Maschinenschriftliches Schreiben von Regierungschef Gustav Schädler, gez. ders., an die fürstliche Kabinettskanzlei in Wien [1]
18.10.1923
Hochverehrter Herr Kabinettsdirektor [Josef Martin]!
Die Durchsicht des Bürstenabzuges für den Gotha'er Almanach für 1924 [2] hat uns den Gedanken reifen lassen, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, die früheren Dienstleistungen von Mitgliedern des Fürstenhauses im österreichischen Zivilstaatsdienste oder im österr. ungarischen Militärdienste nicht mehr zu erwähnen und die Ordensbezeichnungen dieser Monarchie endgiltig fallen zu lassen. Das Gotha'er Handbuch wird weit in der Welt herumgelesen und mancher Leser wird wohl – wenn er von den Bemühungen unserer Regierung und namentlich auch des Fürstenhauses um die Betonung und Verteidigung unserer Selbständigkeit gelesen hat – verwundert den Kopf schütteln, dass soviele Mitglieder des Fürstenhauses eines neutralen Landes (oder die meisten Mitglieder sogar) als k.u.k. Offiziere oder Beamte geführt werden. Ich erinnere mich, dass gerade diese Zugehörigkeit liechtensteinischer Prinzen zur vergangenen österr. ungarischen Armee wiederholt Bedenken wegen unserer Souveränität hervorgerufen hat und ich bin der sicheren Überzeugung, dass diese Tatsache gerade bei den cechischen Verhandlungen eine ausserordentliche bedenkliche Rolle gespielt hat. [3] Meine unmassgebliche Meinung ist daher die, diese Titel wären aus Zweckmässigkeitsgründen zu streichen. Zu erwägen wäre auch, ob die Ordensauszeichnungen einer vergangenen Monarchie weiter bemerkt werden sollen. Einen Zweck kann ich in der Fortführung nicht erblicken, sehe darin allerdings keinerlei Gefahr für unsere Selbständigkeit, nachdem ja immer Souveräne ihre Standesgenossen dekoriert haben.
Jedenfalls bitte ich, meine Bedenken Seiner Durchlaucht [Johann II.] zur Entscheidung mitzuteilen, und dabei besonders zu bemerken, dass ich mit meinem Antrage durchaus nicht an den verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen des Fürstenhauses zu Habsburg-Lothringen rütteln wollte. Das läge mir vollständig ferne, sondern ich habe nur die Absicht, einen sehr im Bereiche der Möglichkeit liegenden Stein des Anstosses für unsere staatliche Eigenheit aus dem Wege zu räumen. Wenn Seine Durchlaucht meine Bedenken nicht teilen, bitte ich, den Bürstenabzug unverändert (jener für das Land ist vollständig korrigiert) an den Verlag Perthes zu expedieren. Sollte Seine Durchlaucht meinem Antrage beipflichten, so bitte ich, die Korrekturen dort vorzunehmen und den Korrekturbogen ebenfalls an Perthes zu senden. In jedem Falle bitte ich um kurze Nachricht der fürstl. Entscheidung und um rascheste Erledigung der Sache, damit unbedingt der berichtigte Abzug für das 1924er Buch Verwendung findet. [4]
Empfangen Sie, hochverehrter Herr Kabinettsdirektor, die Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung, womit ich Sie begrüsse
Ihr ergebener
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[1] LI LA RE 1923/3288. Das Schreiben enthält die maschinenschriftliche Ergänzung, dass diesem eine Subskriptionserklärung für Hofkalender und Diplomatisches Jahrbuch beizuschliessen sei. Vgl. auch LI LA RE 1924/4673. Der "Gothaische Hofkalender" bzw. der "Gothaer Almanach" war bzw. ist ein – erstmals 1763 herausgebenes – genealogisches Nachschlagewerk für den europäischen Adel. Zwischen 1785 und 1944 erschien es im Justus Perthes Verlag in Gotha.
[2] Die Schriftleitung des Gothaischen Kalenders hatte mittels undatierter Korrespondenzkarte um "genaue Durchsicht und baldige Rücksendung" des Abzuges gebeten. Vgl.: Gothaischer Hofkalender 1924. Familienstand der regierenden und ehemals regierenden Häuser, der deutschen standesherrlichen Häuser und der meisten nicht souveränen europäischen Fürstenhäuser. Gotha 1924.
[3] Zur Haltung der Prager Regierung zur Souveränität des Fürsten von Liechtenstein vor dem Hintergrund der tschechoslowakischen Bodenreform vgl. etwa: "Prager Tagblatt", Nr. 225, 27.9.1923, S. 3 ("Liechtenstein und die Tschechoslowakei").
[4] Vgl. das – eher reservierte – Antwortschreiben der fürstlichen Kabinettskanzlei an Regierungschef Schädler vom 7.11.1923 (LI LA RE 1923/3644 ad 3288 (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei: No. 279)).