Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten" [1]
17.4.1915
Liechtenstein und der Aushungerungskrieg
Es heisst im „Sarganserländer":
„Dass in Marseille für den Transport nach der Schweiz bestimmtes Getreide nicht weiter befördert werde, weil die Schweiz einige Wagen an Liechtenstein und Brot an nahe Bewohner Vorarlbergs habe abgehen lassen – ob dieses Gerücht sich bewahrheitet, wird sich zeigen. Da Liechtenstein ein neutraler Staat ist, wäre nicht einzusehen, weshalb Frankreich gegen dieses unbewaffnete Land solche Massnahmen ergreifen sollte." [2]
Wir wollen hoffen, dass die Sache für uns nicht so schlimm ausfällt, wie sie in obiger – von seriöser Seite stammender – Notiz angedeutet ist. Das wäre nun doch der Triumph alles Missgeschickes. Liechtenstein hätte beizeiten Vorsorge treffen können.
Es wäre auch höchst bedauerlich, wenn Frankreich unser kleines Fürstentum, das als solches ein durchaus neutraler Staat ist und mit Österreich lediglich auf völkerrechtlichem Boden steht und nicht etwa unter dessen Protektorat [3] – wie selbst Liechtensteiner irrtümlich meinen – einfach aushungern wollte. Alles hat seine Schattenzeiten. Mit einem neutralen und machtlosen Lande sollte man keinen Hungerkrieg führen. England [4] und Frankreich scheinen verschiedener Ansicht über unser Land zu sein.
Unserer Stellung im gegenwärtigen Völkerringen dürfte es auch nicht schaden, wenn vielleicht seitens unserer h. Regierung Frankreich die neutrale Stellung Liechtensteins notifiziert würde.
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[1] O.N., Nr. 16, 17.4.1915, S. 1-2. Bereits vor Kriegsausbruch 1914 war Liechtenstein gezwungen gewesen, den grössten Teil des Brotgetreides einzuführen. Infolge der zunehmenden Versorgungsengpässe in Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkrieges sah sich die liechtensteinische Regierung veranlasst, andere Bezugsquellen zu erschliessen – bis Anfang März 1915 wurden aus bzw. über die Schweiz 30 Tonnen Weizen an Liechtenstein geliefert.
[2] Liechtenstein hatte bei Kriegsausbruch keine offizielle Neutralitätserklärung an die französische Regierung bzw. an das französische Aussenministerium abgegeben. Erst am 26.9.1914 orientierte die liechtensteinische Regierung die französische Präfektur in Clérmont-Férrand, dass Liechtenstein keinerlei militärische Einrichtungen besitze und sich vollkommen neutral verhalte (LI LA RE 1914/2794ad2131).
[3] Hier ist in erster Linie der völkerrechtliche Vertrag vom 2.12.1876 betreffend die Fortsetzung des durch den Vertrag vom 5.6.1852 gegründeten österreichisch-liechtensteinischen Zoll- und Steuervereins angesprochen (LGBl. 1876 Nr. 3). In Art. 1 des Vertrages hatte sich der souveräne Fürst von Liechtenstein ausdrücklich die landesherrlichen Hoheitsrechte im Fürstentum vorbehalten. Beachte ferner die Kündigungsklausel in Art. 28 des Vertrages. Auch in Art. 1 des österreichisch-liechtensteinischen Postvertrages vom 4.10.1911 behielt sich der Fürst expressis verbis die landesherrlichen Hoheitsrechte vor (LGBl. 1911 Nr. 4). Im Gegensatz dazu ist ein Protektorat durch die Begründung eines Schutzverhältnisses für ein Schutzgebiet, das sich eines Teils seiner Staatsgewalt begibt, durch einen oberherrschaftlichen Staat gekennzeichnet, wobei die Aufkündigung dieses Schutzverhältnisses durch den Unterstaat unzulässig ist.
[4] Am 17.11.1914 hatte der britische Aussenminister Sir Edward Grey im Unterhaus die Auskunft erteilt: „I am informed by the United States Ambassador that the Souvereign Principality of Liechtenstein considers itself neutral in the present hostilities. No prohibition of commercial or other dealings with the subjects of the Prince has been published." ("The Times", Nr. 40’700, 18.11.1914, S.12, in der Akte LI LA RE 1919/0589).