Hermann Walser versucht Alfons Goop zu überzeugen, dass die Volksdeutsche Bewegung vorerst auf das Ziel eines Totalanschlusses verzichten sollte


Handschriftliches Schreiben von Hermann Walser an Alfons Goop, Landesleiter der Volksdeutschen Bewegung [1]

6.4.1941, Schaan

Lieber Dr. Goop!

In dem Augenblicke, da sich unsere VDBL gerade vom ersten grösseren Knick erholt, [2] möge es einem Deiner engeren Mitarbeiter gestattet sein, Dir ein paar Gedanken zur Erwägung vorzulegen; ich glaube, mir dies umso eher erlauben zu dürfen, als ich die Aufgaben, die mir innerhalb der VDBL anvertraut wurden, stets in zufriedenstellender Weise erfülle und in jeder Hinsicht allzeit treu zu Dir stehe.

So wie Du es bereits in der Zeitung getan hast, möchte ich vorerst meiner grössten Befriedigung darüber Ausdruck verleihen, dass sich die VDBL in dem gegenwärtigen Rückschlage durchschnittlich ganz hervorragend gehalten hat und weiterhin hervorragend hält, was wir sicherlich als eine erfreuliche Frucht der vor allem von Dir geleisteten Arbeit zu buchen berechtigt sind. [3]

Hinsichtlich der Vorkommnisse selber erscheint mir als das Wesentlichste, dass unser Gewissen sauber ist. Wir sind stets auf dem Boden der Gesetze geblieben und haben daher auch Anspruch auf den Schutz derselben Gesetze. Dass unser Staat sich eine Zeitlang als unfähig erwies, uns diesen Schutz zu gewähren, ist zwar eine Schande, aber nicht für uns, sondern für den Staat.

So wenig wir also etwa juristische Fehler gemacht haben, so sehr dürfen wir dann aber auch fragen, wie denn das alles psychologisch überhaupt möglich war. – Wir sagen zwar mit Recht: Unsere "Gegner" haben das Volk aufgehetzt. – Wir müssen aber auch fragen: Konnten Sie das etwa deshalb, weil sie es vielleicht besser als wir verstanden hatten, die seelische Lage der breiten Bevölkerung zu beobachten, zu beurteilen und zu lenken?

Wir dürfen uns auch fragen, ob wir nicht, wenn auch in abgeschwächter Weise, auf denselben Kniff hereingefallen sind wie unser Vorgänger vor zwei Jahren:

Das "Volk" entrüstet sich, ist einfach nicht mehr zurückzuhalten und geht schliesslich selbstherrlich gegen die angeblichen Staatsfeinde vor; sich darauf stützend, hat man seinerzeit die Nationalsozialisten völlig an die Wand gedrückt; dass es heute nur dazu langt, uns vorübergehend empfindlich zurückzuschneiden, verdanken wir einzig den besseren Weisungen vonseiten unserer Führung und der vorhandenen besseren Zucht.

Von aussen her und vom Standpunkte derjenigen aus betrachtet, welche wir erst noch für uns gewinnen wollen, stellt sich die Angelegenheit zunächst zweifellos so dar, dass wir uns durch unkluge und in Anbetracht der bekannten Haltung des Reiches fast unverständliche Übertreibungen in ganz unnötiger Weise geschadet und lächerlich gemacht haben. – Wir hätten uns das ersparen können, wenn wir uns nur streng an das von Dir aufgestellte Programm gehalten hätten.

Sofern wir eine Niederlage erlitten haben, besteht sie nicht darin, dass man uns einfach dies oder jenes verboten hat, [4] denn dies wäre keine Niederlage, sondern darin, dass es deshalb möglich wurde, uns dies und jenes zu verbieten, weil wir selber tatsächlich den Bogen überspannt hatten.

Wenn es unsere einzige und wesentliche Aufgabe ist, die liechtensteinische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen, so befinden wir uns gegenwärtig in der immerhin nicht gerade beneidenswerten Lage, dass uns diejenigen, die wir bekehren wollen, die Fenster einschlagen und uns allen Ernstes nach dem Leben trachten.

Tatsache ist, dass wir, weil wir eine Zeitlang zuviel getan haben, jetzt eine Zeitlang fast gar nichts tun können; dass wir, weil wir unsere Leute nicht daran gehindert haben, allzusehr gewissen Sonderwünschen nachzulaufen, heute allesamt von unserem Hauptziele weiter entfernt sind als vor einiger Zeit.

Dass wir hierzulande eigentlich keinen Feind haben, mit dem es einen Sinn hätte, sich zu schlagen, sondern vielmehr eine zu erfüllende Aufgabe, dies hatten wir so sehr vergessen, dass es uns fast wie etwas Neues vorkam, als man es neulich für nötig hielt, uns daran zu erinnern.

Anstatt sich, was in der Hitze des Gefechtes nun einmal vorkommen kann, dazu hinreissen zu lassen, mit dem Reiche zu drohen, die Leute einzuschüchtern, verrückt zu machen und mit geradezu raffinierten Methoden gegen sich selbst aufzuputschen, liegt es im Grunde genommen bestimmt auch uns selber besser, mit germanischer Ritterlichkeit auf uns allein vertrauend und siegessicher um das Herz unseres Völkleins zu werben.

Vom Innern der Bewegung aus gesehen, treten die Ereignisse, bei aller treuen, mutigen und wohlwollenden Haltung, nüchtern betrachtet doch etwa so in Erscheinung, wie es mir von einigen Mitgliedern, zumal den Brüdern Gottfried und Eugen Hilti am Nachmittag des 26. März geschildert wurde: "Zuerst heisst es von oben herab wochenlang: 'Das Reich steht hinter uns; nur fest drauf los!' Und wenn man dann wirklich fest drauflos geht und infolgedessen eingesperrt wird, lautet die Losung auf einmal wieder: 'Unter allen Umständen Ruhe halten; wir haben vom Reich gar keine Hilfe zu erwarten!'. Da kommen wir nicht mehr mit!" [5]

Für uns, die wir die Verantwortung tragen, wäre es eine zu billige Redensart, uns etwa damit ausreden zu wollen, die Entwicklung der VDBL sei eben in letzter Zeit eine "zu rasche" gewesen oder Ähnliches.

Nein, deutsche Ehre zwingt uns die wirkliche Beantwortung der Frage auf: Wie konnte das so kommen und wie soll es nun werden?

Die Dinge liegen hier jetzt nun einmal so:

Die Angst vor einem Totalanschluss und insbesondere vor einem Totalanschluss noch während des Krieges ist nachgerade und zwar nicht ganz ohne unsere Schuld zum grossen und in absehbarer Zeit völlig unüberwindlichen Komplex unseres Völkleins geworden.

Weil wir diesen Komplex in letzter Zeit zu wenig berücksichtigt haben, gaben wir unseren "Gegnern" die Möglichkeit, uns eine Schlappe beizubringen. Und wenn wir denselben Komplex weiterhin zu wenig berücksichtigen werden, dann müssen wir uns in Zukunft auch noch auf andere Schlappen gefasst machen und alle unsere mühsam errungenen grossen äusseren Erfolge werden immer wieder eines "schönen" Tages wie Seifenblasen zerplatzen bezw. wie Fensterscheiben zerspringen.

Lieber Dr. Goop! Ich bewundere heute mehr denn je die kluge programmatische Zielsetzung, die Du uns immer vor Augen hältst:

"Engeren Anschluss ans deutsche Muttervolk dadurch, dass wir die Liechtensteiner zu Nationalsozialisten erziehen; alles andere, besonders die zukünftige Gestaltung der Aussenpolitik, überlassen wir ganz dem Fürsten [Franz Josef II.] und dem Führer [Adolf Hitler]."

Nun steht aber heute nach meiner Ansicht unbedingt fest, dass wir, so gewaltige aussenpolitische Dinge sich gegenwärtig auch ereignen mögen, die Liechtensteiner in absehbarer Zeit doch niemals in ausschlaggebendem Umfange innerlich für den Nationalsozialismus gewinnen können, wenn wir nicht imstande sind, ihnen glaubwürdig beizubringen, dass wir nicht den Totalanschluss und besonders nicht den Totalanschluss noch während des Krieges beabsichtigen.

Wir werden aber nur dann imstande sein, ihnen das glaubwürdig beizubringen, wenn wir uns diese Dinge selber irgendwie und sei es auch in einer höheren Ebene wirklich und positiv zu eigen gemacht haben.

Wir vergeben uns dadurch bei niemandem etwas, im Gegenteil, wir werden so nicht nur vor dem Forum des engen Inlandes, sondern auch vor einem weit wichtigeren Forum nicht nur scheinbare und flüchtige, sondern auch wirkliche und bleibende Erfolge erzielen.

Unser einzig wichtiges Hochziel, dem wir uns heilig verschworen haben, werden wir auf diese Weise leichter, rascher und vor allem viel gediegener und verlässlicher erreichen, als wenn wir ständig mit noch soviel Aufwand von Geist, Mühe und Zeit schliesslich doch nur immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand einer störrischen Menge anrennen.

Ich habe Dir als dem Landesleiter der VDBL diese selben Gedankengänge in wenig anderer Gestalt bereits im Frühherbst 1940 in einem Gespräche vorgetragen, wobei sie durchaus Deinen Beifall fanden.

Die von mir vorgeschlagene Einstellung braucht keineswegs ein Zurück zu bedeuten, sondern stellt im Gegenteil eine ganz organische Ausgestaltung und Weiterentwicklung des bereits bestehenden Lokalprogrammes dar. Da wir ohnehin streng auf dem Boden der Gesetze und der Verfassung stehen, erkennen wir eben auch das erste und wichtigste Stücke der Verfassung, nämlich die staatliche Selbstständigkeit des Ländchens, voll an; was wir bisher nur nicht für nötig hielten, ausdrücklich zu sagen, davon fangen wir jetzt, da wir dies zur Erlangung unseres Hauptzieles für erforderlich erachten, ruhig auch an zu sprechen, zu schreiben und unsere ganze Haltung straffer danach auszurichten.

Es versteht sich von selbst, dass dies nicht plump und plötzlich geschehen darf. – Wenn wir nur selber die richtige innere Einstellung dazu haben, wird es in absehbarer Zeit nicht bloss gelingen, durch unsere Haltung, was man mit Recht von uns erwartet, die Bevölkerung zu überzeugen, zu beruhigen und zu gewinnen, sondern auch etwaigen schwierigen Bewegungsmitgliedern, wenn nötig, den Kopf zurechtzusetzen. Ganze Reihen von Fehlern, die in der letzten Zeit gemacht wurden, werden sich ganz von selber verunmöglichen.

Wenn jemand gegen meinen Vorschlag einwendet, es würde dann, wenn das Reich vielleicht doch eines Tages einen gewaltsamen Totalanschluss durchführen sollte, unangenehm und schwierig sein, dies den Leuten wieder beizubringen, so ist dies nicht stichhältig. Ein solches Ereignis ist nämlich an sich von uns völlig unabhängig, entzieht sich unserer Verantwortung und könnte auch dann eintreten, wenn es in Liechtenstein gar keine Nationalsozialisten gäbe.

Auch der Vorwurf, nicht auf dem Boden von Punkt 1 der 25 Punkte, welcher den Zusammenschluss aller Deutschen fordert, [6] zu stehen, lasse ich nicht gelten. Ganz abgesehen von anderen Dir wohl bekannten Gründen, liegt es zu sehr auf der Hand, dass Liechtenstein in vielfacher Hinsicht einen Sonderfall darstellt und dass sowohl der Führer als auch der Pg [Parteigenosse] [Gottfried] Feder bei der Abfassung des NSDAP-Programmes schwerlich die Zerstörung der politischen Selbstständigkeit des Fürstentums Liechtenstein im Auge gehabt haben. Es ist durchaus berechtigt zu sagen, der Zusammenschluss der liechtensteinischen Deutschen mit ihrem Muttervolke sei durch die Einführung des Nationalsozialismus in Liechtenstein hinreichend gewährleistet. – Dass wir inzwischen hier als Deutsche und Nationalsozialisten vollauf unsere Pflicht erfüllen, zeigen wir am besten durch den Geist und die Zahl derer, die aus unseren Reihen zur deutschen Wehrmacht stossen.

Selbst angenommen, dass einer unter uns wäre, der einen Totalanschluss noch während des Krieges herbeizuführen wünschte, so dürfte es sich der Betreffende in Anbetracht der hinlänglich festgelegten Haltung des Reiches auf diesem Gebiete immerhin wohl überlegen, das von mir Vorgeschlagene als eine angesichts der hiesigen Lage zweifellos gut brauchbare Arbeitshypothese ohne wirklich triftige Gründe einfach von der Hand zu weisen.

Soferne nicht ganz schwerwiegende, mir nicht bekannt gewordene Umstände vorliegen, die dagegen sprechen, so könnte die im Vorstehenden gemachte Anregung, meiner Ansicht nach, auch sehr wohl ganz im Sinne des Reiches gelegen sein; nach den jüngst gemachten Erfahrungen vielleicht ebensosehr wie die bisherige Haltung.

Denn es ist zwar, wenn auch nur theoretisch, wohl möglich, einen sofortigen Totalanschluss zu erzwingen. Und es ist andererseits, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch unbedingt möglich, die liechtensteinische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Nur etwas ist nicht möglich, nämlich beides zugleich. Wer beiden Hasen nachläuft, wird gar keinen fangen.

Diese Erwägungen gelten weitgehend unabhängig von allen Ereignissen ausserhalb der Grenzen unseres Landes, weil wir nämlich hier unsere Aufgabe im Wesentlichen unbedingt selbst und auf uns selbst gestellt zu erfüllen haben.

Lieber Dr. Goop, ich weiss, wie sehr Dir unsere Sache am Herzen gelegen ist. Heute schon können wir den soeben erlittenen Rückschlag, der sicherlich nichts weniger als tragisch zu nehmen ist, im Keime zu einem heranwachsenden Siege gestalten. Beschränken wir uns ausschliesslich auf unsere eigentliche, einzige und wesentliche Aufgabe, unser Völklein für den Nationalsozialismus zu gewinnen, eine Aufgabe, wahrlich gross genug und unseres ganzen Einsatzes wert! Lassen wir vor diesem einen Ziel streng alles andere, was für uns zweitrangig und drittrangig zu sein hat, zurücktreten. Überlassen wir wirklich alles andere dem Fürsten und dem Führer.

Dann wird sich auch so mancher Herzenswunsch am schönsten erfüllen, und zwar so, dass es nachher keine Enttäuschung gibt.

Heil Hitler!

Dein getreuer

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[1] LI LA J 007/S 078/358/001/E. Goop versteckte das Schreiben zusammen mit anderen Schriften in seiner Wohnung, wo sie, nachdem er sich im März 1943 zur Waffen-SS gemeldet hatte, vom Nachmieter entdeckt wurden. Dieser stellte die Dokumente den schweizerischen Behörden zur Verfügung, die Fotokopien davon anfertigten. Im Oktober 1945 vernichtete er einige ihm unwichtige scheinende Dokumente, die übrigen übergab er im Dezember 1945 der liechtensteinischen Polizei (LI LA J 007/S 078/358/003).
[2] Am 24.3.1941, dem zweiten Jahrestag des Putschversuchs, kam es in Schaan zu einem Auflauf, da das Gerücht kursierte, die Volksdeutsche Bewegung plane einen erneuten Putschversuch (LI LA J 007/S 074/059 (a), Haftanzeige, 25.3.1941).
[3] Alfons Goop veröffentlichte im "Umbruch" einen die Frontseite füllenden Aufruf, in dem er den "Kameraden" für ihr "hervorragendes Verhalten während der vergangenen Tage" dankte und dazu aufrief, weiter zu "Gesetz und Recht" zu halten (Umbruch, Nr. 31, 2.4.1940, S. 1 ("An alle Mitglieder der Volksdeutschen Bewegung")).
[4] Mit Verordnung vom 29.3.1941 verbot die Regierung "politische Provokationen jeder Art in Zeitungen oder sonstwie in der Öffentlichkeit" (LGBl. 1941 Nr. 10).
[5] Nach dem Auflauf in Schaan wurden Martin und Kaspar Hilti, Brüder von Gottfried und Eugen Hilti, wegen "gefährlicher Drohung und Tragens verbotener Waffen" kurzzeitig inhaftiert.
[6] Vgl. das "25-Punkte-Programm der NSDAP" vom 24.2.1920, gedr. in: Walther Hofer (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, überarb. Neuausg., Frankfurt a.M. 1982, S. 28-31.