Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz weist die Beschwerde von Friedrich Bock gegen die Wegweisungverfügung ab


Entscheidung der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, gez. Johannes Fäh [1]

11.12.1945

Entscheidung

(Art. 82, 101 LVG) [2]

Die fürstlich liechtensteinische Verwaltungsbeschwerdeinstanz

hat in ihren Sitzungen vom 12./24. November, 4. und 11. Dezember 1945, an welchen anwesend waren die Herren:

Präsident: Dr. J. [Johannes] Fäh,

Rekursrichter: Rudolf Matt, Mauren, Louis Brunhart, Balzers,

Schriftführer: A. [Alois] Beck,

in der Verwaltungssache des

Dr. Bock Friedrich, geb. 1899 in Lüneburg, Direktor der Zahnfabrik Ramco, Deutscher Reichangehöriger, wohnhaft in Vaduz,

betreffend

Wegweisungsverfügung der fürstl. Regierung vom 11. Juli 1945, zugestellt am 13. Juli 1945, [3]

nach durchgeführter mündlicher Verhandlung, Zeugen- und Parteieinvernahme und Prüfung der Akten

entschieden:

Spruchverfügung:

  1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
  2. Der Rekurrent bezahlt an die Kosten des Beweisverfahrens den Betrag von Fr. 5.-, sowie eine Verwaltungsgebühr von Fr. 400.-.

Tatbestand und Entscheidungsgründe:

  1. Der Rekurrent kam vor ca. 20 Jahren in das Fürstentum Liechtenstein und übernahm hier die Leitung der Zahnfabrik Ramco in Schaan. Durch seine kaufmännischen Erfolge brachte er das Geschäft zur Blüte und erwarb sich Wohlstand. Er hatte den Weltkrieg 1914/18 als preussischer Offizier mitgemacht. Sein Auftreten erinnert heute noch daran. Seine Ehefrau, Lore geb. Hauschild, ist gebürtige Liechtensteinerin. Aus der Ehe stammen 2 Töchter im Alter von 15 und 18 Jahren.
  2. Am 1. Juli 1933 wurde der Rekurrent als Mitglied No. 1'789'831 in die NSDAP aufgenommen. Durch Bestallungsurkunde vom 11. Juli 1939 wurde er von Gauleiter E. [Ernst Wilhelm] Bohle zum Ortsgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in Liechtenstein ernannt, [4] nachdem er vorher schon an Parteiversammlungen und Schulungsabenden referiert hatte. Der Rekurrent wurde in den Korrespondenzen des frühern Ortsgruppenleiters [Karl] Hohmeier aus den Jahren 1938/39 als Schulungsleiter bezeichnet. [5] Der verstorbene Landesgruppenleiter der Schweiz, W. [Wilhelm] Gustloff, äusserte sich i.J. 1933 äusserst lobend darüber, dass sich der Rekurrent als "unermüdlicher Vorkämpfer für unsere Bewegung ... über das Mass des zu Erwartenden hinaus sich einsetzt." [6] Der Nachfolger, Freiherr [Hans Sigismund] von Bibra, anerkennt die grosse Einsatzbereitschaft des Rekurrenten. [7] Der letzte Landesgruppenführer endlich, [Friedrich Wilhelm] Stengel, verkündete anlässlich der Demission des Rekurrenten an einer Parteiversammlung: "Ich habe Dr. Bock als Kameraden kennen gelernt, mit dem man Pferde stehlen könnte." [8] Der Rekurrent übte seine Funktion als Ortsgruppenleiter bis Herbst 1944 aus. Seit der Gründung der deutschen Kolonie in Liechtenstein stand er dieser ebenfalls als Leiter vor.
  3. Am 11. Juli 1945 beschloss die (frühere) fürstl. Regierung, den Rekurrenten anzuweisen, das Fürstentum Liechtenstein bis 31. August 1945 zu verlassen. Die fürstliche Regierung begründete ihre Massnahme mit der Stellung und Tätigkeit des Rekurrenten als Ortsgruppenleiter der NSDAP. Aus den Akten der fürstl. Regierung und der Parteieinvernahme vom 10. Juli 1945 [9] ergibt sich ferner, dass dem Rekurrenten politischen Druck auf Reichsdeutsche, bes. Wehrmachtsaufgebotene, politischen Druck auf die fürstl. Regierung und Landtagsabgeordnete zur Verhinderung von Einbürgerungen, sowie verbotenen Nachrichtendienst vorgeworfen wird. Die Wegweisungsverfügung bezieht sich nicht auf Frau und Kinder, sie enthält keine Rechtsmittelbelehrung.
  4. Gegen diese Verfügung hat der Rekurrent am 20. Aug. 1945 Rekurs eingereicht und seine Rekursschrift später durch mehrere umfangreiche Eingaben ergänzt, [10] die im Wesentlichen wie folgt zusammengefasst werden können:
    Der Rekurrent gibt zu, von der (früheren) fürstl. Regierung auf die bevorstehende Wegweisung aufmerksam gemacht worden zu sein und dannzumal erklärt zu haben, er wolle das Land am 31. Aug. 1945 freiwillig verlassen. Voraussetzung dieser Erklärung sei bei ihm jedoch gewesen, dass gegen ihn keine Sanktionen, wie Wegweisungsverfügung oder Einreisesperre, erlassen werden. Nachdem dies nun geschehen sei, halte er sich an seine Erklärung nicht mehr gebunden.
    Die Wegweisungsverfügung wird als Unrecht angefochten: Der Rekurrent habe sein Amt als Ortsgruppenleiter immer korrekt ausgeübt. Er habe als Leiter keine Einmischung seiner Mitglieder in die innenpolitischen Verhältnisse des Gastlandes geduldet. Er habe seine Stellung zu Gunsten des Landes ausgenützt, er habe der Regierung zahlreiche Dienste erwiesen und sich um das Land verdient gemacht. Die frühern Regierungschefs hätten ihm ihre Dankesschuld bestätigt. [11] Die Wegweisungsverfügung stehe im Gegensatz zu diesen Erklärungen und er könne sich und seiner Ehre eine solche Behandlung nicht bieten lassen. Er sei heute noch bereit, das Land freiwillig zu verlassen, wenn zuerst die Wegweisung aufgehoben werde. Er beruft sich auf den Entscheid des Schweiz. Bundesrates vom 3. Aug. 1945 in der Ausweisungssache [Johannes] Fritzsche, Schindellegi. [12] Auch er habe sein Amt im Einvernehmen mit der fürstlichen Regierung übernommen und ausgeübt; seine Tätigkeit sei als im Interesse des Landes liegend bezeichnet worden.
    Den Vorwurf der verbotenen Nachrichtentätigkeit gegen das Land oder seine Bewohner weist er mit aller Entschiedenheit als unwahr zurück. Von der Existenz einer Personalkarte als V-Mann in der Sichtkartei der Gestapostelle Innsbruck habe er keine Kenntnis gehabt, [13] ebenso wenig davon, dass er in Feldkirch und Innsbruck eine Deckzahl gehabt habe. Er habe mit der Gestapo in Feldkirch nur aus geschäftlichen Gründen oder aber hauptsächlich im Auftrage der fürstl. Regierung verkehrt zwecks Bereinigung von Differenzen in der Gegenzeichnung von Grenzkarten. Er bestreite, irgendjemanden denunziert zu haben.
    Der Rekurrent bestreitet, irgendeinen politischen Druck auf Reichsdeutsche oder Wehrmachtsaufgebotene ausgeübt zu haben. Er habe die Wehrmachtsaufgebotenen lediglich auf die Folgen ihres Verhaltens im Falle des Nichteinrückens aufmerksam gemacht. In der Sache [Otto] Ruther habe er mit der fürstlichen Regierung nie verhandelt. [14] Auch in Refraktär-Angelegenheiten habe er nur das Beste des Landes gewollt, das er darin erblickte, dass die fürstl. Regierung Schwierigkeiten, die sich aus der Begünstigung von Refraktären ergeben könnten, auswich und während des Krieges Einbürgerungen von Wehrmachtspflichtigen unterliess.
  5. Trotzdem von der Zustellung der Wegweisungsverfügung an bis zur Beschwerdeeinreichung mehr als Monatsfrist verstrich, ist auf die Beschwerde gemäss Art. 85 Abs. 3 LVG einzutreten, da die Rechtsmittelfrist mangels Rechtsmittelbelehrung nicht zu laufen begonnen hatte.
  6. Gemäss den durch die (frühere) fürstliche Regierung von der Schweiz. Bundesanwaltschaft im Juni 1945 übernommen und vom Landtag am 18. Sept. 1945 genehmigten Grundsätzen sind auszuweisen: "3. Ortsgruppenleiter." [15] Der Rekurrent war in dieses Amt offiziell eingesetzt und hat es während Jahren ausgeübt. Die Tatsache der innengehabten Stellung als Ortsgruppenführer genügt allein; es braucht an sich gar keiner weiteren Beweise. Demzufolge ist die Wegweisungsverfügung zu Recht erfolgt.
  7. Die vom Rekurrenten vorgebrachten Einreden, vor allem die Behauptung, die Wegweisung sei ein Unrecht, da ihm das Land Dank schulde, zwingen die Beschwerdeinstanz, die Untersuchung weiter auszudehnen.
    Der Rekurrent hatte offenbar die politische Notwendigkeit einer Säuberung selber eingesehen, als er früher erklärte, freiwillig zu gehen. Er konnte sich wahrscheinlich der Erkenntnis nicht verschliessen, dass sowohl die deutsche Kolonie in Liechtenstein wie auch die Ortsgruppe der NSDAP Organisationen waren, deren Existenz und Tätigkeit im Gastland völkerrechtlich einen Eingriff in die Souveränität des Gastlandes und staatsrechtlich einen Angriff auf verfassungsrechtlich garantierten freiheitlichen Institutionen des Fürstentums bedeuteten. Die deutsche Kolonie war eine Zwangsorganisation der Reichsdeutschen, der anzugehören hatte, wer seine Ausweispapiere nicht verlieren wollte. Zweck dieser Organisation war nicht bloss die zwangsmässige Erfassung sämtlicher Reichsdeutscher zur Vermehrung von Macht und Einfluss im Ausland, sondern auch Propaganda für das Hitler-Regime und seine Machtpolitik im neuen Europa. In dieser Zwangsorganisation gab es nicht etwa freie Meinungen für oder gegen [Adolf] Hitler und seine Innen- und Aussenpolitik, sondern nur politische Unterordnung. Damit wurden zahlreiche Reichsdeutsche gezwungen, sich im demokratischen Liechtenstein zu einem politischen System zu bekennen, dem sie politisch, weltanschaulich und aus religiöser Überzeugung fremd und ablehnend gegenüber standen. Propaganda für Hitler und seine Politik im nachbarlichen Kleinstaat bedeutete aber gleichzeitig Unterminierung des staatlichen Selbstbehauptungswillen in Regierung und Volk des Gastlandes und damit unbefugte Einmischung. Es sage doch kein einziger Amtswalter der deutschen Kolonie oder der NSDAP, er habe keinen unzulässigen Druck ausgeübt und sich nicht in die Verhältnisse des Gastlandes eingemischt oder keine Propaganda gemacht! Im ganzen System, in dem er aktiv und führend mitgemacht hat, lag der Zwang, der Druck, die Einmischung begründet. Dabei bestand zwischen der Zwangsgemeinschaft der deutschen Kolonie und der Parteigliederung gar kein Unterschied in der Führung und Zielsetzung.
    Der Ortsgruppenführer und die ihm unterstellten lokalen Leiter der NSDAP waren im reichsdeutschen Rechtssinne Amtswalter und wurden richtigerweise auch so genannt, sie übten gemäss "Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat" vom 1. Dez. 1933 (Reichsgesetzbl. I S. 1016) öffentlichrechtliche Amtsfunktionen aus, und zwar ohne Befragung und Genehmigung der fürstl. Regierung. Ihre Wirksamkeit im Gastlande war daher staats- und völkerrechtswidrig und gemäss Art. 1 des Sicherheitsgesetzes vom 17.3.1937 (LGBl. 1937 No. 3) ausserdem strafbar. Diese Amtswalter der deutschen Kolonie begutachteten nach politischen Gesichtspunkten Sichtvermerksanträge ihrer Volksgenossen, die Erneuerungsgesuche für Ausweisschriften, sowie Unterstützungsgesuche. Sie führten Verhöre und Verfahren gegen ihre Volksgenossen durch und mischten sich in deren Berufstätigkeit und Privatleben ein. Sie bildeten mit ihren Amtswaltertagungen eine eigentliche Nebenregierung im Gastlande, die sich in allen Fragen, die Reichsdeutsche betrafen, in erster Linie mitzureden, über politische Gesinnung zu urteilen und über Schicksale zu entscheiden befugt fühlten. Der Rekurrent war der unbestrittene Führer und Exponent dieser Nebenregierung. Im Kleinstaat Liechtenstein mit seinen vielen Ausländern, von denen zahlreiche dem Lande durch Heirat und jahrzehntelangen Aufenthalt wohl völlig assimiliert, aber nicht eingebürgert waren, musste sich diese Nebenregierung der zwangsorganisierten Reichsdeutschen doppelt empfindlich bemerkbar machen. Wenn nun heute, da der unerhörte Druck des Hitler-Regimes auf die Nachbarländer weggefallen ist, die fürstliche Regierung diese ungerufene und illegitime Nebenregierung und die Personen, die ihr angehört haben, entfernt, so entspricht dies dem politischen Selbsterhaltungswillen und dem natürlichen Bedürfnis nach Ordnung und Sauberkeit.
  8. Nach diesen allgemeinen Erwägungen ist nun auf die einzelnen Einreden des Rekurrenten einzugehen. Das Beweisverfahren und die Prüfung der Akten haben Folgendes ergeben:
    a) Im Falle Fritzsche, Schindellegi, hat der schweiz. Bundesrat die Ausweisung deshalb aufgehoben, weil der kant. Polizei-Kdt. den Fritzsche auf Befragen hin zur Übernahme einer politischen Funktion ermuntert hatte. Der Rekurrent kann für sich nichts Derartiges anführen. Kein früherer Regierungschef erinnert sich daran, dass der Rekurrent ihn vor Übernahme des Amtes befragt, oder dass er den Rekurrenten zur Übernahme ermuntert habe. Es erscheint dem Rekursgericht auch als ganz ausgeschlossen, dass der Rekurrent vor Amtsübernahme viel nach der Meinung der fürstl. Regierung gefragt habe. Die Berufung auf das Präjudiz Fritzsche geht daher fehl. Abgesehen davon entscheidet die fürstliche Regierung in der Ausweisung und im Verfahren gemäss Art. 8 lit. b der Vereinbarung Liechtenstein/Schweiz betr. die Regelung der fremdenpolizeilichen Beziehungen vom 23. Jan. 1941 (LGBl. 1941 No. 4) frei. Dagegen hat die Art, wie der Rekurrent der fürstl. Regierung die Legitimation, ihn auszuweisen, absprach, der Beschwerdeinstanz eine ungefähre Vorstellung darüber vermittelt, wie es früher etwa zugegangen sein könnte.
    b) Richtig ist, dass der Rekurrent unter dem Partei- und Kolonievolk seine Autorität durchzusetzen vermochte. Es herrschte insofern Ordnung in der Kolonie, als die Reichsdeutschen unter seiner Führung - im Gegensatze zu seinen Vorgängern - die Strasse den liechtensteinischen Nazionalsozialisten überliessen. Diese Nichteinmischung war dem Rekurrenten von oben herab vorgeschrieben; sie bedeutete auch gar nicht Verzicht auf Propaganda. Selbstverständlich musste es der Führung und einem so autoritär veranlagten Manne, wie dem Rekurrenten, lästig sein, wenn irgendein Mitläufer Politik auf eigene Faust machte. Dieses Einmischungsverbot war aber doch weitgehend Tarnung. Aus den Akten ergibt sich, dass enge Beziehungen zwischen Partei– bezw. Kolonieleitung zur Leitung der Volksdeutschen Bewegung in Liechtenstein (VDBL) bestanden; [16] ebenso hatte die Kolonieleitung Einfluss auf Inhalt und Gestaltung des "Umbruch", der Rekurrent begutachtete sogar Einsendungen von reichsdeutschen Mitarbeitern. Wenn nun der Rekurrent sich auf einen Ausspruch des früheren Regierungschefs beruft: er sei glücklich, dass Dr. Bock die Leitung der Kolonie in Händen habe, so besagt das nach den Zeugenaussagen des gleichen Regierungschefs nur, dass, wenn schon eine Ortsgruppe der NSDAP und der deutschen Kolonie geduldet werden musste, die Dinge bei einem andern, wie etwa beim Vorgänger [Georg] Grünewald, schlimmer gestanden wären und ein anderer zu wenig Autorität gehabt hätte. Es waren ja gerade die Strassenaufläufe, die der fürstl. Regierung eine Zeitlang Sorgen bereiteten.
    c) Der Rekurrent macht weiter geltend, er habe seine Stellung wiederholt zu Gunsten des Landes eingesetzt, er habe Missverständnisse zwischen Regierung und deutschen Stellen beseitigt, Falschmeldungen richtig gestellt und in verschiedener Hinsicht interveniert. Das bestätigte auch der frühere Regierungschef, der sich dem Rekurrenten gegenüber dafür dankschuldig fühlt.
    Dazu ist einmal zu bemerken, dass es die gleichen Regierungsmitglieder waren, welche dem Rekurrenten dies heute bezeugen, die trotzdem seine Ausweisung beschlossen haben. Dabei wird ausserdem übergangen, um welchen Preis diese Dienste geleistet wurden, nämlich um den Preis der zwangsweisen Duldung dieser Nebenregierung und des Eingriffes in die Souveränität des Landes und die Freiheitsrechte der Bewohner.
    Der Rekurrent war, wie sich der frühere Regierungschef ausdrückte, der liechtensteinische Vertreter des deutschen Generalkonsulates in Zürich. Dieses hatte sich (wie der frühere Regierungschef mitteilte), besonders unter Generalskonsul Dr. [Hermann] Voigt, wiederholt weit über das völkerrechtlich zulässige Mass hinaus in die inneren Verhältnisse Liechtensteins eingemischt. Der Rekurrent hat nun jahrelang solche Interventionen auftragsgemäss besorgt. Hinter diesen Interventionen stand das nazionalsozialistische Grossdeutschland mit seinem ganzen politischen Terror den Nachbaren gegenüber und mit seinen vielen Möglichkeiten, das Land wirtschaftlich zu schädigen. Dementsprechend gross war beim Verhandlungspartner Liechtenstein die Angst vor wirtschaftlichen Repressalien und die Sorge um die Zukunft und Selbständigkeit des Landes. Die Erinnerung an den österreichischen Nachbarstaat war noch zu lebendig. In dieser Situation bildet die Frage, wie die Einmischungen erfolgten, nicht die Hauptsache, sondern das ist höchstens eine Frage des graduellen "Verschuldens". Dass aber der Druck und die Einmischung, die mit Hilfe des Rekurrenten ausgeübt wurden, unerhört und völkerrechtswidrig waren, mag an folgenden zwei, im Beweisverfahren abgeklärten Beispielen dargetan werden:
    aa. Als sich zwei durch jahrzehntelangen Aufenthalt und Heirat assimilierte reichsdeutsche Familienväter einbürgern und damit auch dem Heeresdienst entziehen wollten, war es der Rekurrent, der sowohl beim Regierungschef, wie bei einem Fraktionsvorsitzenden des Landtages [17] dagegen vorstellig wurde. Es ist der Verwaltungsbeschwerdeinstanz bekannt, dass die Regierung diese Einbürgerungsgesuche dem Landtage dann vorlegte und mit Rücksicht auf die erfolgte Intervention die derzeitige Ablehnung befürwortete. [18] Gleichzeitig publizierte der Drucker des "Umbruch" [Ulrich Göppel] gegen diese Einbürgerungsangelegenheit einen Aufsatz, worin die Bewerber als "Schweinehunde" betitelt werden, "die Tausende für einen Schein zahlen, der ihnen in Wirklichkeit nur Schande und Verachtung von Volksgenossen und Umgebung bringt". Dem Rekurrenten hat dieser Artikel über das liechtenst. Bürgerrecht zur Vorprüfung vorgelegen, er hat gegen die Publikation keinen Einspruch erhoben. [19]
    bb. Der von einem liechtensteinischen Vater abstammende, hier a.e. [ausserehelich] geborene und aufgewachsene reichsdeutsche Familienvater Otto Ruther war der erste Refraktär. Das deutsche Generalkonsulat hatte die fürstl. Regierung wissen lassen, dass es nicht dulden könnte, wenn sich in Liechtenstein ein Refraktären-Nest bilde. Die fürstliche Regierung beschloss, die Refraktäre gleich zu behandeln, wie die Schweiz. In der Sache Ruther intervenierte der Rekurrent beim Regierungschef. Er war von [Fritz] Lehmann schriftlich aufgefordert worden, nunmehr "energisch durchzugreifen". [20] Das Resultat dieser Intervention war, dass eine Note des Regierungschefs nach Bern abging, worin die Auslieferung des in die Schweiz geflüchteten und dort internierten Ruther zwecks Auslieferung nach Deutschland verlangt wurde. [21] Auf Veranlassung der fürstlichen Regierung verlor Ruther gleichzeitig seine gut bezahlte Anstellung bei der "Presta" und erhielt bloss mehr Arbeitsbewilligung für die Landwirtschaft. [22] Ruther war längere Zeit arbeitslos. Damit war Liechtenstein in der Behandlung der Internierten bedeutend weiter gegangen, als die Schweiz. Wer die Verhältnisse nur einigermassen kennt, weiss, dass derartige, gegen die Tradition des Landes verstossende, verzweifelte Schritte nur unter allergrösstem Druck zustande kommen konnten.
    d) Nach dem Zusammenbruch Deutschlands wurde bei der Gestapostelle Innsbruck, bezw. beim dortigen Nachrichtenreferenten die vom 26.10.42 datierte Personalkarte des Rekurrenten mit der Deckzahl 2895 gefunden. Darin wird der Rekurrent als V-(Vertrauens-) Person des politischen Nachrichtendienstes bezeichnet und ausgesagt, er sei als V-Person seit 1938 im Dienste der Gestapostelle Feldkirch für die Gebiete Liechtenstein und Schweiz tätig. Als Sachgebiet sei ihm zugewiesen: "Ermittlungen des ausländischen ND in Liechtenstein und Schweiz". In einem Schreiben des Nachrichtenreferenten der Gestapostelle in Innsbruck an den Gestapo-Chef in Feldkirch [Karl Kriener] vom 20.5.44 wurde der Auftrag erteilt, über die VP 2895 englisch-amerikanische Zeitschriften beschaffen zu lassen. [23] Auch aus den einlässlichen Zeugeneinvernahmen des früheren Gestapopersonals ergibt sich einwandfrei, dass der Rekurrent der Gestapo allwöchentlich einen Besuch abstattete und Nachrichten überbrachte. [24] Aus den beim Rekurrenten beschlagnahmten Akten ergibt sich ferner, dass er vor der Einsetzung des Lehmann die Sichtvermerksanträge zu Handen des Generalskonsulates nach der politischen Einstellung des Gesuchstellers beurteilt hat, ebenso beurteilte die Kolonieleitung Gesuche um Erneuerung der Ausweispapiere. Alle diese mitunter recht arbeitsreichen Funktionen übten der Rekurrent und seine Mitarbeiter aus, ohne im Besitze konsularischer Rechtsmittel zu sein, sie handelten als Privatleute, ohne behördliche Bewilligung. Dabei konnten sie überhaupt nicht tätig sein, ohne sich fortwährend des verbotenen Nachrichten– und Spitzeldienstes schuldig zu machen (Art. 1 und 2 Sicherheitsgesetz vom 17.3.1937, LGBl. 1937 No. 3). Aus allen diesen aufgeführten Tatsachen ergibt sich, dass der Beweis des verbotenen Nachrichtendienstes als vollständig erbracht zu gelten hat.
    Der Rekurrent bestreitet nun seine häufigen Besuche bei der Gestapo in Feldkirch nicht, er behauptet aber, seine Besuche ausschliesslich im Dienste des Landes zur Bereinigung von Differenzen in der Ausstellung von Grenzkarten unternommen zu haben. Das Beweisverfahren hat ergeben, dass die fürstl. Regierung 1941/2 tatsächlich Schwierigkeiten hatte, weil die Gestapo die Gegenzeichnung von Grenzkarten für liechtensteinische Arbeiter an die Bedingung des Abonnements des "Umbruch", das Organs der VDBL, geknüpft, bezw. Nichtabonnementen die Gegenzeichnung verweigert hatte. Nachdem die Regierung erfolglos dagegen protestiert hatte, ersuchte sie den Rekurrenten, eine Vorprüfung der Grenzkartenbewerber vorzunehmen und die Fälle jeweils mit der Gestapo zu besprechen. Hier hatte nun die fürstliche Regierung dem Rekurrenten die in Art. 1 des Sicherheitsgesetzes vorgesehene Bewilligung erteilt. Hier leistete der Rekurrent tatsächlich Dienste für das Land. Diese Dienste nützten jedoch dem vom Rekurrenten als Ortsgruppenführer vertretenen politischen System vom sicherheitspolizeilichen Standpunkt aus viel mehr, als dem Fürstentum Liechtenstein. Im Beweisverfahren ist indes festgestellt worden, dass der Rekurrent seine wöchentlichen Besuche bei der Gestapo in Feldkirch auch noch fortsetzte, als er längst keine Grenzkarten mehr zu begutachten hatte. Für diese Besuche hat der Rekurrent keine glaubhaften Erklärungen vorbringen können.
    e) Es soll hier nicht bezweifelt werden, dass der Rekurrent der fürstlichen Regierung im Laufe des Krieges manche Schwierigkeiten beheben half. Es kann als bewiesen gelten, dass sich der Rekurrent gelegentlich auch für Juden eingesetzt hat und ihnen Dienste erwies. Aber diese Tatsachen werden von der übrigen Tätigkeit des Rekurrenten überschattet und reichen nicht hin, die Ausweisung als Unrecht oder als Unbilligkeit erscheinen zu lassen. Die Ausweisungsverfügung ist daher zu bestätigen.
  9. Der Antrag des Rekurrenten lautet ausschliesslich auf Aufhebung der Wegweisungsverfügung. Er hat keine Liquidationsfrist verlangt. Es wäre dazu auch zu sagen, dass seit der Mitteilung der Wegweisungsverfügung bis zur Zustellung dieses Entscheides, bezw. bis zum Vollzug, ohnehin 6 Monate vergehen, so dass der Rekurrent in dieser Zeit das Erforderliche vorkehren konnte.
    Dem rechtlichen Ausgang entsprechend trägt der Rekurrent seinen Anteil an die Kosten des Beweisverfahrens und bezahlt eine Verwaltungsgebühr, die dem beträchtlichen Zeitaufwand und der Stellung des Rekurrenten entsprechend festgesetzt wird.

Dieser Entscheid ist endgültig.

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[1] LI LA RF 230/478p (a). Die Entscheidung ging an die Regierung sowie an Bock.
[2] Gesetz vom 21.4.1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege (die Verwaltungsbehörden und ihre Hilfsorgane, das Verfahren in Verwaltungssachen, das Verwaltungszwangs- und Verwaltungsstrafverfahren) (LGBl. 1922 Nr. 24).
[3] LI LA RF 230/478p, Regierung an Bock, 13.7.1945.
[4] LI LA RF 230/478p.
[5] Hohmeier schlug 1939 die Ernennung von Bock zum Schulungsleiter vor (LI LA RF 230/478p, Karl Hohmeier an Vizekonsul Georg Böhme, 11.3.1939).
[6] LI LA RF 230/478p, Gustloff an Bock, 22.10.1933.
[7] LI LA RF 230/478p, Bibra an Bock, 4.8.1939.
[8] Diese Aussage machte Stengel beim Rücktritt von Bock als Leiter der Ortsgruppe 1944 (LI LA RF 230/478p, Parteieinvernahme von Bock, 12.11.1945). Die Äusserung Stengels wurde der Verwaltungsbeschwerdeinstanz hinterbracht durch Ulrich Göppel (LI LA RF 230/478m, Rekurs von Göppel gegen die Wegweisungsverfügung, 16.8.1945; LI LA RF 230/478m, Parteieinvernahme von Ulrich Göppel, 23.10.1945).
[9] LI LA RF 230/478p.   
[10] LI LA RF 230/478p, Rekurs gegen die Wegweisungsverfügung, 20.8.1945; LI LA RF 230/478p, Rekursergänzung, 20.9.1945; LI LA RF 230/478p, Antrag auf weitere Zeugeneinvernahmen, 26. 11.1945. Zum Standpunkt von Bock vgl. auch sein Plädoyer vom 11.12.1945 (LI LA RF 230/478p). 
[11] LI LA RF 230/478p (b), Zeugeneinvernahme von Alt-Regierungschef Josef Hoop, 24.11. 1945; LI LA RF 230/478p, Zeugeneinvernahme von Alt-Regierungschefstellvertreter Alois Vogt, 4.12.1945.  
[12] Der Bundesrat entschied am 3.8.1945, die Ausweisungsverfügung gegen Johannes Fritzsche, der Gemeinschaftsleiter der deutschen Kolonie im Kanton Schwyz und Mitglied der NSDAP war, aufzuheben, da Fritzsche nachweisen konnte, die Leitung der deutschen Kolonie mit Wissen und Willen der Schwyzer Behörden übernommen zu haben (Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die antidemokratischen Umtriebe (Motion Boerlin). Ergänzungen vom 25. Juli 1946, in: Bundesblatt 98 (1946), Bd. 2, S. 1085-1187, hier S. 1147f.
[13] LI LA RF 230/478p, Personalkarte Bock, 26.10.1942.
[14] Zum Fall Ruther vgl. unten Punkt 8b) II.
[15] LI LA LTP 1945/076.
[16] Vgl. LI LA RF 230/478p, Einladung zu einer Veranstaltung der VDBL-Ortsgruppe Vaduz am 31.12.1940; LI LA RF 230/478p, Martin Hilti, Führer der VDBL-Sportabteilung, an die Skiabteilungen, 14.1.1941; LI LA RF 230/478p, Hilti an Bock, 22.8.1941. 
[17] Es handelt sich um Otto Schädler (LI LA RF 230/478p, Parteieinvernahme von Bock, 10.71945).
[18] Der Landtag entschied am 12.3.1942 auf Antrag von Regierungschef Hoop, die Behandlung der Einbürgerungsgesuche von Albrecht Schuler und Konrad Gmeiner zu verschieben und den Standpunkt der deutschen Behörden zu erfragen (LI LA LTP 1942/020).  Sowohl Schuler wie Gmeiner zogen ihr Gesuch im April 1943 zurück (LI LA RF 211/081c/007; LI LA RF 211/152/005). 
[19] Ulrich Göppel schickte Friedrich Bock vermutlich im März 1942 einen Entwurf zu einem Artikel über die Einbürgerungsgesuche von Schuler und Gmeiner (LI LA RF 230/478p, "Es ist für mich eine Ehre, ein Deutscher zu sein!", undatiert und ungezeichnet; LI LA RF 230/478p, Begleitschreiben von Göppel an Bock, undatiert). Der Text erschien aus unbekannten Gründen nicht im "Umbruch".  
[20] LI LA RF 230/478p, Lehmann an Bock, 12.10.1942.
[21] Laut Ferdinand Nigg und Alois Vogt wurde, nachdem Ruther am 6.2.1943 in die Schweiz geflüchtet war, ein von Josef Hoop unterzeichnetes Schreiben bzw. eine Note nach Bern gesandt, in dem die Rückschaffung Ruthers nach Liechtenstein verlangt wurde, um ihn nach Deutschland ausliefern zu können. An einen diesbezüglichen Regierungsbeschluss konnten sich beide nicht erinnern (LI LA RF 230/478p, Johannes Fäh an Alexander Frick, 27.11.1945; LI LA RF 230/478p, Zeugeneinvernahme von Alois Vogt, 4.12.1945). Hoop selbst behauptete, nichts von einem solchen Schreiben zu wissen (LI LA RF 230/478p (b), Zeugeneinvernahme von Hoop, 24.11.1945. Es konnte weder im Liechtensteinischen Landesarchiv noch im Schweizerischen Bundesarchiv aufgefunden werden. In den Regierungsprotokollen findet sich kein Hinweis auf einen entsprechenden Regierungsbeschluss.
[22] Ruther wurde Ende Oktober 1943 auf Veranlassung der Regierung bei der Presta entlassen (LI LA RF 221/198/001; LI LA RF 219/287, Regierung an Arbeitsamt, 1.10.1943; LI LA RF 219/287, Arbeitsamt an Regierung, 26.10.1943; LI LA RF 230/478p, Zeugeneinvernahme von Otto Ruther, 24.11.1945, LI LA RF 230/478p, Ruther an Verwaltungsbeschwerdeinstanz, 28.11.1945; LI LA RF 230/478p; Zeugeneinvernahme von Alois Vogt, 4.12.1945.
[23] LI LA RF 230/478p, Gestapo Innsbruck an Gestapo Feldkirch, 20.5.1944; LI LA RF 230/478p, Gestapo Innsbruck an Grenzkommando Bregenz, Grenzpolizei Feldkirch und Grenzpolizei Lustenau, 30.6.1944; LI LA RF 230/478p, Gestapo Feldkirch an Gestapo Innsbruck, 4.7.1944.
[24] LI LA RF 230/478a/Fasz. II, Einvernahme von Karl Kriener, 14.6.1945; LI LA RF 230/478a/Fasz. II, Einvernahme von Emmerich Dünser, 23.10.1945; LI LA RF 230/478p, Bericht des Sicherheitskorps betreffend Bock, 26.6.1945; LI LA V 005/1945/1010.