Leitartikel von Oberst Sennhauser in der "Tat. Wochenpost des Landesrings der Unabhängigen" [1]
12.3.1938
In ernster Stunde
Es geht um unseren Frieden, unsere Sicherheit, unsere Existenz
[...]
Bessere militärische Grenzen
Unsere unbequeme Lage liesse sich ohne Kosten für uns etwas verbessern - ohne dass aber dieses Mittel die vorhin erwähnten überflüssig machen würde - durch die Neutralisierung gewisser in unser Gebiet einspringender Zipfel der Nachbarländer und durch Einräumung des Rechtes an uns, diese Ecken im Notfalle militärisch zu besetzen.
Es dürfte jedermann einleuchten, dass unsere so stark gebuchtete Grenze unsere Landesverteidigung und speziell auch die Vorkehren gegen Überfall erschwert und kompliziert. Da und dort fehlt das Vorfeld vor den, durch die Natur gegebenen Hauptstellungen, anderswo die Tiefe des Raumes zwischen Grenze und lebenswichtigen Zentren oder Verbindungen, überall erfordert zu stark entwickelter Grenzverlauf übermässig viel Truppen. (Unsere totale Grenzlänge beträgt 1884 km, während der gleiche Flächeninhalt bei Kreisform unseres Landes nur 720 km benötigen würde.)
Im Pariser Frieden 1815 erhielt die Schweiz nicht etwa die Pflicht, sondern das Recht, Hochsavoyen militärisch zu besetzen, und von ihm Gebrauch zu machen zu dürfen, "sobald sie es für notwendig erachte und angezeigt halte". Dies ausdrücklich deshalb, um damit ihre strategische Stellung zu verbessern zugunsten der Staaten, denen sie als Flankendeckung dient, und im Interesse des europäischen Friedens.
Sie hat weder 1870 noch 1914 von diesem Rechte Gebrauch gemacht. Bei den Friedensverhandlungen von 1919 hat sie es auf Begehren Frankreichs, dem es begreiflicherweise lästig war, preisgegeben, und zwar ohne Gegenleistung.
Dies ist auch heute noch nicht ohne weiteres verständlich, denn die Gründe, aus denen uns das Besetzungsrecht Hochsavoyens zugesprochen wurde, bestehen auch heute noch unverändert fort. Ja, wir befinden uns wieder in einer Lage, welche die Erinnerung an jenes Recht direkt wachruft und auch für weitere wichtige Gebiete gilt.
Ob militärische Besetzung erst bei drohender Kriegsgefahr heutzutage noch einen Wert hätte, wo Konflikte rasch kommen könnten und der Angreifer plötzlich handeln wird? Je weniger man an diese Plötzlichkeit glaubt, um so eher. Die Zeit, die der Grenzschutz zu seiner Organisation benötigt, wird auch genügen, die wichtigsten Punkte jenseits der Grenze zu besetzen.
Während früher die Neutralisation und Entmilitarisierung solcher Gebiete durch internationale Übereinkunft zustande kam, betrachten wir heute den Weg zweiseitiger Verhandlungen für die Erreichung dieses Ziels als den gegebenen. Beide Partner verhandeln dann in voller Freiheit und insbesondere hat die gebende Grossmacht dann nicht das Gefühl, dass sie unter der Einwirkung oder gar unter dem Drucke anderer Grossmächte eine Vereinbarung eingehe. Sie würde die Neutralisierung und Entmilitarisierung aus völlig freien Stücken gewähren, wodurch das Abkommen unserer Ansicht nach eine erhöhte Bedeutung erlangt.
Es ist doch anzunehmen, dass die Grossmächte auch jetzt noch die Notwendigkeit eines kleinen Binnenstaates, der zu seiner eigenen Verteidigung befähigt ist, anerkennen. Wenn nicht, so wüssten wir, woran wir sind. Wenn doch, so dürften sie auch zugeben, dass angesichts der heutigen und zukünftigen Kampf- und Verkehrsmittel wir unsere Rolle als neutrale Flankendeckung eher und besser zu erfüllen vermöchten, wenn wir bessere militärische Grenzen hätten. Und wenn es ihnen ernst ist mit ihrer Freundschaft und mit der Zusicherung der ewigen Respektierung unserer Neutralität, so werden sie sich konsequenterweise diskussionslos damit einverstanden erklären, dass minime Teile ihrer grossen Gebiete mit dem erwähnten Servitut belegt werden. Keiner unserer Nachbarn wird durch Ablehnung den Verdacht auf sich lenken wollen, er habe trübe Absichten.
Die nähere Umschreibung der fraglichen Gebiete unterlasse ich, weil ich nicht eine Diskussion über die taktische und operative Tunlichkeit heraufbeschwören möchte. Es kommt zuerst darauf an, die grundsätzliche Anerkennung der Notwendigkeit und Tunlichkeit dieser Neutralisierung zu erreichen. Die Bezeichnung der erwünschten Zipfel und ihrer Ausdehnung ist etwas sekundäres.
Genannt sei einzig eine dieser Ecken, die mir hier vorschweben, das
Fürstentum Liechtenstein
Im Gegensatz zu allen andern, die in Frage kommen, wäre seine Neutralisierung für keinen unserer großen Nachbarn mit einem Verzicht verbunden, ist es doch ein selbständiges Staatswesen. Hätten wir das Recht seiner militärischen Besetzung, so würde uns das einen bescheidenen Teil jener Vorteile bringen, deren wir 1919 verlustig gegangen sind durch das Ausschlagen des Anschlusses Vorarlbergs, der ja damals durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Liechtenstein ist ja, durch eigenen Entschluss, schon weitgehend an uns gekettet. Es ist ins schweizerische Zollgebiet eingeschlossen und hat Schweizer Währung. Sein Post-, Telegraphen- und Telephonwesen werden vom Bunde besorgt. Selbstverständlich kommt es dabei auf die Meinung Liechtensteins selbst an. Da es aber wirtschaftlich und verwaltungstechnisch auf uns angewiesen ist, und vor allem ihm selbst Schutz geboten würde, darf doch angenommen werden, dass es Verständnis hätte. Es selbst ist - da zu klein und ohne Armee - ausserstande, unsere einspringende Ecke zu decken.
Dass uns diese Ecke unbequem ist, ist kein Geheimnis und muss den Mächten, die es gut mit uns meinen, gesagt werden. So wie die Dinge sich jetzt entwickeln, muss man damit rechnen, dass Vorarlberg vermehrte militärische Bedeutung erhalten kann, ja, dass es sogar für die Deutschen interessant werden könnte. Der seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder aufgetauchte, aber stets abgelehnte Vorschlag, die Region von Sargans fortifikatorisch zu behandeln, lässt sich bei der heutigen Lage kaum mehr abweisen. Lokale Sperren würden aber nicht genügen. Die Verbindung Walensee-Graubünden, an welche bei Sargans fremdes Gebiet bis auf Maschinengewehrdistanz heranreicht, lässt sich nur richtig schützen durch ein davor liegendes ausgedehntes Vorfeld, und durch Einbezug des Passes von Wildhaus und des Eingangs ins Prätigau in die befestigte Region. Also fortifikatorische Behandlung des ganzen Gebietes zwischen Scesaplana, Alpstein und Sardona, denn der Riegel muss auch gegen Süden (Reichenau und Lenzerheide) wirken können. Dürfen wir bis an die liechtensteinisch-vorarlbergische Grenze vorgehen, so gewinnen wir damit eine Vorfeldtiefe von 17 km, was gleich der Reichweite mittelschwerer Artillerie ist, vor Wildhaus, Sargans und Landquart. Diese Tiefe und die taktisch günstigen Stellungen vorne gestatten auch für solange, als noch keine permanenten Festungsanlagen bestehen und bei einem Konflikt erst behelfsmässig geschaffen werden müssten, den hiefür nötigen Kampf um Zeitgewinn der Vortruppen. Ohne auf Liechtenstein greifen zu dürfen, ist die Befestigung der oben umschriebenen Region kein einfaches Problem.
Man kann sich, wie wir es oben getan haben, die Frage vorlegen, ob eine internationale Vereinbarung oder ein zweiseitiger Vertrag der richtige Weg zur Neutralisierung sei. Die Antwort mag so oder anders ausfallen: Die kompetente Instanz wird sich immer finden lassen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Oberst Sennhauser