Maschinenschriftliches Schreiben von Regierungschef Gustav Schädler an Kabinettsdirektor Josef Martin [1]
21.4.1926
Hochgeschätzter Herr Kabinettsdirektor!
Ich habe Seiner Durchlaucht [Johann II.] bereits telegraphisch gemeldet, dass es bei der montäglichen Eröffnungssitzung [2] des neugewählten Landtages leider nicht möglich war, das Landtagsbüro zu bestellen, weil die Opposition vor der Wahl den Landtagssaal verlassen hat und dadurch die Beschlussunfähigkeit des Hauses herbeigeführt hat. [3] Ergänzend zu diesem Telegramm gestatte ich mir noch Folgendes mitzuteilen:
Vor dem Betreten des Landtags-Saales habe ich die im Konferenzzimmer versammelten Herren Abgeordneten ausdrücklich gefragt, ob Ihnen eine vorherige Aussprache dienlich sei. Von keiner Seite wurde auf diese Anfrage reagiert und die Abgeordneten begaben sich zu ihren Sitzen im Saale. Nach der Überprüfung der Wahlakten und der Eröffnung des Landtages ergriff der Abg. [Emil] Batliner das Wort zur Bekanntgabe des Standpunktes der Minderheit, die an ihrer früheren Stellungnahme festhält. [4] Die beansprucht den Sieg der letzten Wahlen für sich und ihr Prinzip. Hieran knüpfte Batliner weiterhin die Ankündigung, dass sie die Bürowahlen verunmöglichen werden, wenn ihren Wünschen nicht Rechnung getragen werde. Die Regierungsratswahl sei mit den Bürowahlen durchzuführen. Als Redner der Mehrheit entgegnete Abg. [Anton] Walser dem Abg. Batliner. Er führte aus, dass die Mehrheit durch den Stimmzuwachs bei den letzten Wahlen vollkommen gedeckt sei und dass man nicht von Frieden sprechen könne, wenn die Minderheit einfach erkläre, auf ihrem Standpunkte zu verharren. Die Mehrheit werde der Minderheit den Vizepräsidenten, einen Schriftführer und zwei Mitglieder der Finanzkommission erhalten. Die Regierungsratswahl stehe überhaupt heute noch nicht auf der Tagesordnung. Hierauf replizierte Batliner, der er verhüten möchte, dass die Minderheit wieder wie nach den Januarwahlen mehrmals abzutreten habe. Diese Rede Batliners zog eine Entgegnung Walsers nach sich, der berichtigte, dass vom Heimschicken der Minderheit keine Rede sei, es sei ein regelrechtes Davonlaufen. Nach Walser griff Peter Büchel ein, dem es vorkomme, als ob wieder die gleiche Komödie beginne wie in der letzten Periode. Er unterstützte Batliner und erklärte, dass sie zum Frieden bereit seien, doch lassen sie sich nicht ignorieren.
Als der Alterspräsident – Abg. J.J. [Johann Jakob] Feger – hierauf die Bürowahlen vornehmen wollte, traten die 6 Abgeordneten der Opposition ab, wodurch das Haus beschlussunfähig wurde. Hierauf stellte Abg. Walser die Beschlussunfähigkeit fest und erklärte, man habe der Minderheit die gerechte Vertretung gewähren wollen. Wenn sich die Gegner schon heute auf die Wahl Dr. [Ludwig] Marxers in die Regierung festlegen wollen, erübrigt es sich, vom Frieden zu reden. Wenn von einer Komödie gesprochen werde, sei zu sagen, dass sie von der Opposition aufgeführt werde. Die Mehrheit stimme einer Wahl Dr. Marxers nicht zu, nachdem eine friedliebende Arbeit doch nicht möglich sei. Hiebei kam Walser noch einmal auf den noch behängenden Presseprozess zu sprechen. [5]
Wir stehen also neuerdings vor der Arbeitsunfähigkeit des Parlamentes, verursacht durch die Unnachgiebigkeit der Minderheit, die der Mehrheit ihren Willen aufzwingen will. Ich bitte Sie, hochgeschätzter Herr Kabinettsdirektor, diesen Bericht seiner Durchlaucht vorzulegen. Über die Entwicklung der Situation werde ich Sie auf dem Laufenden halten. [6]
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr sehr ergebener
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[1] LI LA RE 1926/1559 ad 1092. Kürzel: N.
[2] LI LA LTP 1926/074-079, Eröffnungssitzung vom 19.4.1926.
[3] LI LA RE 1926/1530 ad 1092, Telegramm Gustav Schädler an Johann II. und Prinz Franz, 19.4.1926.
[4] Die Bürgerpartei verlangte die Wahl von Ludwig Marxer zum Regierungsrat. Da die Volkspartei dies verweigerte, verliessen die Abgeordneten der Bürgerpartei in den Landtagssitzungen vom 1.2., 6.2., 11.2. und 15.3.1926 den Landtagssaal und führten so Beschlussunfähigkeit herbei (vgl. LI LA LTP 1926/010; LI LA LTP 1926/005; LI LA LTP 1926/063). Aufgrund der fortwährenden Beschlussunfähigkeit wurden am 5.4.1926 Neuwahlen durchgeführt. Diese bestätigten die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags: Die Volkspartei errang alle neun Mandate im Oberland, die Bürgerpartei alle sechs Mandate im Unterland.
[5] Die Regierung hatte aufgrund eines Beitrags im "Liechtensteiner Volksblatt" (L.Vo., Nr. 104, 31.12.1925, S. 2f. ("Beantwortung der Interpellation des Abg. Peter Büchel")) und eines Flugblatts Anklage gegen Bernhard Risch, Hermann Walser, Ludwig Marxer und Josef Ospelt erhoben (LI LA J 007/S 058/033; LI LA J 007/S 058/045).
[6] Vgl. LI LA RE 1926/3550 ad 340, Regierung an Johann II., 14.9.1926.