In den "Liechtensteiner Nachrichten" wird die Regierungsbewilligung für das betäubungslose Schächten verurteilt


Artikel in den "Liechtensteiner Nachrichten", ungez. [1]

14.3.1929

Ein offener Brief an Liechtenstein

Wenn Naturvölker, fern von Zivilisation und Erkenntnis von Gutem und Bösem, nur ihren angeborenen Trieben lebend, roh und gewalttätig gegen Geschöpfe vorgehen, so ist dies verständlich. Unbegreiflich aber, dass in christlichen Ländern mit hoher Kultur sich die scheusslichsten Tierquälereien noch abspielen können. Zu diesen gehört das betäubungslose Schächten! Tieftraurig, dass in einem so schönen Lande, das wir Fremde so gerne besuchen, das liebe Liechtenstein, das Schächten erlaubt worden ist.

Es wird die Entgegnung gemacht, es handle sich um alten, religiösen Gebrauch und müsste erhalten bleiben. Sehr richtig, wenn es wirklich religiöse Handlungen oder Symbole sind, getragen von Hoheit und Würde, dienend zur Erbauung der Gläubigen in der Synagoge, aber kein grausames Hinmorden im Schlachthaus. Wie viele Christen waren schon in der Synagoge und sind in Ehren und Hochachtung den religiösen Handlungen und Gebräuchen gefolgt. Kann das vom Schächten gesagt werden?

Wer einmal, ohne vorherige Anmeldung, das Schächten gesehen, der verhüllt vor Scham als Mensch sein Angesicht; diese Rohheit, Brutalität, die unsäglichen Leiden des armen Opfers! Man hat nämlich die Ansicht, beim Schächten presse sich durch die Todesqual des Tieres das Blut mehr aus dem Fleisch, das dadurch schmackhafter werde und gesünder. In Wirklichkeit bleibt aber im geschächteten Tier ebensoviel Blut, etwa ein Drittel, zurück als im betäubten. Das Verbot des Genusses von Schweinefleisch wurde gleichfalls den Juden aus sanitären Gründen gegeben, in alter Zeit gab’s noch keine Fleischbeschau. Als die Juden das Schächten einführten, war die Gesetzgebung eine andere wie auch die Kulturbegriffe. Viele Arten von Gebräuchen wurden der Religion angegliedert, was schon daraus hervorgeht, dass zu gleicher Zeit übliche Gebräuche, die damals ebenfalls streng eingehalten wurden, heute längst abgelegt und nur mehr symbolweise angedeutet werden.

Um nur einen davon zu nennen: Das Zerreisen der Kleider zum Zeichen von Trauer; heute genügt ein kleiner Riss!

Es soll allerdings dabei bemerkt werden, dass die jüngere Generation der Juden und solche, die im Leben stehen, sich den neuen Verhältnissen auch schon angepasst und alle Fleischsorten mit uns am Tische essen, in Kurorten, auf der Reise, in Restaurants, bei Tafeln und auch zu Hause. Voraussetzend dass, was wir essen können, auch ihnen keinen Schaden bringen kann. Es dürfte aber niemanden gestattet sein, sie deshalb als Abtrünnige oder schlechte Gläubige zu bezeichnen. Vor Jahren schon hat man sich im Nachbarland des Liechtenstein, der Schweiz, wo gewiss volle Religions- und Gewissensfreiheit herrscht, durch wahrheitsgetreue Berichte und Augenscheinnahme überzeugt von der Rohheit, Brutalität und Grausamkeit der betäubungslosen Schlachtart und durch Volksabstimmung ein Schächtverbot herbeigeführt.

Und Liechtenstein führt es ein!

Armes Liechtenstein, wie tief wirst du erniedrigt!

Fremde (keine Antisemiten), die das Land lieben und eifrig besuchen!

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[1] L.Na., Nr. 32, 14.3.1929, S. 1. Siehe hiezu auch die öffentlichen Landtagsprotokolle vom 22.4. (LI LA LTP 1929/031), 16.5. (LI LA LTP 1929/093) und 25.6.1929 (LI LA LTP 1929/115) betreffend eine Gesetzesinitiative auf Einführung eines Schächtverbotes in Liechtenstein.