Carl von Vogelsang verteidigt seine politischen Überzeugungen


Schreiben von Carl von Vogelsang an seinen Onkel Justin von Vogelsang (Kopie, mit handschriftlichen Anstreichungen) [1]

26.11.1935, Vaduz

Lieber Onkel Justin!

Herzlichen Dank für Deinen Brief v. 21. ds. Mts.! [2] Wie Du siehst, antworte ich sofort. Wir hatten in der letzten Zeit sehr viel Arbeit mit einer Reise nach Stuttgart, die ich vorbereiten musste. Die Woche vorher kam ich fast keinen Tag vor 2 - 3 Uhr zu Bett, am Reisetag selbst, wo ich um 5 Uhr aufstehen musste, schlief ich nur 1 Stunde. Nun geht es wieder einen normaleren Gang und ich bin sehr froh. Auch sonst ist Aussicht, dass sich meine Position wieder sehr verbessert, was ich gegen Ende des Briefes beschreiben werde, wenn ich Dein Schreiben in den Hauptzügen beantwortet haben werde.

Ich finde, dass es auf die Dauer nicht möglich sein wird, dass wir uns über politische Probleme unterhalten. Es ist nämlich durchaus möglich, für beide Standpunkte wieder immer neue Argumente und Gegenargumente ins Feld zu führen und wir kämen so ins Endlose. Du darfst überzeugt sein, dass der innere Konflikt für mich nicht leicht ist, zwischen meiner Jugendtradition in Österreich und meinen geschichtlichen Kenntnissen darüber, die ich im Laufe der Jahre ja sehr vervollkommnen konnte einerseits und meinen Gefühlen für Deutschland andererseits. Aber es ist ein Konflikt, an dem alle mehr oder weniger leiden, die auf dem Scheitelpunkt beider Staaten und Anschauungen leben und im Brennpunkt der politischen Geschehnissen stehen. Ich bin froh, dass ich nicht Österreicher bin, sondern rein deutschblütig, sonst wäre der Konflikt viel grösser. Ich habe persönlich grosse Achtung vor den anständigen Menschen im Hause Habsburg, wozu ich unbedingt auch Kaiser Karl rechne. Etwas anderes aber ist es, ob man jemand oder eine Familie, die man achtet, deswegen auch als Herrscher über ein Volk wünschen kann. Als Österreich noch die geschichtliche Mission hatte, Schirmherr vieler Nationen zu sein und deutsche Kultur in sie hineinzutragen, war Österreichs Selbstständigkeit unbedingt selbstverständlich. Heute aber, wo die kleinste Volksgruppe wieder dahinstrebt, zu einer Vereinigung mit ihrem Muttervolk zu kommen, sollte es doch auch möglich sein, dass alle Deutschen wieder zusammenkommen in ein Vaterhaus. Der Fehler war wohl, dass man immer von einem "Anschluss" redete, nicht von einem "Zusammenschluss". Blut kennt doch keine Grenzen, Grenzen sind nur von Menschen gemacht, gleiche Art versteht sich am besten und gehört zusammen. Und warum soll heute ein Zustand verabscheuungswürdig sein, der früher ebenso selbstverständlich war? - Ich will Dir ohne weiteres zugeben, dass auch in Deutschland heute viel geschieht und noch mehr geschah, was nicht sein sollte. Aber ich darf dann wohl auch erwarten, dass man mit derselben Ehrlichkeit zugesteht, dass auch Österreich weit von einem Paradies auf Erden entfernt ist. Überall wo Menschen sind, geht es menschlich zu, besonders auch in der ecclesia catholica! Und je mehr Menschen in einem Staat sind, desto menschlicher geht es eben zu. Aber ist es nicht direkt hahnebüchern, wenn die Österr. Regierung einen ihrer prominentesten Regierungsvertreter von der "historischen Freundschaft" zwischen Italien und Österreich reden lässt?! Wenn die Preussen etwas erklären, redet man von preussischer Geschichtsfälschung. Aber diese Leute bringen es fertig, schon 20 Jahre nach dem grössten Verrat, den die Geschichte kennt, von einer "historischen Freundschaft" zu reden, nur weil man dem Geld in des "Freundes" Tasche schön tun will! - Es verletzt jeden rechten Christen auch schwerst, wie man in Österreich mit der Religion Schindluder treibt. Wenn Du willst, sende ich Dir Zigarren mit einer Binde wo der Papst darauf ist, wie sie in Feldkirch vertrieben werden! Geschmackloser kann man es nicht mehr machen. - Oder nehmen wir den Unterschied, den wir im abessinisch-italienischen Konflikt feststellen können. Der österr. Sender und die Presse berichten, als wenn die Berichte von Rom kämen. Nur italienfreundlich. Nie ein Sieg der Abessiner oder irgendwie etwas Freundliches. Das Volk steht mit seiner Sympathie aber auf Seite der Gerechtigkeit. Die österr. Regierung ist eine Gesellschaft von Schiffbrüchigen, die sich im Privatleben hassen, jetzt aber einig an die gleiche Planke klammern. - Wer die Berechtigung des Gedankens fühlt, das alles was Deutsch ist, zusammen gehört, kann nicht mehr sagen: "Was will [Adolf] Hitler in Österreich?" Aber Hitler trachtet nach Kräften, das es im Deutschen Reich besser wird. Er hat den Drachen Arbeitslosigkeit fast ganz niedergerungen, die Jugend wieder höheren Idealen zugeführt, dem Reich wieder Wehrhoheit und Ansehen in der Welt verschafft, die Winterhilfe geschaffen (die ihm Österreich nebst so Vielem heute nachäfft), dem Arbeiterstand wieder Ansehen verschafft, das Gericht behandelt alle gleich usw. usw. - Wie gesagt, da und dort geschieht auch manches, was nicht sein sollte, aber wo es entdeckt wird, wird unerbittlich Abhilfe geschaffen. Manch hoher Parteifunktionär spaziert heute hinter dem Drahtverhau, weil er eine Selbstherrschaft aufrichten wollte. Hitlers Person wird heute selbst von den Gegnern des Regims anerkannt. Sonst wäre er in einem Land, wo es Millionen Kommunisten gab, gewiss nicht mehr am Leben. So gut kann man keinen Menschen schützen, dass er vor so viel Feinden bestehen könnte. Natürlich kann man nicht jeden kleinen Schreier meckern lassen und darum müssen für die Übergangszeit auch strengere Bestimmungen sein. Es wäre ja noch schöner, wenn die, die das Reich zugrunde gehen liessen, ja noch mithalfen, heute gegenüber jenen, die ihm wieder auf die Beine halfen, das grosse Wort führen dürften! Und die Sache mit der Kirchenverfolgung ist auch nicht so, wie man es darstellt. Kein Gottesdienst wird gestört, keine wirklich religiöse Handlung beleidigt. Wo Fälle vorkommen, die so aussehen, bringt die Hetzpropaganda nur eine Seite. Wenn man etwa in einer Behörde, die früher von Zentrumsbeamten besetzt war, die man toleranter Weise nicht entfernt hat, nachdem das Aufhängen der Bilder der Führers angeordnet worden ist, ein Kruzifix hinhängt, dann ist das eine gemeine Verhunzung des Religiösen zur politischen Gegenpropaganda und nichts weiteres. Wenn Nonnen und Mönche unter ihren Kutten die deutsche Wirtschaft aufs schwerste schädigen und Geld über die Grenze schaffen, dann ist deren Bestrafung ganz gewiss kein Angriff auf die Religion, sondern eine ganz gerechte und selbstverständliche Massnahme. Möchtest Du doch bedenken, dass Ihr nur verzerrte Berichte über Deutschland bekommt. - Ein anständiger Mensch oder Staat wird auch in der Not nur mit anständigen Leuten Bundesgenossenschaft machen. Ich würde mich nie mit Spitzbuben verbrüdern, besonders nicht mit ihnen gegen mein eigenes Fleisch und Blut. -

Es ist eine Schmach und Schande, dass man sich mit Italien so schamlos verbündete. Der Andreas Hofer könnte sich im Grab umdrehen, wenn er dies wüsste. Die ausländischen Journalisten berichten, dass gerade die Südtiroler immer bei den italienischen Angriffen vorne an sein müssen. – Es gibt Potemkinsche Dörfer und Staffagen. So ist es mit den Demonstrationen für die österr. Regierung. Wenigstens hier in Vorarlberg wurden von weit her die Schulkinder zusammengezogen, als der Herr [Kurt] Schuschnigg kam, Erwachsene kamen kaum welche zusammen, so wurden die Kinder zum Heilrufen angerichtet. So ist es auch anderswo. Zu einer richtigen Volksabstimmung, die die beste Rehabitulierung für die Regierung wäre, lässt man es aber nie kommen. - In ganz Vorarlberg und Tirol ist die grösste Klage wegen der fehlenden Fremden. In Schruns im Montafon sagte man mir, früher seien dort 400 Fremde gewesen, diesen Sommer 60. Man macht von der österr. Propaganda aus das grösste Geschrei wegen jedem Franzosen, der nach Österreich kommt, aber wie es wirklich steht, sagt man nicht!

Aber, lieber Onkel, hören wir auf davon! Es wäre zu schade, wenn wir uns deswegen auseinanderleben würden. Du kannst von mir nicht verlangen, dass ich etwas anerkennen soll, was ich mit dem besten Willen anders sehe, und Du lebst in einer Welt, die ich respektieren muss, wie ich auch vor Deinem Leben und Alter nur in höchster Achtung stehen kann. Die Hauptsache ist, dass wir uns im Letzten Gott verantwortlich und in Ihm verbunden fühlen. Menschen können irren, Gott allein sieht das Herz. -

Ich danke für die Auskünfte wegen Ernst K. Ich habe mir schon gedacht dass es ähnlich ist. -

Wegen des "feineren Tons" in der Zeitung hast Du im Prinzip recht. Nur ist es schwer, weil der derbere alpenländische Leser eine andere, plastischere Sprache fordert. -

Was Du mir wegen des Prinzen Johannes schriebst, war sehr, sehr interessant für mich. Ich bitte Dich, aus dem Folgenden meine Stellung zu entnehmen und ihm dies gelegentlich in geeigneter Form zu vermitteln. Was in Klammer geschrieben ist, ist nur für Dich bestimmt.

  1. Der Fürst [Franz I.] kann nicht aufgebracht sein gegen mich, weil ich mir nie etwas gegen die Dynastie zuschulden kommen liess. Im Gegenteil. Ehe ich hinter die Kulissen sah, war ich direkt begeistert, dass es sowas noch gibt. (Aber der Fürst ist aufgehetzt von seiner "Gemahlin" [Elsa], die mich wegen meiner antijüdischen Einstellung direkt hasst. Die Fürstin regiert und er ist ihr willenloses Werkzeug. Es ist eine Unmöglichkeit, eine Person, die 30 Jahre Maitresse war, zur Fürstin zu erheben, gegen den ausdrücklichen Willen seines erhabenen Vorgängers. Über die "Fürstin" spottet man sogar allenthalben im Regierungslager! Mein "den Nazis zuneigen" besteht eben in meinem und meiner Bewegung Antisemitismus. Dieser aber ist älter als der Nationalsozialismus und hat auch in der Tradition des Fürstenhauses seinen Wiederspiegel.) [3]
  2. Ich lebte über 10 Jahre in Deutschland und kenne dort ca. 5000 Menschen. Meinen geistigen Besitz und vieles andere verdanke ich Deutschland. Man hat mich stets äusserst anständig dort behandelt. Wer kann sich das Recht nehmen, gelegentliche Wochenendfahrten und einige grössere Ferienreisen dorthin zu verurteilen? Fahren doch auch liechtensteinische Prinzen nach Deutschland. Solange es nicht verboten ist, dorthin zu fahren, werde ich mir dieses Vergnügen erlauben. Ich interessiere mich auch nicht, wohin andere Leute mit mehr Geld als ich reisen. Zudem habe ich auch ausser den 5000 Bekannten noch Verwandte dort. Ferner habe ich, wo ich konnte, in Deutschland gewirkt, dass Liechtensteins Ansehen wuchs. Durch den Reisedienst, den ich leite, kamen in der vergangen Saison über 10'000 Fremde und über 100'000 Fr. ins Land.
  3. Ich laufe keinem "Ismus" nach und habe meine eigene Meinung und meinen eigenen Verstand. Der LHD hat so und so oft erklärt, eine rein liechtensteinische Bewegung zu sein. Wir nennen uns nicht NSDAP. Man soll mir und der Bewegung also gefälligst nichts unbewiesenes anhängen.
  4. Ich habe, genau wie jeder andere Liechtensteiner, das Recht, meine eigene Politik zu vertreten, solange sich diese im Rahmen von Sitte und Anstand bewegt und nicht die vernünftigen Grenzen übersteigt. Wenn ich beweisen kann, dass ein System am Ruder ist, das den Ruin des Landes herbeiführt, habe ich das Recht, dagegen zu kämpfen. -
  5. Ich lasse mir von niemand, auch von Dir nicht, lieber Onkel, sagen, ich brächte die Familie in ein schiefes Licht! Das ist ein Punkt, wo ich sehr empfindlich bin, weil es ans Ehrenrührige grenzt und möchte ich Dich bitten, mit solchen Ausdrücken etwas gewählter umzugehen. Denn gerade ich hänge mit aller Innigkeit am blanken Namensschild der Familie. Meine politischen Anschauungen aber waren immer nur sauber und sind mein ureigenstes Recht!
  6. Wir haben nie die Abdankung des Fürsten verlangt und den Kronprinzen [Franz Josef] als Gegenkandidaten aufgestellt! Wer das behauptet, ist einer infamen lügnerischen Behauptung zum Opfer gefallen oder lügt selber infam. Wir haben lediglich, gerade aus einer besonderen Einstellung zum Fürstenhaus, verlangt, dass der Thronfolger komme und seine Autorität zur Befriedung des Landes einsetze! [4]

Wie ich zum Prinzen Emanuel stehe? [5] Das ist ein guter Junge, aber ein Waschlappen. Er ist Wachs in den Händen der Parteistrategen. Ich habe ihm anlässlich seines letzten Hierseins gesagt, dass es nie dagewesen sei, dass ein Fürst Liechtenstein an einen Charakterlumpen, der für Geld seine Gesinnung beliebig wechselt, Briefe gegen einen Adligen schreibt. Ich hätte den Adel nie erwähnt und ihn nur als eine besondere Verpflichtung dem Volk gegenüber angesehen. Aber jetzt sei der Zeitpunkt, wo davon gesprochen werden müsse. Überall sei der Adel die Stütze der Dynastie, hier aber sucht man gerade mich zu vernichten vom Fürstenhaus aus und ich wüsste auch, wer dahinter stecke. Wenn man weiter so vorgehe und ausser mir die besten jungen Leute so behandle, dann leiste man dem republikanischen Gedanken den besten Vorschub. Gerade der LHD habe mit aller Kraft und nachweislich bestem Erfolg die sozialistisch-kommunistischen Einflüssen bekämpft, die unsere jungen Leute von Zürich und anderen Städten mitbrachten, aber wir würden keinen Finger mehr rühren.

Der Prinz stand da wie ein Schuljunge und wusste nichts anderes zu sagen als: "Wir sind alle in der Lage wie Franz Josef von Österreich dem alten Kaiser [Ferdinand I.] gegenüber; wir können nur warten, bis der alte Herr stirbt, dann kommt alles anders." - Nun kannst du dir ein Bild machen, wie ich mit dem Prinzen stehe. Dessungeachtet schrieb er mir noch vor 2 Wochen (nach dieser Unterredung) "Lieber Pfadfinderbruder" und er rede mich bewusst so an.

Die Prinzen werden derart hier auf den Leim geführt von der Regierungspartei, [6] dass sie kohlschwarz wären, wenn dies sichtbar wäre!

Nun etwas über die jetzige Lage. Z. Zt. laufen Friedensverhandlungen. Man hat uns nun von 15 Mandaten 7 und von 4 Regierungsräten 2 geben müssen. Die Regierung hat unsere Leitung zu Unterhandlungen eingeladen, die dieses Ergebnis hatten. In allen Behörden muss nun proportionale Verteilung kommen. Die Volkspartei hat beschlossen, sich aufzulösen und dem LHD einzugliedern unter der Führung von Dr. [Otto] Schädler. Es wird auch die Volksparteizeitung aufgehoben und nur mehr unsere Zeitung neben der Bürgerparteizeitung erscheinen und ich Redakteur der neuen Zeitung werden. Dies bedingt auch eine finanzielle Verbesserung für mich. Alles Unrecht, was mir persönlich zugefügt wurde, soll wieder gut gemacht werden.

Du siehst, das die Arbeit gut war und einem guten Ende zugeht. - Im Übrigen will ich zu Deiner Beruhigung auch sagen, dass wir auch Deutschland gegenüber in unserer Kleinheit keine andere als eine freundschaftliche Stellung einnehmen können. Wir sind ja auch ganz auf den Fremdenverkehr angewiesen. Darum musst du aber nicht gleich darauf schliessen, ich sei eingeschriebener Nationalsozialist. -

Mit den Kleidern werde ich es bei nächster Gelegenheit machen, wie Du schreibst und rätst. -

Illustrierte Blätter folgen noch.

Ich habe mir von dem Verdienst der Reisedienstfahrt für Mk 135 einen wunderschönen Anzug in Stuttgart gekauft. Frau Dr. [Anna] Schädler war so freundlich und ging mit mir in das Geschäft. - Stuttgart ist eine wunderschöne Stadt und man hat uns sehr herzlich aufgenommen. Wir haben sehr viel gesehen. Auch ein grosses Arbeitslager, das einen fabelhaften Eindruck machte. Auch den neuen Zeppelin, der bald fertig ist. Vielleicht hast du den Bericht in der Zeitung gelesen. Von Lebensmittelknappheit spürte man nicht das Geringste. Man bekam überall reichlich und gut und sehr billig zu essen, was man nur wollte. Man sieht viel Militär, es macht einen hervorragenden Eindruck.

Hier kommt nun eine neue Zeitung heraus "Der Südtiroler", die die Zustände in Südtirol schildert. [7]

Gestern war ich auf einem Ball bis 4 Uhr früh. Das kommt sonst nicht oft bei mir vor, aber seit ich so in der Politik stecke und alle Leute nur mit mir politisieren, kaum eine geistige Anregung vorhanden ist, kommt mir öfter das Bedürfnis, mich zu zerstreuen. Durch Dr. Schädler habe ich einen netten Bekanntenkreis, auch durch die Pfadfinder, sodass man doch da und dort warm werden kann. - Die Mittagsstunden bei Dr. Schädler sind sehr schön. Dr. Schädler ist sehr fröhlich und lacht sehr gern, obwohl er ungemein viel zu tun hat, meist erst 2 oder 3 Uhr nachmittags zum Essen kommt und Abends bis 12 Uhr und später im ganzen Land herumfahren muss, oft die ganze Nacht am Operationstisch oder dem Krankenbett ist. In dieser Familie (er hat 14 Geschwister) herrscht ein so innig-geschwisterliches Verhältnis, wie man es kaum sonst je im Leben trifft. Ich esse meist mit Herrn u. Frau Dr. Schädler und dem kleinen 7-jährigen Töchterchen, manchmal auch mit Dr. [Alois] Vogt. Auch mit den Dienstboten ist die Familie Schädler nur herzlich im Umgang. Er tut ungemein viel Gutes und "vergisst" so viele Rechnungen bei armen Leuten. Wenn er im Alltag auch immer wieder einen Grund zu hellem Lachen findet, so unerbittlich ist er im politischen Kampf. Er fürchtet sich nirgends und vor Niemand, ist messerscharf in der Logik und spricht markant und hinreissend. Ich bin in der Familie wie zuhause. - Dr. Schädler ist ein warmer Freund Deutschlands (die Familien wanderte vor 5 Generationen hier aus Württemberg ein), aber auch ein überzeugter Katholik und er billigt auch nicht, wo wirklich etwas nicht recht ist. - Er fährt jeden Sonntagmorgen mit der Familie zur Messe, wenn er nicht gerade die ganze Nacht beruflich beschäftigt war.

Wenn mir je gesundheitlich etwas fehlt, bin ich in denkbar bester Behandlung. Dies dürfte besonders Tante Sofie beruhigen. Ich brauche eine Behandlung nie zu bezahlen. - Dr. Schädler ist der begehrteste Arzt im Land, von fabelhafter Geschicklichkeit. Es geht ein Fluidum von ihm aus, dass selbst die ängstlichen Kinder ganz ruhig werden, wenn er sie freundlich-lächelnd anredet. Er ist erst 37 Jahre alt. Viele Beamte kommen heimlich wie Nikodemus zu ihm, weil sie nur ihm vertrauen, es aber öffentlich nicht zeigen dürfen, wollen sie nicht um ihr Brot kommen oder erbärmlich schickaniert werden. Als er noch der Bürgerpartei nahestand, kam er sogar in den Staatsgerichtshof und war zum Landesphysikus vorgesehen. Seit er LHD-er ist, musste er heraus und wurde ein unfähiger, regierungshöriger Arzt Landesphysikus. [8]

Ich sende Dir anbei ein Bild, worüber Du Dich bitte nicht erbosen sollst. Neben mir (im weissen Anzug) ist Rudolf Schädler, der Hotelier von Gaflei, der wegen der Rotterjudenentführung im Gefängnis war.

Nun muss ich schliessen, denn nach der gestrigen Übernächtigung bin ich rechtschaffen müde und es ist schon 11 Uhr abends.

Bitte nimm diesen Brief nie nach Österreich mit! Auch was ich sonst über politische Dinge schreibe. -

Dir lieber Onkel und Tante Sofie recht viele und herzliche Grüsse und besten Dank für die freundlichen Namenstagswünsche!

Möge uns Gott allen Seine Gnade schenken!

Dein treuergebener Neffe

 

 

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[1] LI LA RF 169/170/005/001. Das Schreiben gehört zu den Dokumenten, die am 23.1.1937 von der Polizei in Vogelsangs Büro und Wohnung beschlagnahmt wurden.
[2] Nicht aufgefunden.
[3] Zum Verhältnis Vogelsangs zum Fürstenhaus vgl.: Carl von Vogelsang: Sturm im Wasserglas? Erlebnisse in einem deutschen Fürstentum. 1. August 1931 - 24. Januar 1937, Manuskript 1937 (LI LA PA Hs 34), bes. S. 90-113.
[4] Der Heimatdienst hatte wiederholt eine aktivere Rolle von Franz Josef gefordert, so an der Demonstration vom 9. Dez. 1934 (LI LA RF 149/139/012, LI LA RF 149/139/019). Auch die "Nationale Arbeitsgemeinschaft" hatte versucht, den Thronfolger als Verbündeten zu gewinnen (LI LA RF 156/034).
[5] Eine ausführliche Darstellung seines Verhältnisses zu Prinz Emanuel gibt Vogelsang in seinen Erinnerungen, vgl. Vogelsang, Sturm (wie Anm. 3), S. 502-513.
[6] Die Fortschrittliche Bürgerpartei
[7] Seit dem 11.11.1935 druckte Ulrich Göppel in Vaduz die Zeitung "Südtiroler Heimat", ein Nachfolgeblatt der Zeitung "Der Südtiroler", die im Mai 1935 von der österreichischen Regierung verboten worden war. Nach einer Intervention Italiens untersagte die liechtensteinische Regierung den Druck der "Südtiroler Heimat" mit Schreiben vom 14.12.1935 (LI LA RF 154/214, RF 157/058).   
[8] Landesphysikus war seit 1934 Martin Risch.