Brief Josef G: Rheinberger an seine Eltern
München, den 24.9.53
Theuerste Eltern!
Durch Ihre Güte wieder in den Stand gesetzt, mein Studium fortsetzen zu können, ist es meine erste Pflicht, Sie von meiner Ankunft dahier in Kenntnis zu setzen. Nachdem ich in Lindau von Ihnen Abschied genommen, besichtigte ich alles (wenige) Merkwürdige der Stadt, besonders aber den Eisenbahndamm. Hernach dachte ich immer nur daran, wie Sie jetzt wieder nach Hause gefahren seien und begleitete Sie in Gedanken nach der lieben Heimath, wo Sie hoffentlich bald recht wohl angekommen sein werden.
Abends 7 Uhr fuhr ich (nachdem ich mich schon etwas gelangweilt) per Post nach Kempten, wo ich um halb 5 Uhr früh anlangte. (Denn die Post nach Stauffen fährt erst 12 Nachts von Lindau und der erste Zug von dort fährt erst 7 1/2 Uhr nach München). Halb 11 Uhr Mittags kam ich nach München, aber mit hungrigem Magen, denn ich konnte erst 12 Uhr mittags frühstücken. Von Seiten der Perstenfeld'schen fand ich die freundlichste Aufnahme, ja die Frau sagte, ich sei so gross geworden, dass sie mich kaum gekannt! -
Hr. Perstenfeld hat nun im Sinn, ein Clavier zu kaufen. Der kleine Albert wird nun nicht mehr lange hier bleiben, sondern wird am 18. Oktbr. d. J. in das Institut nach Scheyern kommen. -
Gestern Abends wollte ich noch zu Hr. Professor Schafhäutl gehen, traf ihn aber nicht zu Hause; desshalb ging ich heute früh hin und fand ihn gerade im Begriffe abzureisen; er war so freundlich wie immer und sagte, er habe von Tag zu Tag abreisen wollen, sei aber wegen der 'Industriellen Geschichte' immer aufgehalten worden. Heute reise er nun doch ins Gebirg und werde bis in 12 - 16 Tagen einen Abstecher nach Vaduz machen, um Sie Theuerste Eltern! kennen zu lernen. -
Gleich darauf traf ich auf dem Wege Hr. Salis-Soglio. Ich richtete ihm alles aus, was Sie mir aufgetragen; und er sagte, er lasse alle, besonders aber Hr. Bruder Lieutenant grüssen, und fragte, ob recht exerzirt werde, er kenne den General Hess [1] recht wohl u. glaube, er könnte stündlich in Vaduz eintreffen. Ich sagte ihm auch, dass der Bruder Lieutnant ihn im Saale des hiesigen Kunstvereins gesprochen - worauf Hr. Salis sagte, es sei ihm schon früher einmal eingefallen.-
Hierauf ging ich zu den Hr. Prof. Herzog und Leonhart (den Prof. Maier traf ich im Conservatorium) und präsentirte mich ihnen fürs nächste Jahr. Letzterem musste ich meine Messe auf ein paar Tage zum Durchsehen geben. Soviel ich hörte, seien noch nie so viele Schüler eingetroffen wie dieses Jahr. Hr. Direktor habe ich noch nicht gesehen. Sein Sohn wird nun bald austreten, ob freiwillig oder nicht, weiss ich nicht. -
Montags früh gehen meine Stunden an und ich hoffe zu Gott, dass er sie auch dieses Jahr segnen werde, dass diese Zeit zu meinem Nutzen und zu Ihrer Freude angewendet werde.
Dem Toni werde ich bis in 14 Tagen schreiben und ihm das Gewünschte schicken; er soll diese Zeit über mich nicht böse werden und geduldig warten.
Dem Peter muss ich noch sagen, dass meine Bekannten hier sagen, dass ich besser aussehe, als wie ich fortgegangen sei, dass mir also das Obst doch nicht so schlecht angeschlagen habe, wie er so brüderlich besorgte und dass 2tens der General Hess nicht so böse u. streng u. genau sei, wie er so soldatisch besorgte und dass 3tens - Doch er wird jetzt schon sagen:
'Das sieht halt dem Pepi gleich, ein Witz schlechter als der andere'.
Sie, Theuerste Eltern! werden sehen, dass ich dieses Jahr fleissig und brav sein werde und dass Ihre Ermahnungen nicht auf unfruchtbaren Grund gefallen sind. Indem ich nochmals alle Lieben zu Hause herzlich grüsse,
verbleibe ich
Ihr dankschuldigster Sohn
Joseph Rheinberger.
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[1] General Hess = Die beiden Fürstentümer Hohenzollern und Liechtenstein formierten zusammen ein Bataillon, um ihrer Bundespflicht nachzukommen. Liechtenstein stellte dazu einen Scharfschützenzug. Der offizielle Titel lautete: "Hohenzollern-Liechtenstein' sches leichtes Bataillon." Die Inspektion der Truppenteile erfolgte durch hohe Offiziere des Deutschen Bundes.