Das "Liechtensteiner Volksblatt" berichtet über das Konzentrationslager Buchenwald


Bericht der Schweizerischen Depeschenagentur, abgedruckt im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]

5.5.1945

Das Grauen in Buchenwald

Bericht des Korrespondenten der Schweizer. Depeschenagentur

Der Londoner Vertreter der Schweizer. Depeschenagentur hatte zusammen mit andern schweizerischen und schwedischen Korrespondenten die Gelegenheit, das Konzentrationslager Buchenwald [2] bei Weimar zu besichtigen, zu freier Unterhaltung mit den Insassen und zur unkontrollierten Unterhaltung mit der Zivilbevölkerung.

Das Konzentrationslager

besteht aus 65 Baracken für die rund 60'000 Häftlinge, den Verwaltungsgebäuden mit der Wohnung des Lagerkommandanten, medizinischen Versuchsanstalten, einem Krematorium mit 12 Öfen, einem Hinrichtungsplatz sowie verschiedenen kleineren Gebäuden. Man muss sich ein Areal von der Grösse einer Stadt wie etwa St. Gallen vorstellen, um einen Begriff vom Ausmass eines solchen Lagers zu erhalten. Das ganze Areal ist von einem Drahtgitter umzäunt, der mit Starkstrom geladen war. Es sind heute noch rund 21’000 befreite Häftlinge im Lager.

Am Tage der Befreiung wies es rund 47'000 Häftlinge auf. Als die Nationalsozialisten im letzten Augenblick flüchteten, sollen sie noch 5000 Juden durch Genickschuss „umgelegt" haben. Da indessen die Körper dieser 5000 Leichen bis jetzt noch nicht aufgefunden werden konnten, wird man gut daran tun, diese Version mit Vorsicht aufzunehmen. Tatsache ist, dass die Befreiung durch die vorstossenden Armeen des amerikanischen Generals [George S.] Patton so rasch und schlagfertig erfolgte, dass die Nationalsozialisten, Gestapoleute und SS-Scharführer, Rottenführer und Henkersknechte nur noch Hals über Kopf in ihren Automobilen fliehen konnten und sehr viele Dokumente und damit wichtiges Beweismaterial zurücklassen mussten. Tatsache ist auch, und dies ist durch amtliche Aufzeichnungen der SS-Behörden, die gefunden wurden, erwiesen, dass 51'000 Menschen in Buchenwald ihr Leben liessen. Seit der Befreiung haben ihnen die Häftlinge im grossen Hof des Lagers, wo die Auspeitschungen und Erhängungen stattfanden, ein hölzernes Denkmal errichtet, das der Besucher schweigend, ergriffen betrachtet.

Zu „Stosszeiten" enthielt das Lager maximal 80'000 Gefangene; doch war ein täglicher Abgang von rund 300 Personen zu verzeichnen, die infolge Hungers oder unmenschlicher Torturen starben und ihr Ende in den Tag und Nacht betriebenen Verbrennungsöfen fanden. Es sind heute noch einige hundert Kinder dort, die keine Eltern und keine Heimat mehr haben: meist Judenkinder aus Galizien, aus dem Sudetenland, aus Ungarn, deren Eltern in den Vernichtungslagern von Auschwitz und Maidanek vergast und verbrannt wurden.

Beim Betreten des eigentlichen Lagerareals fällt einem sofort ein eigenartig durchdringender Geruch auf, der einen noch stundenlang nachher verfolgt: der Gestank von Leichen und Latrinen, gemischt mit dem Geruch von Lysol, das die Befreier zur Desinfektion verwenden. Bereits hat sich ein Pressebureau gebildet, das sich aus verhafteten antinationalsozialistischen frühern Pressevertretern zusammensetzt. Bereits bieten sich auch Führer durch das Lager an, welche die Besucher in verschiedenen Sprachen unterrichten wollen. Man tut gut daran, sich nicht von diesen Organisationen, die eine Flut von Propanganda verbreiten, einfangen zu lassen, sondern auf eigene Faust auf Entdeckung auszugehen und sich einzelne Leute aus einzelnen Baracken zum Gespräch auszusuchen, um ihnen eine Anzahl Fragen vorzulegen. Aus der Einheitlichkeit der Antworten kann man sich dann selber ein Bild davon machen, wie glaubwürdig die Aussagen sind. Es gibt indessen eine ganze Anzahl von Dingen, bei denen der Augenschein ohne jede weitere Erläuterung genügt, da sie eine deutliche Sprache sprechen: das Krematorium mit halbverbrannten Leichen in den Öfen, die Galgen, die Folterkammer, der Prügelbock sowie die hundert auf einem wohlgeordneten Haufen liegenden völlig ausgemergelten Leichen, deren Oberschenkel die eintätowierte Häftlingsnummer tragen, endlich der Haufen Knochenmehl, der aus menschlichen Knochen angefertigt wurde.

Das Strafsystem

Die geläufigste Strafe im Lager war die Auspeitschung, die vor versammeltem Lagerbestand beim Hauptverlesen im grossen Hof durchgeführt wurde. Es wurde ein Minimum von 25 Schlägen mit einem mit Blei [3] gefüllten Ochsenschwanz auf das entblösste Gesäss gegeben, während das Maximum auf 100 Schläge gesetzt war. Wer während der Auspeitschung, die er festgeschnallt auf dem Bock über sich ergehen lassen musste, ohnmächtig wurde, wurde durch Anschütten von eiskaltem Wasser wieder zu sich gebracht und die Prozedur fand ihre Fortsetzung. Ein SS-Scharführer, namens Sommer, spezialisierte sich darauf, die Schläge nicht von oben, sondern ganz schräg von unten her zu geben, so dass er bei jedem Schlag ein Stück der Gesässbacken herausriss. Das ist nicht etwa eine leere Behauptung, sondern erwiesen.

Die nächste Strafe bestand darin, das Opfer während einer halben Stunde an den Handgelenken aufzuhängen. Wieder eine andere Strafe bestand aus Drill während der Mittagspause anstelle des Essens. Alle diese Strafen sowie andere satanisch ausgeklügelte Peinigungen wurden für kleine Vergehen, wie Zuwenig-Strammstehen und Ähnliches, verhängt. Die Gattin [Ilse Koch] des früheren Lagerkommandanten [Karl Otto] Koch, der gegen Schluss durch den passenden Namen tragenden Kommandanten Biester [Hermann Pister] abgelöst wurde, pflegte sich damit zu vergnügen, hoch zu Pferd durch das Lager zu reiten und diejenigen Häftlinge vor ihren Augen auspeitschen zu lassen, die sie nicht ehrerbietig genug grüssten.

Die Todesstrafe wurde teils durch Erhängen, teils durch Erschiessen, teils durch Ertränken, teils auch dadurch vollzogen, dass man die Opfer mit einer mit Blei gefüllten riesigen Holzkeule so auf den Kopf schlug, dass mit einem einzigen Schlag der ganze Schädel gespalten wurde. Nachher wurden die Leichen zu allen möglichen Experimenten verwendet, teils zu medizinischen Zwecken, teils zur Belustigung der Frau Koch, die sich aus der Haut solcher tätowierter Häftlinge Lampenschirme verfertigen liess. Der Rest wurde verbrannt, nachdem etwa vorhandene Goldzähne oder Goldplomben herausgebrochen worden waren. Die Knochengerippe wurden, bevor sie zu Asche wurden, zu Knochenmehl gemahlen, das als Düngemittel verwendet wurde.

Die Arbeit, die die Häftlinge verrichten mussten, war schwer. Tausende von Häftlingen waren in den dem eigentlichen Lager vorgebauten
„Gustloff-Werken" beschäftigt, in denen Munition und Kriegsmaterial aller Art hergestellt werden.

Die Ernährung der Gefangenen

Dem Beobachter musste sofort auffallen, dass Hunderte von Häftlingen völlig ausgemergelt und grauenhaft unterernährt waren, mit Höhlen anstelle der Wangen, mit Haut über den Knochen ohne Fleisch dazwischen: lebende Schemen, schleichende Schatten ihrer selbst. Leute, die vom Tode bereits gezeichnet waren, während andere Häftlinge gut ernährt aussahen. Die Erklärung liegt darin, dass diejenigen, die für die Nazis einen gewissen „Arbeitwert" hatten, auch dementsprechend ernährt wurden. Man musste sie am Leben erhalten und ihnen zu essen geben.

Die meisten der Verhungerten und Ausgemergelten waren Juden, die aus den eigentlichen Vernichtungslagern Auschwitz und Maidanek [4] kurz vor der Einnahme dieser Gebiete durch die Russen von den Deutschen evakuiert und zu Fuss von motorisierten SS-Mannschaften durch halb Europa nach Buchenwald gepeitscht wurden. Man sah Füsse solcher Leute, die eine einzige Wunde waren, durch welche die Knochen durchblickten. Solche Füsse wurden von den Nazis ohne Vornahme einer Betäubung amputiert, wobei die „Kandidaten" in Schlange stehend, zusehen und darauf warten mussten, bis die Reihe an sie herankam. Der Steinboden in der Baracke im sogenannten Kleinen Lager, wo diese Amputationen vorgenommen wurden, ist noch jetzt so mit Blut getränkt, dass dieser Fleck sich nie wird auswaschen lassen. Das Grauenhafteste an all diesen Verbrechen ist die Systematik, die beinahe wissenschaftlich zu nennende Perfektion und die Kaltblütigkeit des Vorgehens der Nationalsozialisten.

Im Kleinen Lager, wo Ukrainer, Weissrussen und galizische Juden untergebracht waren, kam es vor, dass Häftlinge andere Häftlinge töteten, um am nächsten Tag das Fleisch ihrer Kameraden zu kochen und zu essen, so weit trieb sie die systematische Aushungerung.

Die Disziplin im Lager war eisern. Trotz aller systematischen Terrorisierung gelang es indessen den nationalsozialistischen Kannibalen nicht, die Untergrundbewegung die im Lager bestand, auszurotten. Mechaniker brachten es nach und nach dazu, sich Radioempfangsgeräte herzustellen, mit denen Radio London abgehört wurde. Die Insassen des Lagers waren über die Vorgänge an den Fronten und den Verlauf des Krieges gut unterrichtet.

Der Korrespondent der Depeschenagentur sah mit eigenen Augen die Galgen, die Leichenhaufen, den Prügelbock und den Hängepfahl. Er sah die Kremationsöfen mit halbverbrannten Leichen, er sah Füsse, an denen keine Haut und kein Fleisch mehr zu sehen war, er sah Hunderte von zerlumpten, halbverhungerten Elendsgestalten, denen der Tod aus den Augenhöhlen blickt. Er sah den Knochenhaufen und die Folterkammer, er sah das Kleine Lager, die Laboratorien und Sezierzimmer, er sah auch präparierte Menschenhaut, die Tätowierungen aufwies. Er sah die Küche und das Spital, er sah die Baracken, in denen die Häftlinge wir Sardinen in einer Büchse nebeneinander geschachtelt waren. Er roch den alle Vorstellungen übersteigenden Gestank u. er hörte die Aussagen zahlloser Häftlinge. Er hat alles Geschehene, Gehörte und Gerochene völlig kommentarlos und völlig objektiv, ohne jede Aufmachung geschildert; die vorausgehenden Schilderungen sind in jeder Hinsicht ein wahrheitsgetreuer Bericht.

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Die Geschichte von Buchenwald wird gegenwärtig von einem Redaktionsausschuss ehemaliger Journalisten geschrieben, die in Buchenwald gefangen waren. Sie wird ein Dokument sein, das für Deutschland eine sehr schwere Belastung sein wird. Dabei war Buchenwald, wie alle Häftlinge, die durch mehrere Lager hindurchgingen, betonen, ein Paradies im Vergleich zu Auschwitz, Maidanek, zu Papenburg, Sonnenberg, Dachau, Sachsenhausen, Oranienburg, Liebenburg, Ohrdruff, Ravensburg, Belsen und vielen anderen, deren Namen eine lange Liste des Grauens ausmacht.

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[1] L.Vo., Nr. 52, 05.05.1945, S. 6.
[2] Das Konzentrationslager Buchenwald wurde am 13. April 1945 von der amerikanischen Armee befreit.
[3] Der Satzteil "Minimum vom 25 Schlägen mit einem mit Blei" wurde irrtümlich an anderer Stelle abgedruckt (siehe Scan).
[4] Der in FN 3 genannte Satzteil wurde irrtümlich an dieser Stelle eingeschoben.