Die Fortschrittliche Bürgerpartei verteidigt ihre Bezeichnung gegenüber der Christlich-sozialen Volkspartei


Artikel im „Liechtensteiner Volksblatt“ [1]

18.1.1919

Die Fortschrittliche Bürgerpartei

Kaum hatten die Bürger Liechtensteins, die mit einzelnen Forderungen einzelner Gruppen in unserem Lande und mit der Art von deren Vorgehen nicht einverstanden waren und auch jetzt nicht einverstanden sind, sich endlich einmal aufgerafft, kaum hatte sich nämlich die Fortschrittliche Bürgerpartei gebildet [2] und in ruhiger Weise ihre Richtlinien im Grossen festgelegt, [3] da wurde auch schon gegen sie und teilweise gegen ihr Programm Sturm geblasen [4] und zwar in einer Weise, die nicht zu billigen ist. Mit dem alten Schlagwort „Herrenpartei" sucht man gegen sie Propaganda zu machen. Es wird nichts nützen, es ist verlorene Liebesmühe. Einfache Volksmänner, Bauern, Handwerker und Arbeiter waren es, die die Vorbesprechungen und dann in einer Versammlung von Vertretern aus dem ganzen Lande die Gründung der Partei bewerkstelligten und zwar spontan, von selbst zur Einsicht kommend, dass unserem kleinen Lande zwar grosser Fortschritt nottut, aber kein unüberlegter, kein überstürzter. Sie kamen als Vertreter der Meinung von vielen. Und es sei nun dem ruhig geschöpften Urteile Aller anheimgestellt, zu entscheiden, ob nun dieser Vereinigung all der vielen, die für wohlüberlegtes Handeln im Interesse des Landes einzutreten gewillt sind, der Namen Herrenpartei, also ohne weiteres ein leeres Schlagwort, gebührt – oder vielleicht doch jenen, die durch die besonderen Bemühungen eines einzigen Herrn [5] schon seit etwa 5 Jahren eine organisierte Minderheitspartei bilden, unter Führung eben dieses Herrn und sich als Herren der öffentlichen Meinung betrachten. Wenn darauf hingewiesen wird, dass auch Anhänger der Fortschrittlichen Bürgerpartei an den Vorgängen des 7. November teilgenommen, [6] so ist das ein neuer Beweis, dass diese während derselben und kurz zuvor eben überrascht wurden; als dann aber spätere Ereignisse ihnen verschiedene Folgerungen jenes Tages klar werden liessen, halfen sie mit zur Gründung einer Partei, die der entschiedenen Ansicht ist, dass ein Teil jener Folgerungen zu weit führen würde.

Und wenn nun von der Bürgerpartei mit Recht betont wird, sie vertrete den Standpunkt der grossen Mehrheit des Landes und ihr dann vorgeworfen wird, das sei ein Machtstandpunkt, so ergibt sich daraus die Frage: Wäre nicht vielmehr das Machtstandpunkt, dass einer grossen Mehrheit von der Minderheit deren Willen diktiert werden solle? Aber Macht soll nicht vor Recht gehen, auf keinen Fall. Die Tatsachen, dass die Bürgerpartei nebst vielen Leitsätzen auch solche aufstellte, die sich mit einzelnen der andern Partei decken, so ist das der klarste Beweis, dass sie eben das Gute als solches will und Recht gibt, wo Recht ist. Weiter führte aber gerade der Umstand, dass der Grossteil unseres Volkes mit einzelnen Forderungen und mit der Art des Auftretens Einzelner nicht einverstanden ist, zum engeren Zusammenschluss, zur Partei. Käme es doch nur bald dazu, dass sich die Forderungen beider Parteien decken könnten, dann wäre unserem Volke die Eintracht beschieden und damit dem Lande Fortschritt und Wohlstand. Dann, ja dann wären die Parteien von selbst aufgelöst, oder vielmehr aufgegangen in eine Partei mit dem fröhlichen Losungswort: Wir sind glückliche Liechtensteiner!

Wir werden in unserem Blatte nach den heutigen mehr allgemeinen Ausführungen noch des öftern auf unsere Leitsätze im besondern zu sprechen kommen, auf die politischen sowohl als besonders auch auf die wirtschaftlichen. Wie weit z. B. auch eine Abänderung einzelner wirklich reformbedürftiger Gesetze wie Strafgesetz [7]  etc. gehen soll, bleibe vorläufig dahingestellt. Es sei daher hier nur noch bemerkt, dass es eigenartig berührt, wenn man hört und liest, die Bürgerpartei hätte das Programm anderer abgeschrieben und wenn dann von diesen anderen zugleich betont wird, ihr Programm sei noch gar nicht veröffentlicht worden, was bis jetzt auch wirklich der Fall ist. [8]

Die indirekte Behauptung ferner, der Name Fortschrittliche Bürgerpartei sei ein Verlegenheitsname oder gar ein Propagandatitel, muss wohl manchen zur Frage zwingen: Seit wann und wo sonst auf der ganzen Welt als in Liechtenstein nennen sich die Anhänger einer „christlich-sozialen" Partei „Rote" und betiteln die Gegner mit „Schwarze" und „Pfaffenpartei"? Könnte etwa der Name „christlich-sozial" hier Propagandatitel sein? Bei was für Parteien ist es sonst Brauch, die Andersdenkenden „Feinde" zu nennen? – Wir sind der Ansicht: Gegner kann man sein, Feind soll man nicht sein, wenn's einem ernst ist ums Gesamtwohl, und das, hoffen wir, ist's doch uns Liechtensteinern allen.

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[1] L.Vo., Nr. 5, 18.1.1919, S. 1.
[2] Die Fortschrittliche Bürgerpartei wurde am 22.12.1918 offiziell gegründet (vgl. L.Vo., Nr. 52, 27.12.1918, S. 1 („Die Fortschrittliche Bürgerpartei“)).
[3] Veröffentlicht in: L.Vo., Nr. 1, 4.1.1919, S. 1 („Die Fortschrittliche Bürgerpartei und ihr Programm“).
[4] Vgl. dazu die Christlich-soziale Volkspartei in: O.N., Nr. 2, 11.1.1919, S. 1 („Zum Programm der sog. fortschrittlichen Bürgerpartei“).
[5] Anspielung auf den Juristen und Landtagsabgeordneten Wilhelm Beck.
[6] In der Landtagssitzung vom 7.11.1918 wurde Landesverweser Leopold vom Imhof zur Demission genötigt und ein provisorischer Vollzugsausschuss unter dem Vorsitz von Martin Ritter gewählt. Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik im „Liechtensteiner Volksblatt“ am Stimmverhalten von Friedrich Walser, Johann Wanger und Franz Josef Marxer (L.Vo., Nr. 48, 29.11.1918, S. 1 („Wo sind unsere Führer?“)).
[7] Vgl. Kaiserliches Patent vom 27.5.1852, wodurch eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte, Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizei-Übertretungen vom 3.9.1803, mit Aufnahme mehrerer neuer Bestimmungen, als alleiniges Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme der Militärgränze, kundgemacht, und vom 1.9.1852 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird, öst. RGBl. 1852 Nr. 117, eingeführt in Liechtenstein durch Fürstliche Verordnung vom 7.11.1859 (LI LA SgRV 1859). Vgl. das Strafgesetzbuch vom 24.6.1987, LGBl. 1988 Nr. 37, bzw. das Strafrechtsanpassungsgesetz vom 20.5.1987, LGBl. 1988 Nr. 38. Eine neue Strafprozessordnung wurde schon am 29.12.1913 erlassen, LGBl. 1914 Nr. 3.  
[8] Veröffentlicht in: O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 1-2 („Programm der christl.-sozialen Volkspartei Liechtensteins“)