Handschriftliches Schreiben von Landesvikar Johann Baptist Büchel, gez, ders., an die Regierung [1]
28.5.1923, Schaan
Hohe fürstliche Regierung!
Es ist bekannt geworden, dass die fürstl. Regierung die Ortsvorstehung in Balzers aufgefordert hat, dem Heinrich Nutt, welcher in Chur eine Civilehe eingegangen hat, auch für seine staatlich angetraute Frau [Rosa geb. Schellenberg] einen Heimatschein auszustellen, da diese Ehe als auch in Liechtenstein gültig anzuerkennen sei. [2]
Die zur Frühlingskonferenz heute in Schaan versammelten Seelsorger des Landes haben sich dadurch gezwungen gesehen, die Regierung daran zu erinnern, dass wir in Liechtenstein die Civilehe nicht als gültig anerkennen, sondern für Katholiken nur die vor dem katholischen Pfarrer geschlossene Ehe. Dieser Grundsatz wurde von der bisherigen liechtensteinischen Regierungen befolgt und derselbe wurde auch von Seite der Schweiz berücksichtigt, indem dieselbe den liechtenst. Ehewerbern die Civiltrauung nur unter der Bedingung gestattete, dass dieselben auch sich kirchlich katholisch trauen lassen und dafür eine Kaution leisteten. Auch andere Staaten z.B. Russland und Slawonien beobachten dieselbe Praxis wie Liechtenstein.
Wir hoffen, dass auch die jetzige Regierung [3] diese Praxis, die mit unserem bürgerlichen Gesetzbuch [ABGB], § 75 u. 77, [4] übereinstimmt, befolgen wird. Sollte, wie aus gewissen Vorkommnissen, besonders aus einer diesbezüglichen Anregung des liechtenst. Gesandten in Bern [Emil Beck] vermutet werden kann, [5] die Absicht bestehen, auf diese Weise der Civilehe auch in unser Land den Weg zu bereiten, dann würde die Geistlichkeit des Landes sich zu ihrem grössten Bedauern gezwungen sehen, öffentlich gegen ein solches Beginnen aufzutreten und das Volk über diese Sache aufzuklären. Wir wissen auch ganz gewiss, dass des Volk auf unserer Seite stehen wird, wenn ihm die schlimmen Folgen der Civilehen bekannt gemacht werden.
Die bezüglich der Eheschliessungen errichteten internationalen Verträge gehen uns nichts an, da Liechtenstein daran nicht beteiligt ist und die Ehegesetze der Schweiz gelten für uns nicht, da wir keine Schweizer sind und die Schweiz uns hierin keine Vorschriften zu machen hat.
Übrigens anerkennt die Schweiz faktisch unseren Standpunkt wie auch die anderen Staaten im gleichen Sinne.
Wenn unser Gesandte in Bern andere Wünsche hat, so ist ihm das zu verzeihen, weil er Protestant und Schweizer ist und von Fühlen und Denken der Liechtensteiner, die katholisch sind, keine Kenntnis hat.
Wir protestieren daher einstimmig und der entschiedenste gegen die Anerkennung der von Heinrich Nutt geschlossene Civilehe und ersuchen die fürstliche Regierung, unser katholisches Volk mit der Einführung der Civilehe, in welcher Form immer das geschehen sollte, zu verschonen und uns Seelsorger nicht in die peinliche Lage zu versetzen, öffentlich gegen die Regierung auftreten zu müssen. Denn wenn es auch unsere Pflicht ist, die legitime Obrigkeit in ihren Aufgaben zu schützen, so müssen wir doch den apostolischen Befehl immer vor Augen haben: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“. [6]
Im Namen und Auftrag der Priesterkonferenz Liechtensteins [Liechtensteinisches Priesterkapitel]
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[1] LI LA RE 1923/1904. Einlaufstempel der Regierung vom 4.6.1923.
[2] Zur Anerkennung der Rosa geb. Schellenberg als liechtensteinische Staatsangehörige vgl. das Schreiben der Regierung an Heinrich Nutt vom 18.10.1922 (LI LA RE 1922/3313). – Mit Schreiben vom 12.5.1923 teilte die Regierung der Ortsvorstehung in Balzers mit, dass die Ehe des Nutt als gültig anerkannt werden müsse, weil sie in der Schweiz nach den dort bestehenden gesetzlichen Bestimmungen aufgrund eines hiesigen Ehekonsenses rechtsgültig abgeschlossen worden sei (LI LA RE 1923/1622).
[3] Es handelte sich um die seit 1922 von der Christlich-sozialen Volkspartei gestellte Regierung unter Regierungschef Gustav Schädler.
[4] Nach § 77 ABGB musste die feierliche Erklärung der Einwilligung zur Ehe vor dem ordentlichen Seelsorger (Pfarrer, Pastor etc.) eines der Brautleute oder vor dessen Stellvertreter in Gegenwart zweier Zeugen erfolgen. Und § 77 ABGB lautete: „Wenn eine katholische und eine nicht katholische Person sich verehelichen, so muss die Einwilligung vor dem katholischen Pfarrer in Gegenwart zweyer Zeugen erklärt werden; doch kann auf Verlangen des anderen Theiles auch der nicht katholische Seelsorger bey dieser feierlichen Handlung erscheinen.“
[5] Vgl. die Schreiben des liechtensteinischen Geschäftsträgers in Bern, Emil Beck, an die liechtensteinische Regierung vom 29.3.1922 (LI LA RE 1922/1475 ad 0110/0435 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft: 356)) bzw. vom 13.10.1922 (LI LA RE 1922/4659 ad 3313 (Aktenzeichen der Gesandtschaft; Zl. 1040)).
[6] Vgl. in weiterer Folge das Schreiben der Regierung an Landesvikar Büchel vom 17.10.1923 (LI LA RE 1923/3351 ad 0067). – Im Falle Nutt-Schellenberg strengte die Regierung am 7.10.1926 beim F.L. Landgericht ein Verfahren über die Ungültigkeit der Ehe an (LI LA J 005/J 320/352 (Ordnungsnummer 1). Das Landgericht erklärte jedoch diese Ehe unter Berufung auf den Grundsatz „locus regit actum“ mit Urteil vom 2.6.1927 für gültig (ebd. (Ordnungsnummer 5)). Das F.L. Obergericht stützte das erstinstanzliche Urteil am 28.11.1927 (ebd. (Ordnungsnummer 9)), ebenso der F.L. Oberste Gerichtshof am 8.1.1929 (ebd. (Ordnungsnummer 12)).