Die Schweiz und Liechtenstein treffen eine Vereinbarung zum Umgang mit Flüchtlingen


Note des Eidgenössischen Politischen Departements an die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern[1]

27.4.1945

Das Eidgenössische Politische Departement beehrt sich, der Fürstlich Liechtensteinischen Gesandtschaft im Anschluss an eine schweizerisch/liechtensteinische Konferenz, die am 6. d.M. zur Besprechung von Flüchtlingsfragen in Bern stattfand, [2] mitzuteilen, dass zwischen den schweizerischen und den liechtensteinischen Behörden für die Zeit bis zum Abschluss des gegenwärtigen Krieges und einer Wiederherstellung normaler Friedensverhältnisse nachstehende Vereinbarung erzielt worden ist:

  1. Die in der Schweiz geltenden Bestimmungen und Verfügungen über Aufnahme und Rückweisung von Flüchtlingen, die weder das Schweizer- noch das Liechtensteinerbürgerrecht besitzen, sind auch im Fürstentum Liechtenstein anwendbar.
  2. Die Durchführung dieser Bestimmungen und Verfügungen in Liechtenstein liegt den Organen der schweizerischen Grenzwache ob. Flüchtlinge, die sich, ohne von diesen Organen aufgegriffen werden zu können, auf das Gebiet des Fürstentums begeben, werden liechtensteinischerseits in allen Fällen angehalten und dem nächsten Grenzwachtposten zugeführt oder, wenn sie im Innern des Landes angetroffen werden, dem Polizei-Offizier des Ter.Kdos. Sargans telephonisch gemeldet, der den schweizerischen Entscheid über sofortige Ausschaffung oder vorläufige Aufnahme bekanntgeben wird.
  3. Die Liechtensteinische Regierung setzt die liechtensteinische Hilfspolizei nach Bedarf zur Verstärkung des Grenzschutzes ein. Die Hilfspolizisten arbeiten zu diesem Zweck mit den schweizerischen Grenzwachtorganen zusammen und nach deren Weisungen.
  4. Die Liechtensteinische Regierung ist bereit, zur Sicherung der liechtensteinisch/deutschen Grenze in Abschnitten, in denen mit einem grösseren Flüchtlingsansturm zu rechnen ist, ein solcher aber nur schwer kontrolliert werden kann, geeignete Drahtverhaue zu erstellen.
  5. Die Flüchtlinge, deren sofortige Ausschaffung nicht verfügt wird, werden, tunlichst unter Vermeidung jedes Kontakts mit der liechtensteinischen Bevölkerung, zu Handen des Territorial-Kommandos Sargans nach Buchs geführt und von den schweizerischen Behörden übernommen.
  6. Wird schweizerischerseits nachträglich eine Ausschaffung solcher Flüchtlinge verfügt, so wird die liechtensteinische Polizei die Rückweisung über liechtensteinisches Gebiet durchführen. Auch Flüchtlinge, die in einem andern Grenzabschnitt die Schweizergrenze überschritten haben, können in dieser Weise über liechtensteinisches Gebiet nach Deutschland ausgeschafft werden, sofern die Rückweisung in einem schweizerisch/deutschen Grenzabschnitt nicht möglich oder nicht tunlich erscheint.
  7. Vorbehalten bleibt die Unterbringung von einzelnen Flüchtlingen in Liechtenstein, nachdem sie in der Schweiz die sanitarische und polizeiliche Quarantäne bestanden haben. Den betreffenden Flüchtlingen würde gemäss den für die Unterbringung von Flüchtlingen in der Schweiz geltenden Bestimmungen in Liechtenstein ein Zwangsaufenthalt angewiesen, nachdem die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements sich vorher mit der Liechtensteinischen Regierung in Verbindung gesetzt und diese letztere ihr Einverständnis ausgesprochen haben würde.
  8. Die Liechtensteinische Regierung erklärt sich angesichts der Übernahme der in das Gebiet des Fürstentums übertretenden Flüchtlinge durch die Schweiz grundsätzlich bereit, einen angemessenen Beitrag an die Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen in der Schweiz zu leisten. Die Bestimmung dieses Beitrages bleibt einer späteren Regelung vorbehalten.

Das Politische Departement wäre der Fürstlichen Gesandtschaft dankbar, wenn sie diese Abmachungen ihrerseits namens der Fürstlich Liechtensteinischen Regierung bestätigen wollte, [3] und es benützt gerne auch diesen Anlass zur erneuten Versicherung seiner ausgezeichneten Hochachtung.

Beilage: 2 Durchschläge dieser Note

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[1] LI LA V 143/1788 (a). Aktenzeichen: B.24.Liecht.85-YP. Eingangsstempel der Gesandtschaft: 30.IV., 1.V., No. 389. Ein Durchschlag der Note in LI LA RF 230/043a/063, eine Abschrift in LI LA RF 230/043v/005.
[2] LI LA RF 230/043a/041.
[3] Prinz Heinrich bestätigte dem Eidgenössischen Politischen Departement gegenüber mit Schreiben vom 1.5.1945 die Vereinbarungen im Namen der Regierung (LI LA V 143/1788). Ebenfalls am 1.5. leitete er einen Durchschlag der Note an die Regierung weiter und bat um telefonische und schriftliche Bestätigung der Vereinbarungen (LI LA RF 230/043a/062; LI LA V 143/1788). Die schriftliche Bestätigung der Regierung erfolgte dann am 2.5.1945 (LI LA RF 230/043a/064; LI LA V 143/1788).