Der liechtensteinische Geschäftsträger in Bern, Emil Beck, befürwortet den Beitritt Liechtensteins zum Ständigen Internationalen Gerichtshof


Vertrauliches, maschinenschriftliches Schreiben des liechtensteinischen Geschäftsträgers in Bern, Emil Beck, gez. ders., an die liechtensteinische Regierung [1] 

6.5.1927, Bern

Anlässlich meines letzten Besuches in Feldsberg wurde von Seiner Durchlaucht dem Fürsten [Johann II.] wie auch von den beiden Prinzen Franz sen. [von Liechtenstein] und Alois [von Liechtenstein] der Wunsch ausgesprochen, Liechtenstein möchte möglichst bald dem Haager Gerichtshof beitreten. Damit ist offenbar nichts anderes gemeint als die Unterzeichnung des Obligatoriums [2] für den Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag. Man verspricht sich von diesem Beitritt eine günstige Rückwirkung auf die Streitfrage der Enteignung der fürstlichen Güter in der Tschechoslowakei. 

Ohne zu diesem letzteren Punkte weiter Stellung zu nehmen, möchte ich diese Anregung doch befürworten. Und dies zwar aus der Überlegung heraus, dass alle Kleinstaaten in erster Linie ein Interesse daran haben, die Erledigung aller Streitfälle durch den Gerichtshof zu unterstützen, da sie nicht in der Lage sind, ihre Rechtsansprüche mit Waffengewalt durchzusetzen, und andererseits Gewähr für eine unparteiliche Besetzung des Gerichts und für gleiche Behandlung aller Staaten geboten ist. Die Richter werden ohne Rücksicht auf ihre Nationalität und politische Gesinnung bestellt. Nur die Unparteilichkeit und Fähigkeit des Richters soll entscheidend sein, wofür das Verfahren bei der Bestellung genügende Garantie bietet. Auch ist die Vollstreckung seiner Urteile gesichert. Sie kann, soweit nicht ein besonderer Vorbehalt gemacht wurde, nicht mehr mit der Begründung verweigert werden, dass das Urteil die Ehre oder Unabhängigkeit des betreffenden Staates berühre, wie dies früher bei Schiedsgerichten üblich war. 

Das Gericht besteht aus 11 ordentlichen und 4 Ersatzrichtern. [3] Gegenwärtig gehören ihm an: Prof. Max Huber (Schweiz), Präsident; [Bernard] Loder (Holland), gewesener Präsident; [André] Weiss (Frankreich), Vize-Präsident; Lord [Robert] Finlay (England); [Didrik] Nyholm (Dänemark); [John Bassett] Moore (Amerika); [Antonio Sanchez de] Bustamante [y Sirvén] (Kuba); [Rafael] Altamira (Spanien); [Yorozu] Oda (Japan); [Dionisio] Anzilotti (Italien), [Epitacio Lindolfo da Silva Pessoa] Pessôa (Brasilien); Ersatzrichter: [Mihailo Jovanović] Yovanovitch (Jugoslavien); [Frederik] Beichmann (Norwegen); [Demetru Negulescu] Negulesco (Rumänien) und [Ch’ung-Hui Wang] Wang Chung-Hui (China).

Durch die Unterzeichnung der Obligatoriumsklausel kann zwar noch nicht erreicht werden, dass alle Streitigkeiten mit andern Staaten vor den Gerichtshof gelangen. Dieser kann erst dann in Funktion treten, wenn auch der andere Staat, mit dem das Streitverhältnis besteht, die Zuständigkeit des Gerichtshofes anerkennt, sei es durch Unterzeichnung der gleichen Obligatoriumsklausel, oder im einzelnen Fall, oder durch Vertrag. Die Obligatoriumsklausel ist bisher von folgenden Staaten, meistens mit gewissen Einschränkungen unterzeichnet worden: Portugal, Schweiz, Dänemark, Salvador, Costa-Rica, Uruguay, Luxemburg, Finnland, Niederlande, Liberien, Bulgarien, Schweden, Norwegen, Haiti, Littauen, Panama, Brasilien, Österreich, China und Lettland. Unter diesen Staaten fehlt allerdings derjenige, an dem das Fürstenhaus gegenwärtig das grösste Interesse hat, die Tschechoslowakei. Trotzdem dürfte die Anerkennung des Gerichtshofes auch gegenüber dieser bloss beschränkten Anzahl von Staaten für Liechtenstein von Interesse sein.

Die Frage, ob auch Staaten zugelassen werden, welche dem Völkerbund nicht angehören, [4] ist vom Völkerbundsrat in seiner Resolution vom 17. Mai 1922 in bejahendem Sinne entschieden worden, wie Sie aus der beigelegten Abschrift der Resolution ersehen. [5] Diese Resolution ist Ihnen unterm 30. Juni 1922 vom Sekretariat des Gerichtshofes zugestellt worden, [6] mit besonderem Hinweis auf die Art. 34 bis 36 und 40 des Statutes und Art. 36 des Reglementes des Gerichtshofes, von welchen eine Abschrift hier beiliegt. [7]

Die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichts kann durch eine spezielle oder durch eine allgemeine Erklärung erfolgen. Die spezielle Erklärung bezieht sich auf bereits entstandene Streitigkeiten, während die allgemeine Klausel alle Streitfälle umfasst, die bereits entstanden sind oder künftig entstehen werden, oder auf einzelne Kategorien solcher Streitigkeiten.

Obschon für den speziellen Zweck der Erledigung der Bodenreform die spezielle Klausel genügen würde, welche sich auf die Streitigkeiten mit der Tschechoslowakei aus der Bodenreform bezieht, so wird für Liechtenstein doch die allgemeine Klausel vorteilhafter sein. Durch die Unterzeichnung einer solchen Klausel stellt es sich von vornherein auf den Rechtsstandpunkt und beweist sein Zutrauen zum Gericht und zu seinem guten Recht.

Diese allgemeine Klausel kann nun nach verschiedener Richtung beschränkt sein. Fast alle Staaten machen den Vorbehalt der Reziprozität. Die Zuständigkeit des Gerichts wird nur anerkannt gegenüber einem Staate, welcher die gleiche Verpflichtung übernimmt. Meines Wissens haben nur Haiti und Litauen diesen Vorbehalt nicht gemacht. Da die Tschechoslowakei das Obligatorium nicht unterzeichnet hat, könnte der uneingeschränkte Vorbehalt der Reziprozität unsere Beitrittserklärung für diesen speziellen und vorderhand wichtigsten Fall illusorisch machen. Andererseits wäre es wohl auch nicht empfehlenswert, die Zuständigkeit schlechthin anzuerkennen. Denn wir haben kein Interesse daran, ein Urteil anzuerkennen, das vom Gegner nicht anerkannt wird. Dieser hätte es dann ja in der Hand, die Vollstreckung des Urteils zu verlangen, wenn es zu unseren Ungunsten lauten würde, während er andererseits nicht verpflichtet wäre, das Urteil anzuerkennen, wenn es zu seinen Ungunsten ausfallen sollte. Deshalb dürfte es empfehlenswert sein, den Vorbehalt zu machen, dass die Zuständigkeit anerkannt wird gegenüber allen Staaten, welche vorher im allgemeinen oder für den speziellen Fall die Erklärung abgeben, dass sie das Urteil anerkennen. Vielleicht wäre ein solcher Vorbehalt gar nicht nötig angesichts des Art. 36 des Statutes, laut welchem die Zuständigkeit des Gerichts nur gegeben ist für Angelegenheiten, die die Parteien ihm unterbreiten. Es wird aber sicher nichts schaden, wenn es in der Beitrittserklärung ausdrücklich gesagt wird.

Die meisten Staaten anerkennen die Zuständigkeit nur mit einer zeitlichen Beschränkung. Die Schweiz hatte anfänglich für fünf Jahre unterzeichnet. Im Jahre 1926 ist die Unterschrift für weitere zehn Jahre erneuert worden. Es scheint mir, dass Liechtenstein ebenfalls für zehn Jahre sich verpflichten sollte. Ferner ist die Möglichkeit gegeben, die Zuständigkeit auf bestimmte Materien zu beschränken, was jedoch für Liechtenstein nicht zweckmässig sein dürfte.

Endlich kann die Anerkennung auch auf bestimmte Staaten beschränkt oder gegenüber bestimmten Staaten ausgeschlossen werden. Es scheint mir aber, dass hiefür keine Veranlassung vorliegt.

In allen diesen Fällen kann der Gerichtshof sich aber nur für solche Streitigkeiten zuständig erklären, welche im Statut (Art. 36 Abs. 2) vorgesehen sind. Es betrifft dies nämlich Streitigkeiten a. über Auslegung eines Staatsvertrages; b. über jegliche internationale Rechtsfrage; c. über eine Tatsache, die, wenn erwiesen, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung darstellen würde; d. über Art und Umfang der Entschädigungspflicht bei Verletzung einer internationalen Verpflichtung.

Dagegen können Streitigkeiten um politische Ansprüche, die sich nicht auf Rechtsnormen stützen, sondern nur auf Gründe angeblicher oder wirklicher Zweckmässigkeit vom Gericht ohne Zustimmung beider Parteien nicht beurteilt werden.

Meines Erachtens würde es sich empfehlen, eine ähnliche Klausel wie die Schweiz zu unterzeichnen. Die schweizerische Klausel vom 1. März 1926 hatte folgenden Wortlaut:

"Im Namen der schweizerischen Regierung und unter Vorbehalt der Ratifikation erklärt der Unterzeichnete, von Rechts wegen und ohne besonderen Vertrag die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes ohne jede Einschränkung für eine weitere Dauer von zehn Jahren, von der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde an gerechnet, als obligatorisch anzuerkennen gegenüber allen Völkerbundsmitgliedern oder Staaten, die dieselbe Verpflichtung übernehmen, d.h. unter Vorbehalt der Gegenseitigkeit."

Der Schluss des Satzes wäre dahin abzuändern, dass das Obligatorium anerkannt wird gegenüber allen Völkerbundsmitgliedern oder Staaten, "welche vor Anhängigmachung des Streitfalles den Entscheid des Gerichtshofes als verbindlich anerkennen."

Ich ersuche Sie, zu dieser Frage möglichst bald Stellung nehmen zu wollen, damit die Unterzeichnung des Protokolles betreffend das Obligatorium möglichst bald erfolgen kann. Zu weitern Aufschlüssen bin ich gerne bereit.

Der fürstliche Geschäftsträger [8]

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[1] LI LA RE 1927/2000. Eingangsstempel der liechtensteinischen Regierung vom 9.5.1927. Eine Abschrift des Schreibens ging an die fürstliche Kabinettskanzlei.
[2] Vgl. Art. 36 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom 16.12.1920.
[3] Das Amt des Hilfsrichters wurde mit der Änderung des Statuts auf den 1. Februar 1936 abgeschafft, wodurch sich die Zahl der regulären Richter auf 15 erhöhte.
[4] Vgl. in diesem Zusammenhang das Schreiben des liechtensteinischen Geschäftsträgers in Bern Emil Beck an die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien vom 20.12.1920 über die Ablehnung des Aufnahmegesuchs zum Völkerbund (LI LA V 003/0124 (Aktenzeichen der Gesandtschaft in Bern: 1530. Aktenzeichen der Gesandtschaft in Wien: 867/3)).
[5] Abschrift der Resolution vom 17.5.1922 unter LI LA RE 1929/2000, vgl. insbesondere Ziff. 1 der Resolution: "La Cour permanente de Justice internationale est ouverte à tout Etat qui n’est pas membre de la Société des Nations ou qui n’est pas mentionné dans l’annexe au Pacte de la Société, aux conditions suivantes: Cet Etat devra avoir déposé préalablement au Greffe de la Cour une déclaration par laquelle il accepte la jurisdiction de la Cour, conformément au Pacte de la Société des Nations et aux termes et conditions du Statut et du Règlement de la Cour, en s’engageant à exécuter de bonne foi les sentences rendues et à ne pas recourir à la guerre contre tout Etat qui s’y conformera."
[6] Vgl. vermutlich LI LA RE 1922/2900 (Akte offenbar in Verstoss geraten).
[7] Liegen nicht bei.
[8] Die liechtensteinische Regierung nahm die Zuschrift Becks in der Sitzung vom 24.5.1927 zur Kenntnis und beschloss einstimmig, noch die Finanzkommission des Landtags mit der Angelegenheit zu befassen, worauf dann die Regierung die "Anmeldung des Beitritts" zum Ständigen Internationalen Gerichtshof vollziehen sollte. Die Ratifikation des Landtages sollte erst nach erfolgter "Anmeldung" eingeholt werden (Aktenvermerk von Regierungschef Gustav Schädler vom 25.5.1927 (LI LA RE 1927/2000r)). Die Angelegenheit wurde in der Sitzung der Finanzkommission vom 31.5.1927 "eingehend" erörtert und es wurde beschlossen, "die Entscheidung bis zur Anwesenheit S.D. im Lande aufzuschieben" (Aktenvermerk von Regierungschef Schädler vom 1.6.1927, ebd.). Mit Schreiben vom 6.7.1927 wurde die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern von der liechtensteinischen Regierung damit beauftragt, den Beitritt des Fürstentums zum Ständigen Internationalen Gerichtshof auf 10 Jahren zu vollziehen. Es sollte dabei lediglich der Vorbehalt erklärt werden, dass die Zuständigkeit gegenüber allen Staaten anerkannt werde, welche vorher im Allgemeinen oder für den speziellen Fall die Erklärung abgeben, dass sie das Urteil des Haager Gerichtshofes anerkennen. Gleichentags wurde die fürstliche Kabinettskanzlei darüber mit der Bitte um Kenntnisnahme durch Fürst Johann II. informiert. Sobald der Beitritt vollzogen sei, werde die Regierung die Ratifikation des Landtages und die formelle Sanktion des Fürsten, "Höchstwelcher ja selbst den Beitritt zum Gerichtshof wünschten", einholen (LI LA RE 1927/2000). Der Beitritt zum Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofes erfolgte jedoch vorerst nicht. Am 17.3.1930 erkundigte sich die Regierung bei der Gesandtschaft in Bern, "ob die Anmeldung des Beitrittes zum Haager Gerichtshof seinerzeit vollzogen und zustande gekommen" sei (LI LA RE 1930/1929). Am 26.7.1935 ersuchte die liechtensteinische Regierung das Eidgenössische Politische Departement um Mitteilung, ob und unter welchen Voraussetzungen das Fürstentum Liechtenstein an den Ständigen Internationalen Gerichtshof gelangen könnte (vgl. die Note des Eidgenössischen Politischen Departements an die liechtensteinische Regierung vom 2.8.1935 (LI LA RF 156/281/1a)). Liechtenstein hinterlegte schliesslich die Deklaration im Sinne der Resolution vom 17.5.1922 am 29.3.1939 (Quinzième rapport annuel de la Cour Permanente de Justice internationale (15 juin 1938 – 15 juin 1939), S. 34-35 und 42-43 (vgl. LI LA SgK 461). Im Juni 1939 machte die liechtensteinische Regierung im Fall des 1928 in Mauren eingebürgerten Felix Gerliczy beim Ständigen Internationalen Gerichtshof ein Verfahren gegen Ungarn anhängig (Seizième rapport de la Cour Permanente de Justice internationale (15 juin 1939 – 31 décembre 1945, S. 144-148 (vgl. LI LA SgK 461)).