Überlegungen zur Einführung des Proporzwahlrechts 1939 sowie zur Märzkrise 1938


Notizen, vermutlich von Regierungschef Josef Hoop [1]

o.D. (Herbst 1938 - Januar 1939)

I. Politik ist Kampf um Wohl und Weh des Staates und des Volkes, das Ziel kann und darf immer nur dasselbe sein.

Die Wege sind verschieden, aber alle wollen dasselbe Ziel erreichen,

die Staatsaufgabe für unsere Heimat und unser Volk erfüllen.

II. Aufgaben des Staates sind neben den ideellen und kulturellen Aufgaben, die durch die Erziehung des Volkes erreicht werden, die möglichst gute Lebensgestaltung des Staates selbst, der Gemeinden und des gesamten Volkes,

Arbeiter, Verdienst und Brot, Gewerbe rege Tätigkeit, Bauernschaft Unterstützung ihrer Kraft durch Verbesserungen und Subventionen usw.

Um diese Aufgaben in Liechtenstein zu erreichen, brauchen wir in erster Linie und immer wieder Ruhe und Ordnung und Vertrauen zu den Behörden, die das Volk sich ja selbst gibt und geben wird.

III. Zu verschiedenen Malen stand Einführung des Proporzgesetzes auf der Tagesordnung, jeweils verlangten ihn die Minderheitsparteien und die Mehrheitsparteien waren dagegen und so wurde der Proporz vom Volke verworfen. [2] Keine gegenseitigen Anwürfe. Bürgerpartei hat verlangt und Volkspartei abgewiesen und Vaterländische Union hat verlangt und Bürgerpartei abgewiesen. Die Minderheitsparteien sahen je und je im Proporz ein wesentliches Mittel zur Befriedigung des Volkes und waren sich wohl auch darüber klar, dass es kein Ideal sei, aber unter den gegebenen Umstände das Beste.

Warum nun heute alle, d.h. beide Parteien, dafür und früher dagegen.

  1. Mängel des Proporzes:
    a) Parteibildung,
    b) Gefahr keiner lebensfähigen Regierung,
    c) kleine Partei das Zünglein an der Waage,
    d) infolgedessen rücksichtslose Verpolitisierung der Verwaltungs- und Regierungstätigkeit.
  2. Diese Mängel können und sind im Entwurf [3] nach besten Möglichkeiten bekämpft worden dadurch, dass diese Gefahren ausgeschaltet werden und die Vorteile des Proporzes in Erscheinung treten:
    a) verhältnismässig gerechte Vertretung,
    b) Befriedung unter den Parteien und Bürgern,

infolgedessen zu verantworten, weil eben die Hauptmängel des Proporzes behoben worden sind.

IV. Verständnis für die Einführung des Proporzes aus März Ereignissen und deren Rückwirkung auf Liechtenstein.

a) Psychose,

b) Strom in Feldkirch,

c) Hitler-Gruss, Hitler-Fahnen, Hakenkreuzbrennen und Schiessen, Hitler-Bilder, Reisen nach Deutschland.

d) Sprüche von Feldkirchern und einzelner Funktionäre.

e) Gerüchte: Versammlung Tisis, Kündigung des Zollvertrages u.s.w. [4]

f) Folgen der Gerüchte:

Wegzug von Geldern bei der Sparkasse und Bank in Liechtenstein.

Wegzug der Holdinggesellschaften.

Wegzug von Steuerträgern.

Nervosität in Bern

Besprechung vom 16. März in Bern. [5]

g) Einstellung Berns lebenswichtig wegen:

    a) finanziellen Gründen

    b) Arbeiter-Einreise etz.

h) zur Beruhigung Berns Regierungs- und Landtagserklärung über Festhalten an der Unabhängigkeit und Selbständigkeit und Befriedigung und Festigung der Verhältnisse im Innern. [6]

Es mussten

  1. die Parteikämpfe gemildert, das Auseinanderstreben der Kräfte verhindert, die Bekämpfung der Arbeit der Regierung durch eine Opposition hintangehalten werden. Alle, denen die Heimat lieb ist, mussten für deren Erhaltung zusammenstehen.
  2. die Behörden mussten sich nach aussen hin und nach innen einhellig auf den Boden der Selbständigkeit und Unabhängigkeit stellen und es durfte auch nicht ein massgebendes Behördenmitglied oder ein massgebender Volksvertreter sich abseits halten und eigene Wege gehen.

Hinter den Behörden erwartete die Schweiz auch das Volk von Liechtenstein, weil es nach unseren freiheitlichen Rechten selber über sein Schicksal bestimmen kann, mit anderen Worten, es musste Friede gemacht werden. Die Führer der Parteien mussten zu diesem Frieden stehen und das Volk sollte ihnen folgen.

V. Friedensverhandlungen.

siehe Protokolle. [7]

VI. Landtagssitzung vom 30. März 1938. [8]

a) Umbildung der Regierung

b) feierliche Erklärung

c) Wirkung dieser Erklärung in Bern höchst beruhigend, in Berlin und der übrigen Welt abklärend.

VII. Abmachungen durchgeführt.

a) Hipo [Hilfspolizei] umgebildet. [9]

b) Angehörige der Union wurden bei Neueinstellungen berücksichtigt.

  1. Landeskasse
  2. Postlehrlinge
  3. Briefmarkenverschleisser
  4. Berücksichtigung als Vorarbeiter

c) andere Forderungen wurden fallen gelassen:

  1. Arbeitsamt
  2. Personaländerungen Post Vaduz
  3. Trennung von Post und Telefon Vaduz
  4. Automatisierung.

VIII. Jetzt noch Proporz

a) Definierung

b) nochmalige Beurteilung.

c) Eliminierung der Schwächen, z.B. Parteibildung

Wertvollster Vorzug: Stille Wahl.

  1. Definierung derselben
  2. Vorzüge (kein Kampf, keine Beunruhigung im Ausland, Entspannung im Inland, Steigerung des Ansehens wegen Einigkeit, Berücksichtigung der Gemeinden, Berücksichtigung der Stände).

d) Dringlichkeit.

______________

[1] LI LA RF 180/443/002/017. Am Anfang des Textes findet sich der handschriftliche Titel: "Proporz-Einführung 1939".
[2] 1929 lancierte die Volkspartei eine Verfassungsinitiative zur Einführung des Proporzwahlrechts bei Landtagswahlen. Diese wurde vom Volk am 2.3.1930 verworfen. 1935 folgte die Verfassungsinitiative der Volkspartei und des Liechtensteiner Heimatdienstes betreffend die Einführung des Proporzwahlrechts und einer berufsständischen Volksvertretung, welche vom Volk am 30.5.1935 abgelehnt wurde.  
[3]  Am 11.1.1939 stimmte der Landtag einstimmig der Einführung des Proporzwahlrechts zu. Ferner wurde die Möglichkeit von "stillen Wahlen" und eine Sperrklausel von 18 % eingeführt (LI LA LTP 1939/015). Vgl. das Gesetz vom 18.1.1939 betreffend Abänderung von Art. 46, 47, 49 und 53 der Verfassung vom 5.10.1921, LGBl. 1939 Nr. 3, sowie das Gesetz vom 18.1.1939 über die Einführung des Verhältniswahlrechtes, LGBl. 1939 Nr. 4.
[4] Am Abend des 13.3.1938 versammelten sich Mitglieder der Vaterländischen Union im vorarlbergischen Tisis. Beeindruckt von der Anschlussstimmung in Vorarlberg sprachen sie sich für die Kündigung des Zollvertrages mit der Schweiz aus. 
[5] Protokoll der liechtensteinisch-schweizerischen Konferenz vom 16.3.1938 im Eidgenössischen Politischen Departement (LI LA RF 179/130/022-025). 
[6] Vgl. den Landtagsbeschluss vom 15.3.1938 (LI LA LTP 1938/010) und das Pressetelegramm der Regierung und der Vaterländischen Union vom 26.3.1938 (LI LA RF 179/130/027). Vgl. ausserdem das Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 30.3.1938 (LI LA LTP 1938/051).
[7] Vgl. z.B. das Protokoll der Besprechung zwischen der Vaterländischen Union und der Bürgerpartei vom 18.3.1938 (LI LA RF 179/130/013).
[8] Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 30.3.1938 (LI LA LTP 1938/051).
[9] Vgl. etwa das Schreiben der Regierung an die Hilfspolizisten vom 8.8.1938 (LI LA RF 182/128/005).