Zeitungsbericht, nicht gez.[1]
10.04.1926
Ein Land, das nach Proporz ruft!
(Von einem Liechtensteiner in der Schweiz)
Wie sehr der gesetzliche Proporz für das Fürstentum Liechtenstein zum politischen Gebot für die Beruhigung des Landes geworden ist, das haben die letzten Landtagswahlen am Ostermontag dieses Jahres bewiesen. Nach einem ungemein heftigen Wahlkampfe erzielte nämlich im ganzen Lande die regierende Volkspartei 1096 Stimmen und die Bürgerpartei 1033 Stimmen. Die beiden Parteien kommen sich also bis auf zirka 60 Stimmen an Stärke gleich. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass die Regierungspartei allem religiösen Empfinden zum Trotz den Ostermontag als Wahltag gewählt hatte, weil sie sicher war, dass an jenem Tage zahlreiche linksgerichtete Liechtensteiner in ihrer Heimat zu Besuch waren und nach den liechtensteinischen Gesetzen mitstimmen konnten. Berücksichtigt man diesen Umstand, so kommen sich die Stimmenzahlen der beiden Parteien erst recht nahe auf Haaresbreite.
Bei solchen Verhältnissen ist es ein Unding, wenn die eine Partei über die andere „herrschen“ will. Da kann einzig und allein der Proporz als Friedensstifter und Versöhner wirken. Jener st. gallische Politiker, der kürzlich in den „Neuen Zürcher Nachrichten“ schrieb, dass der Widerstand gegen die Einführung des Proporzes eine Versündigung an den liechtensteinischen Landesinteressen sei, hatte vollkommen recht. Die Volkspartei wird sich hoffentlich nicht länger einer solchen Versündigung zum schweren Nachteil des Landes schuldig machen wollen!
In beiden liechtensteinischen Wahlkreisen (Unterland und Oberland) wird jetzt ausschliesslich gewählt. Im Oberland erhielten 762 Bürger der Volkspartei 9 Mandate im Landtag und 630 Wähler der Bürgerpartei kein einziges! Und so etwas soll noch als politisch gerecht angesehen werden können! Im Unterland erhielten 403 Wähler der Bürgerpartei alle 6 Mandate des Kreises und 334 Wähler der Volkspartei gingen leer aus. Dieser Entrechtung der Minderheitswähler im Lande Liechtenstein muss so rasch als möglich ein Ende bereitet werden. Die jetzigen Zustände sind geradezu unwürdig und ein Hohn auf alle Demokratie.
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[1] Neue Zürcher Nachrichten 10.4.1926 (LI LA SgZs 1926).