivilisierten Welt den Frieden zu bewahren. Er legt dar, wie er selbst zur Erhaltung des Weltfriedens sich bis zur äussersten Grenze bei Österreich bemüht habe und sagt dabei bitter, dass Russland angesichts all dieser Bemühungen auf den Erfolg seiner Vermittlung hätte warten können. Aktenmässig wird an Hand dieses Telegrammwechsels bewiesen, wie die Rüstungen Russlands vorwärtsgetrieben wurden, während der Zar fortdauernd zum Kaiser von einer Hoffnung auf Vermittlung sprach und um deren Fortsetzung bat, dabei aber fleissig weiter rüsten liess, bis Kaiser Wilhelm mit Bestürzung und Empörung endlich nicht mehr die Augen habe davor schliessen können, wie er von Russland gefährlich getäuscht wurde. So wird die Bekanntgabe des kaiserlichen Depeschenwechsels zur historisch unvergleichlichen Anklage gegen die frivolen Urheber des angehobenen Weltkrieges. Alle Welt weiss nun, dass Deutschland und sein Kaiser nicht zu einem Präventivkrieg geschürt haben, dass Wilhelm II. vielmehr von der aufrichtigsten Friedensliebe geleitet war.
Dennoch hat es England für richtig gefunden, seine ungeheure Meeresmacht auf die Seite der Friedensbrecher zu werfen. Der Vorwand, den es dazu nimmt, der deutsche Bruch der belgischen Neutralität, ist durchsichtig schwach. Es will offenbar das Deutsche Reich bei dieser Gelegenheit so treffen, wie es seine maritimen Pläne ergeben.
Eine einzige Hoffnung zur Beruhigung der gegen Drei stehenden Zwei kann die Haltung Japans gelten. Aus Wien wurde hierüber am 1. August telegraphiert: "Das K.K.-Telegr.-Korresp.-Bureau erhält von besonderer Stelle folgende Meldung aus Tokio: Die Zeitung 'Nisshinishi' schreibt, Japan müsse ev. Schwierigkeiten Russlands unbedingt zur Regelung der mandschurisch-mongolischen Frage ausnutzen. Gestern fand ein längerer Ministerrat statt." Japan, so wird ferner kund, hat in Europa und gegenüber Russland freie Hand.
Die Lage ist so, dass nun jeden Augenblick zu Wasser und zu Land die furchtbarsten Zusammenstösse zu erwarten sind. Kleinere Zusammenstösse werden bereits gemeldet. Englands Stammesbruderschaft zu Deutschland scheint ganz vergessen zu sein. Es hilft den Slawen und Franzosen!
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[1] L.Vo., Nr. 33, 15.8.1914, S. 2.
[2] Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session, Bd. 306: Stenographische Berichte. Von der Eröffnungssitzung am 4. August 1914 bis zur 34. Sitzung am 16. März 1916, Berlin 1916, hier S. 1-12.
[3] Vgl. Hellmuth von Gerlach (Hrsg.): Briefe und Telegramme Wilhelms II. an Nikolaus II. (1894–1914), Wien 1920.