Artikel im "General-Anzeiger für Dortmund" [1]
9.6.1933, Dortmund
Milde Strafen im Rotterprozess
Das Plädoyer des Staatsanwalts / Die Schaie-Rotters waren keine glückliche Erwerbung für Liechtenstein / Zurückweisung der Schadenersatzforderungen durch die Verteidigung / Die Tat war ein Akt berechtigter Selbsthilfe / Das Urteil
Vaduz, 9. Juni. Am Donnerstag nahm im Prozess Schaie [2] der Staatsanwalt Dr. [Josef] Lenzlinger zu einem mehrstündigen Plädoyer das Wort. Nachdem er ausführlich über die Herkunft und die Leistungen der Angeklagten [Peter Rheinberger, Rudolf Schädler, Eugen Frommelt, Franz Röckle] gesprochen hatte, behandelte er eingehend die Anklagen des Berliner Generalstaatsanwalts gegen die Schaies. Er verwies dabei darauf, dass die Schaies im Oktober 1931 in der Gemeinde Mauren eingebürgert worden seien. Rückschauend müsse man sagen,
dass die Schaies keine glückliche Erwerbung für Liechtenstein gewesen seien.
Es fehle jeder Beweis dafür, dass die Schaies zurzeit des Einbürgerungsgesuches bereits ein Asyl gesucht hätten. Die Flucht aus Berlin sei erst 1¼ Jahr später erfolgt.
Der Staatsanwalt befasste sich dann näher mit den einzelnen Angeklagten. Diese wollten, so sagte er, angeblich Recht herstellen, indem sie Unrecht begingen. Sie wollten der Justiz dienen, indem sie etwas taten, was an Lynchjustiz grenze.
Sie wollten das Ansehen Liechtensteins wiederherstellen, indem sie es noch mehr schädigten, Diese psychologische Wahrscheinlichkeit spreche mit allem anderen dafür, dass die Angeklagten den Tod eines der Beteiligten nicht wollten. Ein vollendeter Menschenraub sei deshalb nicht anzunehmen, weil die Bemächtigung der Schaies nicht vollendet worden sei. Täterschaft sei nur bei Rheinberger, hingegen Gehilfenschaft bei Schädler und Frommelt, Anstiftung bei Schädler und namentlich bei Röckle festzustellen. Nach dem in Liechtenstein geltenden Strafrecht werde Menschenraub mit schwerem Kerker von fünf bis zehn Jahren bestraft. Bei Bestehen von Lebensgefahr könne die Strafe die Strafe auf 20 Jahre erhöht werden. [3] Da aber nicht unbedingt mit einem so tragischen Ausgang habe gerechnet werden können, so glaube er, dass die gesetzlichen Vorschriften gestatten, die Mindeststrafe auf ein Viertel herabzusetzen.
Nach Liechtensteinschem Prozessrecht wird die Strafe vom Gericht festgesetzt, ohne dass der Staatsanwalt bestimmte Anträge formuliert. Der Staatsanwalt schloss sein Plädoyer, in dem er
Milderungsgründe für die Angeklagten anerkannte,
nach denen noch unter die Mindeststrafe von fünf Vierteljahren schweren Kerkers gegangen werden könne und auch die Wahl einer milderen Strafe zulässig sei.
Der Verteidiger [Ludwig Marxer] der Frau Julie Wolf [Wolff] forderte dann für diese als Ersatz von Arztkosten usw. 80 Schweizer Franken und als Entschädigung für bleibende Verunstaltung 6000 Schweizer Franken. Fritz Schaie verlangte für Auslagen usw. 1482 Schweizer Franken, ferner ein Schmerzensgeld und Entschädigung für bleibenden Nachteil (der linke Arm bleibt verkürzt) 3000 Schweizer Franken. Luci [Luzie] Schaie forderte 2434 Schweizer Franken für Barauslagen.
Zu Beginn der Nachmittagsverhandlung im Rotter-Prozess bergündete Rechtsanwalt [Wladimir] Rosenbaum[-Ducommun], Zürich, die Schadenersatzansprüche von Fritz und Julius Schaie-Rotter. Er beschränkte sich dabei nach der Zurechtweisung vom Vormittag auf eine rein rechtliche und zahlenmässige Begründung. Das Wort erhielten dann die Verteidiger der vier Angeklagten, Rechtsanwalt Oktabetz [Joseph Georg Oktabeetz] in Feldkirch,
der Verteidiger Rheinbergers, wies zunächst die Zivilansprüche als unberechtigt zurück und sprach sein Bedauern darüber aus, dass die Tat der Angeklagten missglückt sei. Es habe sich dabei um einen Akt von berechtigter Selbsthilfe gehandelt.
Rheinberger müsste freigesprochen werden. Das gleiche forderte auch Rechtsanwalt Schwender [Johann Jakob Schwendener] in Buchs für Rudolf Schädler.
Vaduz, 9. Juni. Das Vaduzer Kriminalbericht fällte am Donnerstag abend um 11 Uhr folgendes Urteil:
„Der Hotelier Rudolph Schaedler, Vaduz, wird zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, Peter Rheinbergerzu neun Monaten Gefängnis, Eugen Frommelt zu fünf Monaten Gefängnis und Franz Roeckle zu vier Monaten Gefängnis. Die Untersuchungshaft wird angerechnet."
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[1] General-Anzeiger für Dortmund, 9.6.1933. Ein Zeitungsausschnitt unter LI LA SgZs 1933. Vgl. das Urteil des Landgerichts als Kriminalgericht vom 8.6.1933 (LI LA J 007/S 066/043 (a)).
[2] Die Angeklagten hatten am 5.4.1933 in Gaflei versucht, sich Alfred Schaie, Fritz Schaie, Gertrud Schaie und Luzie Wolff zu bemächtigen, um sie den deutschen Strafbehörden zu überliefern. Auf der Flucht kamen Alfred Schaie und Getrud Schaie in der Erblerüfe zu Tode.
[3] Siehe Art. 90 und 91 des Österreichisches Strafgesetzes vom 27.5.1852 über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, eingeführt im Fürstentum Liechtenstein mit Fürstlicher Verordnung vom 7.11.1859.